Ukraines orangene Revolution

W. Buchenberg 11.12.2004 07:28 Themen: Weltweit
Nach zwei Wochen Dauerblockaden bei frostigen Wintertemperaturen lösten Tausende Demonstranten ihren Belagerungsring um die Regierungsgebäude in Kiew auf.Bis auf ein paar Zelte vor dem Präsidentenpalast, räumten die Demonstranten Straßen und Plätze im Regierungsviertel.

Für mich ist die hier abgebildete Kiewer Plakatwand ein Sinnbild der „orangenen Revolution“ in der Ukraine. Es ist eine wirre Textur von vielen AutorInnen auf vielen zeitlichen und politischen Ebenen.
Hier im Westen lesen jedoch politische Beobachter daraus nur jeweils einen einzelnen Text. Sie entdecken in der orangenen Revolution nur jeweils eine einzige politische Dimension.

Jede große soziale und politische Bewegung bündelt eine Vielzahl von Interessen und Zielen - wie diese Plakatwand in Kiew viele unterschiedliche Texte von unterschiedlichen Menschen vereint. Die verschiedenen Texte und Ziele liegen niemals auf einer einzigen Linie. Was bei der bekritzelten Plakatwand am Ende als Gesamttext herauskommt, ist nie genau das, was einzelnen Schreibern wollten.
Was bei politischen Bewegungen als Ergebnis herauskommt, ist nie genau das, was eine einzelne Strömung plante und wollte. Was als Ergebnis herauskommt, ist die Resultante aller beteiligten Kräfte.

Das Ergebnis der orangenen Revolution ist nicht einfach die Annullierung einer gefälschten Wahl. Das Ergebnis der ukrainischen Revolution sind politische Verhältnisse, in denen sich weit besser leben und (politisch) arbeiten lässt als bisher.

Ich denke, die orangene Revolution in der Ukraine umfasste mindestens drei politische Ebenen:
1. Ebene des Machtkampfes zweier Politiker.
2. Ebene des geopolitischen Machtkampfes zwischen West und Ost.
3. Ebene des innenpolitischen Machtkampfes zwischen dem autoritären Staatsapparat und einer zivilen Demokratiebewegung.

1. Ebene des Machtkampfs zweier Politiker.
Da stritten sich in der Ukraine zwei elitäre Figuren aus dem staatlichen Machtapparat um einen Präsidentenposten. Hier taten einige schreckliche Vereinfacher so, als ginge es dabei um eine Alternative wie Merkel-Schröder. Würden für CDU-Merkel oder SPD-Schröder Hunderttausende in größter Kälte die Schaltzentralen der Staatsmacht in Berlin blockieren?

Ein passenderer Vergleich innerhalb des politischen Spektrums in Deutschland ist folgender: Die Alternative zwischen dem amtierenden Präsidenten Kuchma und seinem handverlesenen Nachfolger Yanukowich auf der einen Seite und Yushenkow auf der anderen Seite entspricht ungefähr dem Wahlkampf zwischen F.J. Strauß und Helmut Schmidt.
Damals protestierte ich als junger Linker gegen Strauß auf der Straße und in den Kundgebungssälen, in denen Strauß auftrat. Den Schmidt wollte und wählte ich nicht, war aber trotzdem froh, dass ein Strauß nicht an die Regierung kam.
Ich habe daher Sympathie mit den Demonstranten gegen Kuchma/Yanukowich und bin sicher, es gab unter den Demonstranten in Kiew viele Leute wie ich, die auf der Straße gegen offene Reaktionäre kämpfen, ohne gleich das „kleinere Übel“ zu unterstützen und Yushenkow zu wählen.

2. Die geopolitische Ebene des Machtkampfes USA/EU - Russland
2.1. Westlicher Einfluss
Einige machen viel Aufhebens davon, dass die „orangene Revolution“ vom Westen, der USA und der EU „gesteuert“ sei, um den Einfluss Russlands zu schwächen. Haben diese Leute immer noch ihre politische Heimat in der ehemaligen Sowjetunion? Warum sollen wir Linke uns in diesem geopolitischen Konflikt auf eine Seite schlagen? Ich war schon immer ein Gegner der Nato. Welche Rolle spielt es denn für eine linke Gegnerschaft gegen die Nato, ob die Ukraine zur Nato zählt oder nicht? Die Nato wird ja nicht unbedingt stärker durch viele neue Mitglieder.

2.2.Westliche Gelder
Niemand bezweifelt, dass westliche Gelder in die „orangene Revolution“ geflossen sind. Wem diese Tatsache schon ausreicht, diese Revolution für „gekauft und schädlich“ zu erklären, dem müsste auch die historische Tatsache ausreichen, dass Lenin und die Bolschewiki im Revolutionsjahr von 1917 Gelder von der deutschen Regierung genommen haben, um die russische Revolution zu verurteilen. (Die deutschen Gelder wurden von dem Sozialisten Parvus über Stockholm zu den Bolschewiki geschleust.)

Es gibt kaum eine große revolutionäre Bewegungen oder Partei, die nicht zeitweilig oder dauernd von irgendwelchen staatlichen oder halbstaatlichen Stellen unterstützt worden sind. Auch alle NGOs, die Nichtregierungsorganisationen, kriegen von der einen oder anderen Seite staatliche Gelder. Wer völlig frei ist von „Staatsknete“, der werfe seinen Stein. Wer selber im staatlichen Glashaus sitzt (oder sitzen möchte), der soll anderen nicht vorwerfen, sie würden von irgendwoher finanziell unterstützt.

3. Ebene des innenpolitischen Machtkampfes zwischen dem autoritären Staatsapparat und einer zivilen Demokratiebewegung.
Es wird gesagt, die Revolution in Kiew sei eine bürgerliche Revolution. Ja und? So lange es autoritäre Staaten gibt, so lange werden bürgerlich-demokratische Revolutionen notwendig und nützlich sein. Demokratische Verhältnisse scheinen nur denen wenig, die sie haben.
Wer niemals schlimmere Verhältnisse erlebt hat als die brav-konservative Bundesrepublik, der kann die Nase rümpfen über Revolutionen wie in der Ukraine.

Wer mehr im Sinn hat als nur rechtstaatlich-demokratische Verhältnisse, dem kann es nicht gleichgültig sein, unter welchen Bedingungen er für wirkliche Emanzipation eintritt und kämpft. Wenn wir nicht einmal demokratische Verhältnisse erkämpfen und verteidigen können, wie sollen wir dann bei weitergehenden Ziele Erfolg haben?

Wal Buchenberg für Indymedia, 11.12.04



Ein paar Quellen zur orangenen Revolution
http://eng.maidanua.org/
http://pora.org.ua/en/
http://www.kyivpost.com/nation/politics/22027/
http://tubbydev.typepad.com/ukraine_revolution/
http://en.wikipedia.org/wiki/Orange_Revolution



Diskussionsforum:http://www.f27.parsimony.net/forum66069/
Creative Commons-Lizenzvertrag Dieser Inhalt ist unter einer
Creative Commons-Lizenz lizenziert.
Indymedia ist eine Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann. Eine Überprüfung der Inhalte und eine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge finden nicht statt. Bei Anregungen und Fragen zu diesem Artikel wenden sie sich bitte direkt an die Verfasserin oder den Verfasser.
(Moderationskriterien von Indymedia Deutschland)

Ergänzungen

zivile Demokratiebewegungen heute

Ergänzer 11.12.2004 - 18:56
Hier eine interessante Meldung von  http://www.german-foreign-policy.com zum "zivilen" Bündnis in der Ukraine. (Schon von Ende Novemer)

Antisemitische ,,Kultur"

KIEW/LONDON/BERLIN (Eigener Bericht) - Führende deutsche Außenpolitiker arbeiten weiter auf einen Umsturz in der Ukraine hin und verlangen die Inthronisierung ihres prowestlichen Favoriten Wiktor Juschtschenko. Seine Anhänger belagern in Kiew die Verfassungsorgane, einige bereiten mit Straßensperren einen Bürgerkrieg vor. Die angedrohten Gewalttätigkeiten finden in Berlin Beifall. Sprecher der deutschen Regierungsparteien schreiben die Staatsstreichvorbereitungen einer angeblichen ,,Demokratiebewegung" um Juschtschenko zu. Das Juschtschenko-Bündnis stützt sich u.a. auf antisemitische und extrem nationalistische Kreise der Ukraine. Dies berichtet die Londoner ,,British Helsinki Human Rights Group" (BHHRG). Mitglieder rechtsextremer Organisationen ,,befanden sich bereits nach dem ersten Wahlgang unter den Demonstranten für Juschtschenko", bestätigt John Laughland (BHHRG) dieser Redaktion. Die für den Berliner Favoriten kämpfenden Antisemiten und Ultranationalisten verstehen sich als Nachfolger ukrainischer NS-Kollaborateure, die unter der deutschen Besatzung Massenpogrome veranstalteten. Damals wie heute paart sich ihr Rassismus mit anti-russischem Nationalitätenhass. Moskau begegnet den aktuellen Umsturzversuchen mit hilflosen Verhandlungsmanövern, um seine westlichen Konkurrenten zu einer freiwilligen Abgrenzung der Einflusssphären zu bewegen.

Nach Auffassung des SPD-Außenpolitikers Gernot Erler zeugen die Staatsstreichvorbereitungen in Kiew von einer ,,Umwälzung", die er sich ,,persönlich wünschen würde".1) Vorbild sei der Staatsstreich in Georgien, sagte Erler einem deutschen Radiosender. In Georgien war es nach massiven westlichen Interventionen vor einem Jahr gelungen, die Regierung auf kaltem Wege zu stürzen.

Unverzüglich
Wie das Auswärtige Amt bestätigt, nimmt die Bundesregierung an den Bemühungen um Einsetzung ihres ukrainischen Favoriten Juschtschenko ,,aktiv" teil. Die Vorsitzende der Regierungspartei ,,Die Grünen", Claudia Roth, verlangt von der legitimen und souveränen Regierung der Ukraine, sie habe ,,unverzüglich" den westlichen Bedingungen nachzukommen.2) Ziel sei ,,das Durchsetzen einer neuen politischen Kultur der Ehrlichkeit, der Fairness und auch der demokratischen Gesinnung", die das Juschtschenko-Spektrum repräsentiere.

Jüdische Kontrolle
In dem von Berlin favorisierten Juschtschenko-Bündnis befinden sich auch ukrainische Antisemiten und Ultranationalisten. Dies bestätigt die ,,British Helsinki Human Rights Group" (BHHRG), eine regierungsunabhängige Organisation, die regelmäßig Wahlbeobachter nach Ost- und Südosteuropa entsendet. Die Sympathie der ukrainischen Antisemiten wurde von dem Berliner Wunschkandidaten erwidert, berichtet BHHRG. Demnach hat sich Juschtschenko persönlich für das einflussreiche Blatt ,,Silski Visti" eingesetzt, nachdem die Zeitung (Auflage: 500.000) einen Aufruf über ,,Juden in der Ukraine" veröffentlicht hatte. Nach Auffassung des Herausgebers von ,,Silski Visti" wird die Ukraine von ,,einer kleinen Gruppe jüdischer Oligarchen (regiert), die die Ukraine wirtschaftlich und politisch beherrschen". Auch die übrige Welt unterliegt ,,jüdischer Kontrolle", meint der Herausgeber von ,,Silski Visti".3)

Hände weg
Gegen die landesweit verbreiteten Tiraden klagte Alexander Shlayen, ein prominentes Mitglied der ukrainischen jüdischen Gemeinde. Die ukrainischen Juden waren unter deutscher Besatzung in Massenpogromen (Lviv/Lemberg) und während unvorstellbarer Exekutionsverbrechen (Babi Yar) mehr als dezimiert worden. Der Klage gegen die antisemitischen Aufrufe in ,,Silski Visti" wurde am 28. Januar 2004 stattgegeben. Wie BHHRG berichtet, startete Juschtschenko daraufhin eine PR-Kampagne für das Hetzblatt (,,Hände weg von Silski Visti"). Zu den Mitunterzeichnern gehören weitere Prominente des prowestlichen Politlagers, so Julia Timoschenko und Alexander Moroz.

Achse
Ausgerechnet im westukrainischen Lviv, dem Ort des mehrtausendfachen Mordes an ukrainischen Juden unter NS-Besatzung, setzte sich Juschtschenkos Wahlbündnis für eine ehemalige Führungsfigur der rechtsextrem-antisemitischen Partei UNA-UNSO ein.4) Die UNA-UNSO gilt als militant antirussisch und befürwortet eine ,,Achse Ukraine-Deutschland-Spanien". Sie steht in der Tradition ukrainischer NS-Kollaborateure und setzt diese Vergangenheit generationsübergreifend fort. Der Sohn des ukrainischen NS-Kommandeurs, der am 30. Juni 1941 mit den Deutschen auf Lviv vorrückte und die antisemitischen Morde zu verantworten hat, spielt in der heutigen UNA-UNSO eine zentrale Rolle.6)

Besondere Protektion
Die ukrainischen NS-Kollaborateure waren Mitglieder der ,,Organisation Ukrainischer Nationalisten" (OUN(B)). Der antisemitisch-nationalistische Block ,,erfreute sich der besonderen Protektion der deutschen Abwehr".5) Als Nachfolgeorganisation der OUN(B) gilt der ,,Kongress Ukrainischer Nationalisten" (KUN).6) Er ist Teil des Wahlbündnisses von Wiktor Juschtschenko, dem Bündnis der ,,Umwälzung" und ,,politischen Kultur der Ehrlichkeit", die der SPD-Aussenpolitiker Gernot Erler in Kiew heraufziehen sieht.

1) Interview mit NDR Info am 24. 11. 04: Reaktionen auf die Wahl in der Ukraine; www.gernot-erler.de 24.11.2004
2) ,,Gravierende Unregelmäßigkeiten"; Pressemitteilung von Claudia Roth 23.11.2004
3) Shadow of Anti-Semitism over Ukraine's Disputed Election; www.bhhrg.org 24.11.2004. Anti-Semitism in Ukrainian media up, and its acceptance is worrying Jews; www.ncsj.org 21.09.2004
4) Anti-Semitism in Ukraine; Euro-Asian Jewish Congress www.eajc.org
5) Blutige Ouvertüre. Lemberg, 30. Juni 1941: Mit dem Einmarsch der Wehrmachttruppen beginnt der Judenmord; Die Zeit 26/2001
6) Yushchenko finally gets tough on nationalists; Eurasia Daily Monitor 04.08.2004

s. auch Sozialdemokratische Drohungen und Russlands Peripherie

Antisemitismus in der Ukraine

Karotje Team 11.12.2004 - 20:42

In der Ukraine ist der traditionelle Antisemitismus leider immer noch sehr virulent; daß sich diese Strömung auch im Juschtschenko-Lager wiederfindet, ist nicht wirklich überraschend. Dennoch sollte man hier keinen voreiligen Vereinfachungen aufsitzen.

Oder glaubt wirklich irgend jemand, die Überwindung des Antisemitismus wäre für einen Präsidenten Juschtschenko, der sich einer stereotypen anti-westlichen Demagogie bedient, ein ehrliches Anliegen ??

Ich bin mir ziemlich sicher (ohne den empirischen Beweis erbringen zu können), daß auch die große Mehrheit der ukrainischen Juden die "orangene" Bewegung unterstützt und sich einen Machtwechsel wünscht.

Interview mit einem vor Ort

Wal Buchenberg 12.12.2004 - 11:13
Hallo,
interessantes Interview aus der "Jungle World":
 http://jungle-world.com/seiten/2004/50/4471.php

Gruß Wal

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

Zeige den folgenden Kommentar an