Arbeit oder Leben

Der Herbst wird Heiss... 10.10.2004 19:03 Themen: Globalisierung Soziale Kämpfe
So lautet der Titel der Heißen Herbst Kampagne gegen Armut und Arbeitszwang die im Zeitraum vom 16.-30.Oktober läuft. Initiiert wird sie von verschiedenen Gruppen aus Göttingen. Die Kampagnenzeitung liegt an den üblichen Orten aus (T-Keller, Buchladen, Imbisse usw.). Auf der Homepage www.soziales-zentrum-goettingen.de gibt es die Zeitung zum runterladen (pdf 382kb).
Wir erleben derzeit den aggressivsten
Angriff auf Löhne, soziale Sicherungssysteme,
die Lebensbedingungen von MigrantInnen
und erkämpfte Rechte der Lohnabhängigen
in der Geschichte der BRD. Unter Namen
wie „Gesundheitsreform“, „Agenda 2010“,
„Hartz-Gesetze“ und so weiter,... läuft ein
Programm von Verarmung, Repression und
Kontrolle, das alle trifft, die nicht im oberen
Drittel der Gesellschaft leben.
Doch nicht allein die Proteste der letzten
Zeit zeigen, dass diese zynische Politik
nicht mehr unwidersprochen hingenommen
wird. Auch uns reicht es schon lange! In zwei
heißen Herbstwochen wollen wir in einem
Zusammenschluss von Göttinger Gruppen
und Initiativen mit Aktionen, Kundgebungen
und Veranstaltungen den Widerstand
gegen Agenda 2010, Lohnkürzungen und alle
anderen Zumutungen bündeln. Darüber hinaus
wollen wir zudem die Frage stellen, wie
eine andere Gesellschaft aussehen kann, in
der nicht die Menschen den Bedürfnissen der
Wirtschaft unterworfen sind, sondern die
Wirtschaft den Bedürfnissen der Menschen
dient.

Wessen Reichtum?
Wir leben in einer der reichsten Regionen
der Welt. Ein Blick in die Konsummeilen
der europäischen Großstädte oder
auch ein Spaziergang durchs Göttinger Ostviertel
beweisen dies. In den Regalen der
Supermärkte findet sich alles, was man zum
Leben so braucht (und einiges mehr), und
Unternehmen wie Daimler-Chrysler verzeichnen
Milliardengewinne. Auch dem
Staat kann es nicht ganz so schlecht gehen:
Er hat jedenfalls genug Geld, um den Polizeiapparat
auszubauen, die EU-Grenzen –
Tote billigend in Kauf nehmend – gegen
Unerwünschte abzuschotten und die Angestellten
der Arbeitsämter mit Selbstverteidigungskursen
auf die Berufsrisiken von
Hartz IV vorzubereiten.
Dennoch vergeht kein Tag, an dem
nicht von „Sparzwang“ die Rede ist, und
davon, dass „alle den Gürtel enger schnallen
müssen“. „Alle“ – das sind Kranke, die
mit Praxisgebühr und Zuzahlungen bestraft
werden, RentnerInnen, die schon im Arbeitsleben
zu wenig Geld hatten, um etwas
zurückzulegen, Erwerbslose und -unfähige,
die noch ärmer gemacht werden, (noch) Beschäftigte,
die für immer weniger Geld immer
mehr arbeiten sollen und Migrant-
Innen, an denen experimentiert wird, wie
tief das Existenzminimum angesetzt werden
kann. Also alle, die weder als Humankapital
noch als Herr und Frau Binnennachfrage
etwas taugen.

Wessen Arbeit?
Wann immer Staat oder Wirtschaft neue
dreiste Verarmungsvorschläge verkünden,
fehlt dabei nie der Hinweis, dass dies einzig
dem Zweck dienen solle, Arbeit zu schaffen.
Allerdings hat sich gezeigt, dass die bereits
umgesetzten Programme zur Senkung
der so genannten „Lohnnebenkosten“ in
den letzten Jahren zwar dazu geführt haben,
dass Gesundheit und Alterssicherung zu teuren
Luxusgütern geworden sind – mehr Arbeitsplätze
sind dabei jedoch nicht entstanden.
Vor allem aber sorgt die steigende Erwerbslosigkeit
dafür, dass eine grundsätzliche
Frage gar nicht mehr gestellt wird: Ist es
überhaupt wünschenswert, Arbeit zu schaffen?!?
In unserer Gesellschaft ist Arbeit in erster
Linie eine Ware: Die meisten Menschen
müssen sich buchstäblich selbst zu Markte
tragen, um davon leben zu können, egal,
wieviel Freude oder Frust ihnen eine Tätigkeit
bereitet; egal, ob am Ende Panzer oder
lebenswichtige Medikamente herauskommen.
Als wäre es nicht schlimm genug, auf
diese Weise zum Wirtschaftsfaktor erniedrigt
zu werden – noch schlimmer ist es, als
solcher überflüssig zu sein.
Zur Zeit wird dabei vor allem von denen
gesprochen, die zwar – aus Freude an
ihrem Beruf oder purer Notwendigkeit –
arbeiten wollen, aber keine Abnehmer für
ihre Leistung finden. Der Begriff „arbeitslos“
verschleiert jedoch die Verhältnisse: Das
Problem ist ja gerade, dass die Leute ihre
Arbeit nicht loswerden. (Obwohl Jobsuche,
Existenzangst und Ämter-Spießrutenlaufen
verdammt anstrengend sind!)
Mit Hartz IV hat der Staat nun eine
„sinnvolle“ Funktion für diese Gruppe der
Erwerbslosen gefunden: Sie sollen als offizielle
Lohndrückerbrigade herhalten. Zum
einen sorgt die ständige Androhung puren
Elends dafür, dass die – noch – Erwerbstätigen
jede Kröte schlucken, ohne aufzumukken.
Gleichzeitig wird ein Niedriglohnsektor
geschaffen, der zynischerweise selbst aus
staatlicher Sicht nur deshalb als „zumutbar“
gilt, weil der Erhalt des Arbeitslosengelds
an den Zwang zur Annahme der Ein-Euro-
Jobs gekopppelt ist. Der weitere Preisverfall
auch für reguläre Arbeitsverhältnisse ist damit
vorprogrammiert.
Um dieser Abwärtsspirale und der Erpressung
durch Armut zu entfliehen, gibt es
eine Lösung: Die Abhängigkeit von der
Lohnarbeit muss endlich beendet werden,
Arbeitslosigkeit darf nicht länger mit Existenznot
gleichgesetzt werden. Berechnungen
besagen, dass beim heutigen Stand der Technik
jeder dazu fähige Mensch höchstens drei
bis vier Stunden täglich arbeiten müsste, um
die gesamte Weltbevölkerung nicht nur mit
allem Lebensnotwendigem, sondern darüber
hinaus mit einem guten Maß an Luxus zu
versorgen. Es ist genug Reichtum für alle da,
und eigentlich bliebe auch immer mehr Zeit,
ihn auch zu genießen. Damit eröffnet sich
die Möglichkeit, die Frage neu zu stellen:
Wollen wir eine Entwicklung hinnehmen,
die immer mehr Menschen als „überflüssig“
ausgrenzt, teilweise sogar schlicht dem Verhungern
überlässt, während die anderen
immer stärker in die Tretmühle des Arbeitszwangs
eingeschlossen werden – oder wollen
wir für eine Gesellschaft kämpfen, die
ein gutes Leben für alle ermöglicht? Auch
über Ideen, wie eine solche Gesellschaft
aussehen kann, wollen wir in den Aktionswochen
diskutieren.

Wessen Standort?
Wer mit solchen Ideen ankommt, die
automatisch auch das Ende des Selbstzwecks
„Mehrwertproduktion“ bedeuten, wird
schnell ein Totschlagargument dagegen hören:
Was soll denn dann aus dem Standort
Deutschland werden?
Unsere Antwort: Das kann den Lohnabhängigen
scheißegal sein! Ein blühender
Wirtschaftsstandort bedeutet nämlich keinesfalls,
dass es dessen BewohnerInnen
ebenso blühend geht – Familien, die bis hin
zu ihren Kindern zwölf Stunden täglich in
den boomenden Fabriken Chinas schuften,
könnten dies bestätigen. Und auch die
knapp 360.000 Quadratkilometer, die derzeit
den Namen Deutschland tragen, sind
eigentlich kein Grund, den Wert des eigenen
Lebens immer weiter vermindern zu lassen.
Schlimmer noch: Wer sich auf die Konkurrenz
zwischen den Standorten einlässt,
gräbt mit an der Grube, in die er selbst hineinfällt.
In diesem angeblichen Kampf aller gegen
alle funktionieren die Argumente, die
den „Standort Deutschland“ konkurrenzfähig
halten wollen, jedoch nur so weit, wie
diejenigen, die dafür Opfer bringen sollen,
sich darauf einlassen. Leider ist dies nur zu
oft der Fall. Die Drohung, billige Arbeit
woanders, zum Beispiel in den neuen EUStaaten,
einzukaufen, führt nicht etwa zur
Solidarisierung mit den dort Beschäftigten
und gemeinsamen Arbeitskämpfen, sondern
zu nationalistischen Reflexen und Opferbereitschaft
– „wenn es denn für Deutschland
ist...“
Es wird Zeit, diese Konkurrenz der Standorte
aufzugeben und in der globalisierten
Wirtschaft nur noch eine Standortbestimmung
anzuerkennen, unabhängig vom jeweiligen
Lohnniveau, und unabhängig von
der jeweiligen Staatsangehörigkeit: Entweder
auf der Seite des Konkurrenzdenkens,
das dem Denken der Wirtschaft entspricht,
oder aber im gemeinsamen, solidarischen
Kampf gegen Sozialkahlschlag, Arbeitszwang
und Verzicht – weltweit.

Wessen Leben?!?
Während sich beispielsweise in Italien
und Frankreich schon seit längerem Widerstand
gegen ähnlich gelagerte Kahlschlagprogramme
regt, zeigt sich dieser mittlerweile
auch in Deutschland. Dass so etwas hierzulande
unüblich ist, zeigen die Reaktionen:
Schon die Proteste der letzten Wochen haben
die Regierung aufgeschreckt, als stünde
der Sturm aufs Kanzleramt vor der Tür.
Denn zum ersten Mal seit der Kampfansage
„Agenda 2010“ regt sich Widerspruch: Mit
Hartz IV wird endlich klar, dass es nicht
immer nur „die Anderen “ trifft (= „Sozialschmarotzer“,
„Asylbetrüger“, „Florida-Rolf“
und wen die Medien noch so alles zum
Feindbild erklärt haben), sondern alle jetzigen
und künftigen Erwerbslosen als auch die
Beschäftigten. Um eine Ausweitung des Protests
und eine mögliche Solidarisierung zu
verhindern, werden die DemonstrantInnen
denn auch zu „Hartz IV-Gegnern“ kleingeredet
– obwohl es schon längst um mehr
geht.
Wir wollen uns in den zwei Wochen
„Heißer Herbst“ allerdings nicht unkritisch
als Teil eines großen gemeinsamen Widerstands
sehen – mit Vielem haben wir nämlich
ganz und gar nichts gemeinsam: Denn
so lange Arbeit eingefordert wird, als handele
es sich um einen Selbstzweck, und immer
wieder „das Volk“ beschworen wird,
haben die Proteste zwangsläufig eine offene
Flanke nach rechts.
Wir dagegen fordern: Schluss mit dem
Zwang , uns auf dem Arbeitsmarkt verkaufen
zu müssen – Schluss mit nationaler Borniertheit
und globaler Konkurrenz – Schluss
mit Rassismus und Faschismus – Eine solidarische
Gesellschaft, in der Produktion und
Verteilung den Bedürfnissen der Menschheit
dienen, nicht dem Diktat des Mehrwerts –
Her mit dem schönen Leben für alle Menschen
weltweit!
Alles für Alle!

Unterstützende Gruppen:
A.L.I. – Antifaschistische Linke International, Antifa AundK, antiraplenum, Erwerbslosenfrühstück (Juzi), BG Medizin, Geschichtswerkstatt, OLAFA (Offene Linke – Alles für Alle), Radical M, Schöner Leben, Soziales Zentrum, Widerstandswerkstatt

Termine
Jeden Montag, 17 Uhr
Offenes Mikrofon und Demo gegen Sozialabbau, Hartz IV und die Agenda 2010
(wie in mindestens 220 weiteren Städten im gesamten Bundesgebiet auch)!
Vor dem Alten Rathaus

Jeden Montag, 19.45 Uhr
Plenum Soziales Zentrum
Geiststraße 2

Jeden ersten Dienstag im Monat, 10.30 Uhr
Erwerbslosen-Frühstück
JuzI (Jugendzentrum Innenstadt, Bürgerstraße 41)

Samstag, 16. Oktober 2004, ab 11 Uhr
Innenstadt-Aktionstag
Vor dem Alten Rathaus

Samstag, 16. Oktober 2004, ab 11.00 Uhr
Für sportlich Interessierte bietet die Antifaschistische Linke International [A.L.I.] im Rahmen des Innenstadt-Aktionstags ein am neuesten Stand der Dialektik orientiertes Trainingsprogramm.
Am Markt

Dienstag, 19.Oktober 2004, ab 9 Uhr
Widerstand am Arbeitsamt - eine Rallye für Alle!
Eine Veranstaltung von schöner leben goettingen
Vor dem Arbeitsamt

Mittwoch, 20. Oktober, 19.30 Uhr
»Nazis und Soziale Frage«
Veranstaltung mit Jörg Kronauer (Jungle World, Konkret)
Eine Veranstaltung von antifa aktion & kritik
Apex, Burgstraße 46

Freitag oder Samstag, 22. oder 23. Oktober, 22 Uhr
Göttinger Zeitungsball
JuZI (Jugendzentrum Innenstadt, Bürgerstraße 41)

Samstag/Sonntag, 23.-24. Oktober 2004
Widerstandswerkstatt in Göttingen
Samstag, 23.10.04, 15 Uhr bis zum Chill-Out
Sonntag, 24.10.04, ab 9 Uhr (mit gem. Frühstück)
JuzI (Jugendzentrum Innenstadt, Bürgerstraße 41)

Dienstag, 26. Oktober 2004, 20 Uhr
Widerstand: Arbeit, die begeistert!
Diskussionsveranstaltung mit VertreterInnen der Gruppen Call Center Offensive, elexira und der Flüchtlingsinitiative Brandenburg (angefragt)
Eine Veranstaltung der Olafa (Offene Linke-Alles für Alle!)
Gemeindesaal St. Michael, Kurze Straße 13 (Innenhof)

Mittwoch, 27. Oktober 2004, 20 Uhr
Mobilisierungsveranstaltung zur Demonstration in Nürnberg
Eine Veranstaltung von Redical [M] – Antifaschistische Gruppe Göttingen und A.L.I. – Antifaschistische Linke International
Theaterkeller, Geismar Landstraße 19

Donnerstag, 28. Oktober 2004, 14 Uhr
Antiquitätendemo
Wir wollen ja alle unsere ALG II Anträge ordentlich ausfüllen. Deshalb werden wir all unsere Sachen beim Arbeitsamt schätzen lassen.
Bringt all euren Kram mit.
Gänseliesel

Samstag, 30. Oktober, 11 Uhr
Arbeit oder Leben Demo
Veranstaltet vom Bündnis Heißer Herbst
Gänseliesel

Samstag, 6. November 2004, 12 Uhr
Großdemonstration zur Bundesagentur für Arbeit
Lorenzkirche, Nürnberg

Mittwoch, 10. November, 18 Uhr
Infoveranstaltung zu Leiharbeit
Eine Veranstaltung der Prekär AG des Sozialforum Göttingen
DGB-Haus, Obere Maschstraße 10

Mittwoch, 17. November 2004, 10 Uhr
Vollversammlung der Erwerbslosen
Arbeitsamt, Bahnhofsallee 5

Mittwoch, 17. November, 18 Uhr
1-Euro-Jobs - Was steckt dahinter?
Eine Veranstaltung der Prekär AG des Sozialforum Göttingen
DGB-Haus, Obere Maschstraße 10

Montag, 3. Januar 2005
AGENTURSCHLUSS!
Bundesweite Besetzung der Arbeitsämter
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Ergänzungen

Göttingen ist immer eine Reise wert.

her mit dem schönen leben 10.10.2004 - 19:23
Demo am 30.10. 11Uhr Marktplatz
Kassel und Hannover liegen ja noch im Einzugsbereich ;)

zum begriff der arbeit

egal 11.10.2004 - 00:42
zu dieser insgesamt zutreffenden analyse muß etwas ergänzt werden:
die schwierigkeiten, mit der vokabel "arbeit" umzugehen, was sich auch hier in formulierungen zeigt wie (sinngemäß:) "... ob es wünschenswert ist, seine arbeit loszuwerden" resultieren daraus, daß mit "arbeit" meist ein begriff der aktuellen diskurse mitsamt seiner ganzen ambivalenz übernommen wird (symptomatisch zeigt es sich in den begriffen "arbeitnehmerIn " und "arbeitgeberIn"). es ist aber gerade für die kritik an kapitalistischer "arbeit" notwendig, diesen begriff genauer zu verwenden! auch wenn es wohl bei den meisten 'irgendwie' ein bewußtsein dafür gibt, daß das nicht das gleiche ist.
im allgemeinen ist arbeit sinnvolle, produktive menschliche tätigkeit, die einen gebrauchswert schafft. in der derzeit üblichen verwendung ist damit aber entweder "arbeitskraft" gemeint (wird von sog. arbeitnehmerInnen 'gegeben' bzw. verkauft) oder aber "entlohnte nachfrage von arbeitskraft" (wird von sog. arbeitgeberInnen 'angeboten'). wenn mensch das bedenkt, lösen sich manche scheinbare widersprüche ganz von selbst auf.
marx lesen!

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