Europa: Agenda 2010 reloaded

Gerold Schwarz 07.11.2004 15:27 Themen: Globalisierung Soziale Kämpfe
Diese Woche stellte die "hochrangige Arbeitsgruppe" der EU unter Vorsitz des ehemaligen holländischen Ministerpräsidenten Wim Kok seinen Halbzeitbericht der "Lissabon-Strategie" vor. Ziel der Lissabon-Strategie ist es, Europa bis 2010 zum "dynamischsten Wirtschaftsraum der Erde zu machen". Diese europäische Strategie ist der konkrete Ausgangspunkt für die kurz nach Schröders Wiederwahl eingeleiteten nationalen Sozialdeformen mit dem bezeichnenden Namen "Agenda 2010".
Erwartungsgemäß lauten die Hauptaussagen des Halbzeitberichts: 1.) das Ergebnis der diversen europäischen Sozialdeformen ist katastrophal, und 2.) deshalb müssen die "Reformen" verstärkt und fortgesetzt werden.

Die Ergebnisse der Agenda 2010-Reformen sind tatsächlich so niederschmetternd, dass die einzelnen empirischen Ergebnisse im Bericht noch nicht einmal auszugsweise wiedergegeben wurden. Diese finden sich nur in einigen vorhergehenden Statistiken, die dann, entsprechend "interpretiert", als Rechtfertigung für die Verstärkung des neoliberalen Reformkurs herangezogen wurden. Einige rechtfertigende Kerndaten sind allerdings dermaßen tendenziös gewonnen worden, dass selbst IWF und OECD auf die zweifelhafte Datenbasis hingewiesen haben. Dies betrifft insbesondere die angeblich geringere Produktivität und Produktivitätsentwicklung in der EU, die, zusammen mit der "demografischen Entwicklung" bei jeder sich bietenden Gelegenheit der Halbzeitbilanz als Rechtfertigung für "verstärkte Reformbemühungen" herangezogen werden. Würde man allerdings die neuen statistischen Tricks bezüglich der Arbeitslosenentwicklung ebenfalls mit berücksichtigen, dann würde das Desaster der gesamten Reformitis noch verheerender ausfallen.

Folgerichtig sucht man nach einer Reflexion über die Wirksamkeit der Reformen oder doch wenigstens nach einem Wirkungsmechanismus zwischen den angegebenen Zielen und den "Reformen" zu deren Erreichung vergeblich: von Selbstkritik oder doch wenigstens Zweifel an Problemdiagnose oder Therapie daher auch keine Spur. Als Gegengewicht findet sich dafür umso häufiger der selbstimmunisierende Verweis auf den Nutzen der neoliberalen Reformen, der sich ganz gewiss bestimmt irgendwann einmal zeigen wird, weil ja "der Verbraucher" von mehr billigeren Produkten profitiert, und dann wird ja alles gut.

In fast penetranter Häufigkeit findet sich im Halbzeitbericht die Aufforderung, die Kommunikation zur Überzeugung der Bürger hinsichtlich der Richtigkeit und Notwendigkeit des Sozialkahlschlages zu intensivieren. In Deutschland wird diese Debatte derzeit unter dem Stichwort "unsere Reformen sind richtig, wir haben nur ein Vermittlungsproblem geführt." Zitat aus der Halbzeitbilanz:

"Die europäische Öffentlichkeit muss viel besser verstehen, vor welchen
Herausforderungen Europa steht, warum sich die Politiken so entwickeln,
wie es derzeit der Fall ist, und wie wichtig es ist, gemeinsam zu handeln.
Voraussetzung für das Verstehen ist klare und entschiedene Kommunikation.
Welche Bedeutung dies für den Erfolg des Lissabon-Projekts hat, kann
gar nicht hoch genug angesetzt werden. Alle Beteiligten, einschließlich der
Politiker auf europäischer und nationaler Ebene, haben hier eine wichtige
Rolle als Kommunikatoren zu spielen. [...] Die Spitzenvertreter Europas müssen die Hoffnung verbreiten, dass das Morgen besser sein wird als das Heute. [...] Viele dieser Veränderungen sind entgegen der üblichen Darstellung positiv. Beispielsweise stärkt mehr Wettbewerb die Position der Verbraucher, bessere Betreuungsmöglichkeiten für Kinder und alte Menschen
verbessern das Leben der Pflegepersonen (normalerweise Frauen) und der
Zugang zum lebenslangen Lernen eröffnet den Arbeitnehmern den Weg zu
Mobilität, eigenständiger Weiterbildung und größeren Chancen. [...] Die Notwendigkeit von Reformen muss insbesondere den Bürgern erläutert werden, da sie sich nicht immer der Tragweite und Dringlichkeit der Situation bewusst sind."

Wir dürfen uns daher in den nächsten Jahren auf ein beeindruckendes Propagandafeuerwerk freuen. Einige Bilder zu diesem Artikel zeigen mögliche Gegenmaßnahmen aus dem Bereich "Ad Busting".

Mit der Richtlinie zur Privatisierung und Deregulierung von (insb. öffentlichen) Dienstleistungen ("Bolkestein-Richtlinie") wird im Halbzeitbericht ein neues Reformfeld von zunehmender Bedeutung in den Blickpunkt gerückt. Damit sollen in Zeiten zunehmender Überakkumulation über die Aneignung bisher kostenfreier oder wenigstens subventionierter öffentlicher Dienstleistungen (etwa Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Sicherheit, Müllabfuhr, vielleicht auch noch Feuerwehr, usw.) neue Profitmöglichkeiten für anlagesuchendes Kapital eingerichtet und damit die letzten Schranken zur Vermarktlichung aller Lebensbereiche eingerissen werden.

Auf dem Bereich des "Arbeitsmarktes" liegt der Schwerpunkt bei der Erweiterung der Personenzahl für die ausschließlich profitorientierte Erwerbsarbeit. Hierzu sollen geeignete "Anreizsysteme" geschaffen werden. Im üblichen Verschleierungsjargon heißt das:

"Der Ruf nach weiteren Reformen wird nur zu oft einfach als Deckwort für mehr Flexibilität verstanden, und dies wiederum als Deckwort für die Schwächung der Arbeitnehmerrechte und des Arbeitnehmerschutzes. Das ist falsch."

Aha, also keinen Sozialabbau mehr? Gemach:

"Eine moderne und effiziente Sozialpolitik leistet einen wesentlichen Beitrag zu einem nachhaltigen Wachstum in Europa, das wiederum entscheidende Voraussetzung für die Finanzierbarkeit des europäischen Sozialmodells ist. Eine Politik der sozialen Integration ist nicht nur für die Armutsbekämpfung wichtig, sondern trägt auch dazu bei, das Arbeitskräfteangebot zu erhöhen. Reformen, die für sichere und nachhaltige Rentensysteme sorgen, sollten auch darauf abzielen, die richtigen Anreize zu bieten, damit Arbeitskräfte länger im Berufsleben bleiben und Arbeitgeber ältere Arbeitnehmer einstellen und weiterbeschäftigen."

Man lerne: ein erhöhtes ArbeitskräfteANGEBOT führt nach dieser Logik nicht etwa zu geringeren Löhnen sondern zu nachhaltigem Wachstum. Was das Schlagwort "nachhaltige Rentensysteme" bedeutet, dass dürfen die Deutschen Rentner 2005 zum zweiten Mal in Folge erleben, nämlich eine reale Kürzung ihrer Renten. Damit kommen sie allerdings noch vergleichsweise glimpflich davon, denn "Anreize, damit Arbeitskräfte länger im Berufsleben bleiben"" bedeutet nichts anderes als die Kürzung von Vorruhestandsbezügen bzw. Frührenten bis auf oder unter das Existenzminimum.

Die Empfehlungen für solche Anreizsysteme aus dem Sommer 2004 sind dann auch erheblich konkreter. Besonders konkret wird es für unsere belgischen, niederländischen und britischen Freunde:

Für Belgien: "In den Steuer- und Sozialleistungssystemen noch bestehende Arbeitslosigkeitsfallen aufspüren und beseitigen und durch Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen für die Leistungsgewährung stärkere Anreize für die aktive Arbeitsuche zu schaffen."

Für die Niederlande: 1.) "Ein systematisches Erwerbsfähigkeits-Screening der Personen, die Erwerbsunfähigkeitsleistungen beziehen, durchführen, und den Erwerbsfähigen dabei helfen, sich für eine geeignete Arbeit vorzubereiten und eine entsprechende Stelle zu finden; dabei besonders den in den Reihen der Bezieher von Erwerbsunfähigkeitsleistungen überrepräsentierten Personengruppen Aufmerksamkeit schenken, z. B. den unter 40-jährigen Frauen". 2.) "Die Abschaffung von Frühverrentungsregelungen koppeln mit Maßnahmen, die darauf abzielen, Arbeitskräfte länger in Arbeit zu halten und insbesondere ältere Arbeitskräfte mit Qualifikationsdefizit zur Weiterbildung zu veranlassen."

Für Großbritannien: 1.) "Gewährleisten, dass die Lohnentwicklung nicht die Produktivitätsentwicklung überholt." 2.) "der Entwicklung entgegenwirken, dass eine zunehmende Zahl von Personen Leistungen wegen Krankheit und Erwerbsunfähigkeit beziehen."

In Großbritannien sollen nun noch nicht einmal die physischen Lasten der gnadenlosesten neoliberalen Reformen in Europa getragen werden. Nachdem man die Rechte der britischen Arbeitnehmer jetzt schon 20 Jahre lang bis jenseits der gesundheitlichen Belastungsfähigkeit beschnitten hat und das Gesundheitssystem auf den unmittelbaren Nachkriegsstand zurück verrotten ließ, muss den Betroffenen natürlich konsequenterweise noch die materielle Kompensation gestrichen werden. Polemisch könnte man noch einwenden, dass die Kranken ja noch Glück haben, dass sie durch die empfohlenen Lohnkürzungen wenigstens nicht in den Genuss der liberalisierten und privatisierten britische Eisenbahn kommen werden; dann bleiben sie wenigstens noch am Leben.

Für Deutschland lauten die Empfehlungen übrigens: 1.) "Mit dem Ziel der Absenkung der Arbeitskosten die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme überprüfen und gleichzeitig die Haushaltskonsolidierung weiterverfolgen." 2.) "Die Sozialpartner dazu anhalten, die Lohnfindungsmechanismen noch ausgeprägter so zu gestalten, dass sie lokale, regionale und sektorale Unterschiede in Produktivität und Arbeitsmarktbedingungen widerspiegeln;" 3.) "Die Reform des Steuer- und Sozialleistungsystems fortsetzen und dabei ausreichende Arbeitsanreize einbauen; die Durchführung der Hartz-Reformen genau überwachen und bewerten."

Nun ja, eine Bewertung der Hartz-Reformen ist nicht besonders schwer, da die Pakete Hartz I bis III ja schon umgesetzt wurden. Das bei richtiger Problemdiagnose zu erwartende bisherige Ergebnis kann nur noch als niederschmetternd bezeichnet werden. Zusammenfassend lässt sich also bezüglich Deutschlands sagen, dass Sozialkahlschlag und Lohnkürzung noch weiter beschleunigt werden soll.

Der Halbzeitbericht enthält auch eine Strategie für den Umgang mit Gewerkschaften und anderen kritischen Verbänden. Sie sollen in den Sozialabbau integriert werden ("Mitspracherechte und Beteiligung") und ansonsten schweigen:

"Keine Beteiligung ohne Verantwortung: Die Förderung von Wachstum und Beschäftigung in Europa ist das nächste große europäische Projekt. Für seine Ausführung werden echte politische Führerschaft und Engagement auf höchster Ebene erforderlich sein, ebenso das Engagement der Sozialpartner, deren Rolle die Hochrangige Sachverständigengruppe hervorheben möchte. Allerdings ist das Vorrecht der Mitsprache und Beteiligung gekoppelt mit Verantwortung, die anzunehmen wir alle dringend auffordern. "

Zumindest für Deutschland ist diese Aufforderung nichts unerwartetes, denkt man an den "Sommer des Schweigens" von 2003 sowie die beschämende Zurückhaltung des DGB während der Montagsdemonstrationen.

Begründet wird der europaweite Sozialabbau in nahtloser Übereinstimmung mit der Rechtfertigung für die Reformen in Deutschland mit den beiden üblichen Scheinargumenten "Globalisierung" und "demografischer Wandel". Eine nähere Beschäftigung mit der Absurdität dieser vermeintlichen Sachzwänge würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Der geneigte Leser wird deshalb auf die detaillierten Ausführungen in Albrecht Müllers "Die Reformlüge" verwiesen.

In Politik umgewandelt werden soll die Halbzeitbilanz auf dem EU-Gipfel am 19. März 2005 in Brüssel. Zahlreiche globalisierungskritische Gruppen Europas sowie viele Gewerkschaften (allerdings hauptsächlich außerhalb Deutschlands) rufen dazu auf, diesen Gipfel zu nutzen, um den Politikern unmissverständlich zu verdeutlichen, dass sich die Menschen Europa anders vorstellen. Dies kann allerdings nur gelingen, wenn die Mobilisierung dafür erfolgreich ist. Dazu ist zu sagen, dass gegenwärtig nur wenige Ereignisse existieren, die sich so exzellent als Symbol für die Konkretisierung neoliberaler Politik eignet wie dieser Gipfel. Deshalb ist die Hoffnung nicht unberechtigt, dass sich der Gipfel zu einem neuen Kristallisationspunkt der europäischen Alternative und deren Kooperation entwickelt.
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