Italien: Arbeiter blockieren ganz Apulien

rf 10.12.2004 03:08 Themen: Globalisierung Soziale Kämpfe Weltweit
"Was wir tun ist traumatisch" sagte Berlusconi heute bei einer Buchvorstellung. Gemeint war die Wirtschaftstreform. Die apulischen Bewässerungs- und Waldarbeiter sind nicht bereit, dieses Trauma hinzunehmen. Eine für den 9. und 10. Dezember von den Gewerkschaften CGIL CISL und UIL organisierten Mobilisierung gegen die Streichung von 11000 Waldarbeiterjobs ging in Blockaden auf, die in Rom offenbar Politiker aller Couleur mächtig aufscheuchten.
Apulien wurde gestern von mehreren Tausend Arbeitern gänzlich vom Rest des Landes abgeschnitten. 52 Züge wurden gestrichen, umgeleitet oder auf Teilstrecken begrenzt, sämtliche privaten und öffentlichen Fähren von und nach Sizilien wurden blockiert, das Gleiche geschah mit den wichtigsten Verkehrsadern. Der Bahnhof und der Flughafen von Lamezia Terme wurden ebenfalls blockiert. Ein Fiat Croma hat eine Blockade durchbrochen und dabei zwei Blockierer und einen Polizisten verletzt. Alle drei wurden nur leicht verletzt, wobei einer der Blockiere immerhin so angefahren wurde, dass er auf die Motorhaube landete. Der Fahrer des Autos wurde nach zwanzig Km verhaftet. In Lamezia Terme setzten wiederum Fluggäste auf direkte Konfrontation, vierzig von ihnen überwanden so die Blockade, aber die wenigsten schafften es, den letzten Flug nach Rom zu kriegen.

Fast alle 11000 Waldarbeiter Apuliens waren am frühen Morgen zum Protest aufgebrochen. Der Grund liegt in der Streichung des Etats für die Aufforstung, Bewässerung und Landschaftspflege in Apulien, einer von vielen gravierenden Schnitten – denn es geht hier nicht um Kürzung, sondern um Totalbeschneidung – die landesweit für Millionen drastische existentielle Not versprechen. Zahlreiche lokale Politiker, Bürgermeister und Abgeordnete unterstützen den Protest. Für die 11.000 Arbeiter gibt es keinerlei Perspektiven, anderweitig beruflich unterzukommen, die große Mehrheit ernährt als Alleinverdiener mehrköpfige Familien, 4 oder 5 Kinder sind keine Seltenheit. Darüber hinaus ist mit gravierenden ökologischen folgen zu rechnen. Die extrem trockene Landschaft würde ohne den Einsatz der Waldarbeiter noch weit mehr Flächenbränden anheimfallen, als es bereits der Fall ist und auch die Gefahr, dass es bei Unwettern vermehrt zu gefährlichen Erdrutschen kommt würde drastisch ansteigen.

Die Arbeiter halten die Blockaden immer noch, trotz strömenden Regens. Uralte Gesten helfen, nicht locker zu lassen. Pane e vino, Brot und Wein – wie vor langer, langer Zeit – und die Soppressa, die landestypische Salami, die so mancher Feinkostdealer in Deutschland zu sündhaften Preisen verkauft, werden im Regen geteilt, während man wartet, auf die Antwort aus Rom, wo der Protest offenbar wie eine Bombe gewirkt hat. Wegen seiner Wucht und seiner Geschlossenheit. Die drei großen institutionellen Gewerkschaften haben dazu aufgerufen und scheinen nicht im geringsten vor zu haben, die Arbeiter beschwichtigend zu lenken. Es war der regionale Generalsekretär der konservativen CISL der heute den Reportern vor Ort mitteilte, dass er nicht ausschließt, dass alle 11.000 sich nach Rom aufmachen könnten, wenn Rom nicht wie gefordert reagiert. Eine solche Aktion könnte Risiken für die Arbeiter bergen, dort in Apulien haben sie gerade das sagen, sie bestimmen die Kampfform und die Bedingungen. In Rom könnten die Funktionäre versuchen, das Ruder an sich zu reißen und zur altbekannten Praxis der Kompromisse auf dem Verhandlungsweg an der Basis vorbei zurückkehren, aber augenblicklich ist selbst der Ton des Regionalsekretärs der CISL Luigi Sbarra ungewohnt scharf.

Es scheint wirklich stramme Einheit zu herrschen und wahre Entschlossenheit. So etwas jedenfalls hatte es noch nicht gegeben. Die Metaller, die haben schon manche spektakuläre Aktion hinter sich gebracht, aber dass CGIL CISL und UIL ohne die geringste Relativierung oder Beschwichtigung eine derart starke Aktion unverblümt mittragen, das hat schon Gewicht und ganz neuen Charakter. Die ersten Reaktionen in Rom bestätigen das. Der gesamte Regierungsapparat wurde förmlich aufgescheucht und genauso geht es der linksliberalen Opposition. Schon nach wenigen Stunden begannen Politiker aller Couleur laut zu schreien, es müsse etwas geschehen. Minister, die zuvor die Reform abgesegnet haben, wie Gasparri und Alemanno, überschlagen sich darin, Versprechungen abzugeben und den Arbeitern zuzugestehen, dass ihr Protest berechtigt ist, die institutionelle Linke überschlägt sich darin, Solidaritätsbekundungen und Schimpftiraden auf die Regierung zu dreschen – und zu verkünden, man habe die Arbeiter nicht im Stich gelassen, was die Arbeiter anders sehen. Sebastiano Nirta, einer der 11.000, sagte der Zeitung L´Unitá: "Alvaro (Der Schriftsteller Corrado Alvaro, A. d. Ü.) der aus unserem Dorf stammte, sagte, dass der Süden arm und wahnsinnig geblieben wäre. Und so ist es. Man wusste es seit August" schreit er, "wie die Sache aussah: weil sie keinen Finger krumm gemacht haben. Die Wahrheit ist, dass niemand in Catanzaro (Provinzhauptstadt in Apulien, d. Ü.) so wie in Rom uns verteidigt. Sie kommen alle wegen den Wählerstimmen und sonst nichts"

Die Arbeiter wollen, dass die Streichung von 160 Millione € zurück genommen wird. Geschieht das nicht, sitzen sie alle auf der Straße – wie gesagt, ohne auch nur die kleinste Hoffnung, anderweitig einen Job finden zu können. Völlig durchnässt nach vielen Stunden im Regen schreien sie sich ihre Wut aus dem Leib, wen er sie befragt, berichtet der Reporter der Unitá. Die Intensität des Zorns und der Verzweiflung ist überall angekommen. Studenten, die Heute ihr Examen hatten, Geschäftsleute, Touristen, Lkw-Fahrer, wer auch immer auf einer Fähre, in einem Zug oder auf einer Autobahn stecken blieb hat es mitbekommen. Laut Berichterstatter der Unitá ist es so, dass die Blockierten mit den Blockierern notgedrungen auf der nassen Autobahn gerade zusammenleben, "ohne Zwischenfälle, aber ohne sich zu lieben". Ohne einen Hehl aus der Verstimmung zu machen, bringen Blockierte immerhin Verständnis zum Ausdruck – und ärgern sich weiter. Die Stärke der Blockade ist aber die einzige Karte, die die Blockierer spielen können, um etwas zu erreichen. Die Regierung scheint über den Unmut bei den Betroffenen nicht Glücklich zu sein. Ganz schlechte Werbung. Und Stress mit der Wirtschaft ist auch Programmiert – mit einer Wirtschaft, die selbst auch schon gar nicht mehr gut auf Berlusconi und Co (aber mitunter recht offen für die Faschisten ) zu sprechen ist.
Auf den Autobahnen stehen Lkw Kolonnen, die mehrere Dutzend Kilometer lang sind, viele Trucker sitzen seit über fünfzehn Stunden fest, wie sehr das Ausbleiben von Lieferungen die Industrie treffen wird, bleibt abzuwarten, aber bei den verderblichen Waren wird die Lage schneller kritisch.

Der Süden Italiens wird offenbar immer kämpferischer. Die Verlierer rebellieren und lassen sich nicht klein kriegen. Ihre hartnäckigen, oft verzweifelten Kämpfe haben bisher nur vereinzelt Erfolg gehabt (etwa Scanzano, wo die Atommülldeponie verhindert wurde), denn so mancher hat trotz allem den Job verloren oder sonst eine schwere Zumutung hinnehmen müssen – was teilweise ganze Bezirke oder Bevölkerungsgruppen betroffen hat. Die Polizeiknüppel gegen die Arbeiter in Melfi und die gewaltsame Räumung von Blockaden gegen Müllverbrennungsdeponien haben den Menschen aber ebenso wenig den Mut genommen, wie die Entlassungen und Werkschließungen. Gruppen, die zuvor nicht viel miteinander zu tun hatten, haben sich dabei auf ganz neue Weise kennen gelernt – und von einander gelernt. Beispielsweise in Sachen Solidarität, Selbstorganisation und... Blockade.

Der Konflikt zwischen oben und unten verschärft sich und die Verlierer kommen sich offenbar langsam aber sicher auf ganz neue Weise nah. Manchmal gewinnen sie auch. Wie bei einem von Hunderten kleinen lokalen Kämpfen überall in ganz Italien. 67 Bauarbeiter, die in Neapel ein Jahr lang gegen ihre Entlassung gekämpft hatten, konnten am 6. Dezember endlich mit einer Beschäftigungsgarantie ihren Kampf beenden. Den führten sie mit Unterstützung der Studenten aus dem Viertel und mit der Entschlossenheit, die in Italien nicht neu ist, aber neu gelernt wird. Ewig blieben sie vor den Toren der Firma, nachts übernachteten sie bei Wind und Wetter in einem Zelt vor Ort und erlebten die Zeit auch als eine Zeit des Austauschs mit anderen Gruppen, die soziale Proteste führen. Vor kurzem enterten sie dann, vollends verzweifelt und im Zorn das Betriebsgelände, verjagten den Wachdienst. Zwei hatten Benzinkanister und drohten sich anzuzünden. Die Studenten unterstützten sie draußen vor den Toren und machten Öffentlichkeit, mit Flugblättern und per IMC. Ein Verhandlungsgespräch konnte endlich durchgesetzt werden. Als sie die Beschäftigungsgarantie erhielten, würdigten sie das Miteinander mit den Studenten und dankten sie u. a. ausdrücklich auch Indymedia dafür, dass ihre Sache auf der Website an die Öffentlichkeit getragen werden konnte. Bei zahlreichen Protesten gegen Müllverbrennungsdeponien an denen ganze Dörfer und Kleinstädte Teil nahmen ereigneten sich ähnliche Geschichten von ganz neuem miteinander, bis hin zur Verhaftung en bloc von Bürgermeister, Autonomen und ganz normalen Menschen, die einfach nur noch genug haben, von dem ganzen Terror gegen die, die nichts haben.

Ein kleines Erlebnis ganz am Rande des heutigen Teges, dass durchaus als leiser Ausdruck von kritischer Meinung in der bekanntlich massiv gleichgeschalteten Presse anmutet, war die Veröffentlichung von zwei Aufnahmen, die Berlusconi zeigen. Hintergrund: die Namen "Berlusconi" und "Mussolini", das eine Bild verbreitet von der Zeitung la Repubblica (web) und das andere von der Agentur ADN. Die Fotos kamen bei der Präsentation des Buches: "Da Mussolini a Berlusconi" (Von Mussolini bis Berlusconi) des von vielen als waschechten "Regimetalkmasters" bezeichneten Bruno Vespa zustande, ein Mann, der so gute Beziehungen zu den Schaltstellen des Staates hat, dass er beispielsweise als erster – und zwar als seine Eltern noch auf dem Weg zum Polizeipräsidium waren, wegen einer Angelegenheit, die ihnen von der Streife "nicht mitgeteilt werden durfte" – die Identität Carlo Giulianis samt Vorstrafenliste im TV preisgab. Kein Einzelfall. Das gleiche Spiel wiederholte sich, als der unter mysteriösen Umständen im Irak entführte Söldner Fabrizio Quattrocchi getötet wurde, mit Ausnahme der Auflistung von Vorstrafen. Berlusconi jedenfalls fühlte sich genötigt, auf der Buchpräsentation die Reformen immerhin als "traumatisch" zu bezeichnen. Repubblica zeigte ihn mit irgendwie angestrengtem Grinsen. ADN brachte ihn deutlich angespannt.

Fotos von den Blockaden:

 http://italy.indymedia.org/news/2004/12/691554.php

 http://italy.indymedia.org/news/2004/12/691517.php

 http://italy.indymedia.org/news/2004/12/691574.php

Fotos von den Bauarbeitern in Neapel auf dem Dach von der Firma:

 http://italy.indymedia.org/news/2004/12/688447_comment.php#688585

(Die Bilder mit dem Rettungsdienst zeigen einen Bauarbeiter der vor Erschöpfung und Wut zusammengebrochen war)

Berlusconi (Repubblica-Screenshot):

 http://italy.indymedia.org/uploads/2004/12/berlusca_mussolini.jpg

Berlusconi (ADN)

 http://www.adnkronos.com/Politica/2004/Settimana50da06-12a12-12/berlusconi2_091204.html
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Ergänzungen

Nicht Apulien

Alberto69 10.12.2004 - 10:25
Möchte nur anmerken das es nicht um Apulien geht sondern um Kalabrien

ende die blockieren

q 10.12.2004 - 19:31
Morgen die Gewerkschaften treffen mit der regierung .

 http://italy.indymedia.org/news/2004/12/692079.php

Bilder :


 http://italy.indymedia.org/news/2004/12/692083.php

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Ja, Kalabrien — rf