Antikolonialer Stadtspaziergang in Berlin

Lucy und Helga 11.11.2004 23:42 Themen: Antirassismus
Öffentliche Erklärung der antikolonialen StadtspaziergängerInnen, 11.11.04

Der antikoloniale Stadtspaziergang will gegen die kolonialen Spuren der Zelebrierung und Zementierung rassistischer Zustände eine eigene Spur des antirassistischen Widerstands legen - von einer EDEKA-Filiale über die Mohrenstraße und das Robert-Koch-Denkmal bis ins Afrikanische Viertel.
Koloniale Spuren in Berlin aufgedeckt!

In Berlin existieren vielschichtige Spuren der kolonialen Vergangenheit Deutschlands, die eine diskursive und materielle Konstruktion von Fremdheit begründen: Rassistische Praktiken und Bilder existieren bis heute. Gegen diese kolonialen Spuren der Zelebrierung und Zementierung rassistischer Zustände will der antikoloniale Stadtspaziergang eine eigene Spur des antirassistischen Widerstands legen.

Zunächst die Mohrenstraße. Das Wort „Mohr“ ist bis heute sprichwörtlich abwertend konnotiert. Rassistische Zuschreibungen, die Menschen anderer Hautfarbe als grundlegend anders und minderwertig beschreiben und betrachten, sind Grundlage für die Ausgrenzung schwarzer Menschen bis hin zu deren Mord. Der antikoloniale Stadtspaziergang will stellvertretend mit dem Namen der afrodeutschen Schriftstellerin, Feministin und Antirassistin May Ayim an die Menschen erinnern, die gegen deutsche Kolonialverbrechen und Rassismus damals wie heute Widerstand geleistet haben und leisten.
Darum haben wir heute die Mohrenstraße in May-Ayim-Straße umbenannt!

Ein zweites Gesicht des deutschen Kolonialismus begegnet uns in der Wilhelmstraße in Form zweier Gebäude: dem ehemaligen Reichskolonialamt und dem ehemaligen Sitz des Oberkommandos der Schutztruppen. Mit der Aufnahme eigenständiger Kolonialpolitik durch das Deutsche Reich entstand 1890 in der Wilhelmstraße 62 das Reichskolonialamt. Von hier aus organisierte Deutschland seine Unterdrückungs- und Ausbeutungspolitik, bis es im Versailler Vertrag 1919 zur Abgabe seiner Kolonien gezwungen wurde. Das Oberkommando der Schutztruppen lag schräg gegenüber in der Mauerstraße 45/46. Die Begriffswahl „Schutztruppe“ legitimierte die koloniale Okkupation. Schutztruppen sicherten die Interessen der Kolonisatoren militärisch. Am 12. Januar 1904 – also vor 100 Jahren – begann der Aufstand der Herero in Südwestafrika, dem sich später die Nama anschlossen. Der Aufstand wurde in einem der blutigsten Kolonialkriege der Geschichte niedergeschlagen. Von ca. 80.000 Herero überlebten nur 15.000. Bis heute hat die deutsche Regierung jedweden Forderungen nach Entschädigungszahlungen eine Absage erteilt und weigert sich auch zum 100. Jahrestag des Massakers nach wie vor, offiziell Verantwortung zu übernehmen, da eine „entschädigungsrelevante Formulierung“ (Joschka Fischer) juristisch als Grundlage für Entschädigungsforderungen verwendbar wären.
Um dem Vergessen der deutschen Kolonialverbrechen entgegenzuwirken, haben wir in der Nähe der Wilhelmstraße 62 eine Hinweistafel angebracht, die an die Geschichte dieses Gebäudes als Zentrum zur Umsetzung deutscher Kolonialansprüche erinnert!

Wissen Sie, wofür der Name EDEKA – also der Name der bekannten Ladenkette – steht? Er steht für „Einkaufsgemeinschaft Deutscher Kolonialwarenhändler“! Unter dieser Bezeichnung vereinigten sich viele der Ende des 19. Jahrhunderts gegründeten „Kolonialwarenläden“, die mit ihrem Handel vom Kolonialismus profitierten. Der Name verdeckt, unter welchen ausbeuterischen Verhältnissen die „Kolonialwaren“ entstanden. Sklaverei und Kolonialwaren hingen direkt zusammen, denn der Einkauf im Kolonialwarenladen in Deutschland unterstützte die tägliche koloniale Ausbeutung auf den Plantagen in Afrika. Der Profit der Deutschen aus dem Kolonialismus schuf Strukturen der Ausbeutung, die bis heute existieren: Die Arbeitsbedingungen bspw. auf den Plantagen oder in den Minen sind miserabel, von den Löhnen können die ArbeiterInnen kaum leben. Das Abhängigkeitsverhältnis, das in der Kolonialzeit geschaffen wurde, bestimmt bis heute die Wirtschafts- und Lebensverhältnisse in Afrika und Europa. Das Reichtumsgefälle zwischen Nord und Süd resultiert aus der kolonialen Ausbeutung.
Deshalb fordern wir eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte und den ProfiteurInnen der kolonialen Ausbeutung! Um diese Auseinandersetzung ein Stück weit anzuregen, haben wir in einer EDEKA-Filiale bestimmte Waren als „Kolonialwaren“ gekennzeichnet und vor dieser in einem Redebeitrag auf koloniale Kontinuitäten hingewiesen.

Eine in Deutschland einzigartige Inszenierung kolonialer Bestrebungen ist das Afrikanische Viertel in Berlin-Wedding. Seit 1899 wurden hier insgesamt 25 Straßen nach Bezeichnungen aus ehemaligen deutschen Kolonien benannt – die letzte noch 1958. Die verschiedenen Zeitpunkte der Namensgebung manifestieren alle Stadien des deutschen Kolonialismus und der mit ihm verbundenen Vergangenheitspolitik: Besitzansprüche, Schmerz über den Verlust kolonialer Größe, Nostalgie und Aufrechterhalten der kolonialen Ansprüche in der Zeit der Weimarer Republik und während des Nationalsozialismus – und schließlich ausbleibende kritische Auseinandersetzung. Bis heute gibt es in Berlin keine Straße, die den Namen von KämpferInnen gegen den deutschen Kolonialismus trägt.
Deshalb haben wir die Lüderitzstraße umbenannt in Maharero-Straße, und die Petersallee in Witbooi-Alle, nach zwei Anführern der Herero und Nama, die im heutigen Namibia Widerstand gegen die deutsche Kolonialmacht geleistet haben.

In Sichtweite des Klinikums Charité ist Robert Koch ein Denkmal gesetzt. Robert Koch wird heute als Begründer der Mikrobiologie gefeiert, seine Rolle in der Kolonialgeschichte Deutschlands wird tunlichst verschwiegen. Als führender „Tropenhygieniker“ untersuchte er Ursachen und Therapiemöglichkeiten von Infektionskrankheiten wie Cholera oder Malaria, um den deutschen Truppen ein Leben in den Tropen möglich zu machen. Medizinischer Fortschritt rechtfertigte den „zivilisatorischen Auftrag“ der Kolonialisierung. Wissenschaft, Bevölkerungspolitik und rassistische Theorien und Praxen weisen eine historische Kontinuität auf, von Thomas Malthus, dem Vorreiter der Idee der Bevölkerungspolitik, über den „Rassenhygieniker“ Alfred Ploetz bis zum geistigen Vater der Nürnberger Rassegesetze, Eugen Fischer.
Wir fordern: Schluss mit erb- und rassebiologischer Forschung! Schluss mit dieser Medizin im Dienste von Herrschaft!

An der Charité werden seit 1992 Altersschätzungen zur Schaffung einer Rechtsgrundlage für Abschiebungen durchgeführt und durch die „Arbeitsgemeinschaft für forensische Altersdiagnostik“ propagiert. Zur angeblichen „Objektivierung“ werden konstitutionelle Unterschiede zwischen verschiedenen „Ethnien“ konstruiert und erforscht. An Konstitutions- und Rassetheorien aus dem 19. und 20. Jahrhundert wird ungebrochen angeknüpft. Weiterhin stehen ÄrztInnen und medizinische Forschung im Dienste des deutschen Staates zur Stabilisierung der eigenen Integrität und der Sicherung des „Standortes Deutschland“.
Unsere Forderung nach Beendigung von Altersbestimmungen und Abschiebung haben wir – leider nur auf Herrn Kochs Wintergewand - dauerhaft vor Ort angebracht!

Wir fordern:

May-Ayim-Straße statt Mohrenstraße! Den Widerstand gegen Rassismus stärken!
Entschuldigung, Entschädigung und Schuldenerlass für die ehemaligen Kolonien!
Kritische Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte!
(Post)Koloniale Verhältnisse bekämpfen!

Der antikoloniale Stadtspaziergang unterstützt die Antikoloniale Konferenz, die vom 11.11. bis zum 14.11. im der alten Feuerwache in Berlin Kreuzberg stattfindet, mit ihren Forderungen!
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Ergänzungen

Bilder

aac 13.11.2004 - 11:32
Fotos zum Stadtspaziergang sind zu finden unter  http://www.de.indymedia.org/2004/11/98685.shtml

Hilfe!

Hilke Nordmann 23.11.2004 - 23:00
Nun surfe ich hier schon die ganze Zeit rum: Ich arbeite in einer Stundentengemeinde, die sich schon lange mit dem Thema Namibia und Kolonialismus auseinandersetzt und nun kommen wir zu einem Seminar nach Berlin und wären auch sehr an einem antikolonialen Spaziergang interessiert und bräuchten aber Unterstützung vor ort, nur leider kann ich keine Mailadresse finden. Wer kann helfen? Bitte senden an:  hilkenordmann@web.de

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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Sehr gut! — Paula

Sarotti-Mohr — Husselmann