HARTZ IV: Erlebnisbericht vom 02.10 in Berlin

Jens Steiner 04.10.2004 10:43 Themen: Repression Soziale Kämpfe
Reportage von der Demonstration gegen Hartz IV und Sozialabbau am 2.10 in Berlin Mitte
Der zweite Oktober 2004. Ein sonniger, frühherbstlicher Tag. Ein Samstag. Im rbb-Inforadio Verkehrsfunk hieß es: "Behinderungen zwischen Alexanderplatz, Karl-Liebknechtstr., Torstr., Friedrichstr. und Unter den Linden wegen Protesten gegen Hartz IV. Die Reisebusse angereister Demonstranten parken auf der Karl-Marx-Allee zwischen Strausberger Platz und Alexanderplatz."
Kurz vor 13 Uhr stand ich vorm Kino International, blickte nach links zum grossen Springbrunnen, blickte zum Fernsehturm und war überwältigt. Grosse und kleine Reisebusse standen auf Mittel- und Seitenstreifen. Nach hundert Bussen hörte ich auf zu zählen. Ich machte mich auf zum Alex.
Der Platz war mit Gittern in zwei Hälften geteilt. Eine für Kaufhaus-Kunden, die andere für Demonstrierende. Ältere Herren in grauer Kutte mit Ordnerbinde lotsten die verwirrte Masse um das ehemalige Hotel Stadt Berlin. Zwischen Berliner Verlag, Saturn und Haus der Treuhand (TLG) drängten sich die Massen. Politsekten nutzten die Chance, ihre Werbezettel unters Volk zu bringen.
Sie nannten sich "Maitreya und die Gruppe der Weisheit", BÜSO, Linksruck, SAV oder MLPD und FDJ. Sie wurden belächelt, beschimpft, skeptisch beäugt oder schlicht ignoriert. Ein Bündnis aus Gewerkschaft und Antifa verteilte gelbe Flugblätter mit der Aufschrift: "Wir sind nicht ´das Volk´. Wir hassen die Idee der ´Volksgemeinschaft´.

Es waren unübersichtlich viele Menschen. Am Pressecafe machten sich revolutionäre Merchandise-Stände breit.T-Shirts, Probe-Abos, Buttons und Kugelschreiber. Das Geschäft mit den Hartz IV-Opfern. Ich weiss nicht, ob die Demo-Krämer am Samstag schwarze Zahlen schrieben. Die Bratwurtverkäufer mit ihren bunten Schirmchen taten es sicher.
Geladene Stimmen schmetterten vom Lautsprecherwagen über den Platz. Die Sonne lachte. Viele Demonstrierende taten es ihr gleich. Die PDS machte Druck, wenn auch nur in viele hundert kleine rote Luftballons. So hatte ich die Karl-Liebknechtstrasse schon einmal gesehen. Zum 1.Mai 1986. Die kleinen roten Ballons, darüber einige grosse blaue mit der Friedenstaube drauf. Früher traten hier ganze Betriebe halbfreiwillig an. Die Zeiten sind vorbei. Die Optiken sind die gleichen geblieben. Oberflächlich betrachtet.
Natürlich gab es damals keine schicken gelben Attac-Stirnbänder, keinen Grund wirklich etwas bewegen zu wollen, weil es einem selbst an die Pelle ging.

Gestern war alles anders. Der Innenminister koordinierte den BGS- und Polizeieinsatz höchst persönlich, hiess es in den Mainstream-Medien. Schilys Jungs und Mädels in Grün bekamen am S-Bahnhof Alexanderplatz noch deftiges Essen bevor es richtig losging. Kartoffeln, Soße, Fleisch, Gemüse. Und dann ging es auch richtig los. Der Demonstrationszug zog vorbei am Berliner Verlag, zum ersten Amtssitz von Wilhelm Pieck und weiter zum Rosa-Luxemburg-Platz. Dort setzte ich mich aufs Strassengeländer und liess alle Blöcke an mir vorüberziehen. Manchmal konnte ich mir das schmunzeln nicht verkneifen. Es waren schon eher normale Demonstrierende. Die Sektierer wirkten nur durch ihre Masse an Winkelementen und Uniformierung. Ich fragte eine FDJlerin, ob sie die Blauhemden selbst nachproduzieren würden?
"Nein, die sind noch aus Friedenszeiten." antwortete sie mit einem debilen Grinsen im Gesicht.
Ich war erschrocken. Welchen Frieden meinte sie? Wettrüsten, Mauer, Planwirtschaft, Stasi, Wehrlager, Kampfgruppen, Zivilverteidigung und Fahnenappell? Bautzen, Rummelsburg und Hohenschönhausen? Waren das die Friedenszeiten von denen sie träumte? Ein paar Minuten lang konnte ich nur mit dem Kopf schütteln. Geballt kamen so viele Negativerinnerungen an diese Friedenszeiten in mir hoch.

Der PDS-Block zeigte sich medienerfahen, stoppte mit seinem Leittransparent vor der Kreuzung und gab allen Fotografen Gelegenheit, es zu fotografieren. Immer mehr ihrer roten Luftballons verfingen sich in der Oberleitung der Strassenbahn. Ich war entzückt von der Ideenvielfalt der "einfachen Leute", die nicht in Blöcken, sondern mit Freunden liefen. Manche verkleideten sich as Hartzer Käse, andere trugen aufwendig gemalte Schilder mit überdimensionalen Lebensmittelmarken. Ein blinder Mann rief mit klarer, lauter Stimme: "Achtung, Achtung: Hier sprechen die Chaoten. Hartz VI gehört verboten." Er klang wirklich wie ein Radiosprecher aus kalten Kriegszeiten. Das ging mir unter die Haut. Eine kleine Gruppe aus Mädchen und Frauen rief: "Schröder, Stoiber, Merkel - ihr seid doch alle Ferkel". Das war lustig. Das kam an. Auch der attac-Block mit den gelben Stirnbändern stoppte medienwirksam vor der Kreuzung am Schnhauser Tor. Doch die "A-Anti-Anti-Anticapitalista"-Rufe eines Mannes auf dem attac-Lautsprecherwagen wollten nicht so recht auf die Masse übergreifen. Also versuchte er es mit einem Countdown. "Zehn. Neun. [...]" Schon bei "1" flitzte ein riesiges Transparent mit der Aufschrift: "Neoliberale Enteignung stoppen" an mir vorbei. Dahinter viele flinke Füsse und lachende Gesichter.
Es gab auch viel Musik. Nicht nur Achtziger-Jahre Pop aus LKW-Lautsprechern. Auch richtige Live-Musik.
Das Pfeifen und Trommeln der kleinen Sambagruppe berührte mich jedoch mehr als das Lied vom kleinen Trompter des Schalmei-Orchesters Fritz Weineck Berlin. Mit "Tschingserasabumsassa" kann man heute nur Ewig-Gestrige beeindrucken. Ein Mann hielt ein Megafon an ein Diktiergerät und spielte dauernd die gleichen Lieder von Ernst Busch. Nichts gegen Ernst Busch, doch fand ich sein Liedgut hier etwas fehl am Platz, genau wie die DDR-Fahne mit der Aufschrift: Zurück in die Zukunft. Lachen musste ich wieder, als jemand rief: "Leute auf die Beene, sonst habta keene Zähne."
Es dauerte über eine halbe Stunde, eh die ganze Demo an mir vorbeigezogen war. Ich eilte wieder an die Spitze. Die war nun schon in der Friedrichstrasse. Unweit des Jubelfestes zur deutschen Einheit. Unter den Linden fuhren zwei Wasserwerfer auf. Besonders Leute, die nicht aus Berlin waren und wenig Demoerfahrungen hatten, waren schockiert, wütend und entsätzt.
Die Polizei, nun mit Helmen, wurde zappeliger. Ich hörte einen Polizisten zum anderen sagen:
"Machst Du Festnahme oder begleitest Du?"

Vor dem Autohaus in der Friedrichstrasse rasteten sie aus. Eine junge Frau wurde an mir vorbei geschleift.
"Festnahme sichern, Festnahme sichern!" schrien Polizisten mit weisser Armbinde. Ratter, Pfiffe, Schreie und ängstliche Blicke. Rangeleien, Handgemenge, Buh-Rufe. Wahnsinnige, euphorische Blicke von Polizisten unter den Visieren ihrer Helme. Eine Polizistin hatte Schweiss auf der Stirn zu stehen. Kleine Tropfen perlten vom Sichtfenster. Um sie herum: Hektik, Panik, Wut und Lärm. Gegenstände flogen durch die Luft, in RIchtung VW-Autohaus und Deutsche Bank. Eine ältere Frau neben mir bekam etwas ab. Sie begann zu zitern, ihre Mundwinkel zuckten und Blut schoss über ihren Kopf. Ein Freund zog Taschentücher hervor. Ich presste sie auf ihren Kopf. Mitarbeiter des Autohauses öffneten schnell eine Tür. Wir brachten die Frau hinein und versorgten sie. Meine Hand war blutüberströmt. Ich glaube, es waren Polizisten in zivil, die weiter Erste Hilfe leisteten. Nachdem ein Autohaus-Mitarbeiter bestätigte, dass ein Krankenwagen gerufen wurde und ich sah, dass die Frau versorgt wurde, ging ich wieder auf die Strasse unter den Linden. Die Atmosphäre wurde immer aggressiver.

An der Humboldt-Uni hing ein Transparent: "Kapitalismus ist auch ohne Hartz IV Scheisse". Gegenüber, zwischen Staatsoper und Komode bekam man es direkt zu spüren. Wo einst die Nazis Bücher verbrannten, gingen nun Polizisten auf Gewerkschafter von ver.di los. Diese versuchten sich verzweifelt mit Fahnenstangen zu wehren. Plötzlich keine freudigen Gesichter mehr wie sonst auf den Covern der ver.di-Zeitungen. Menschen wurden von der Polizei abgedrängt, im Würgegriff umhergeschleift, an die Wand der Staatsoper gedrückt und geschlagen. Wieder wurden Festnahmen gesichert. Journalisten wurden bedroht, getreten und geschubst, ihr Fotoequipment weggestossen. "Hallo Rechtsstaat. Hallo Demonstrationsfreiheit. Hallo Pressefreiheit." rief jemand. Wie konnte sowas geschehen? Bei so vielen Demonstrierenden? Ich sah alles und hatte Angst um Freunde, die noch näher dran waren und direkt von den Polizisten bedrängt wurden. Jeder fünfte bis zehnte Polizist hielt eine Videokamera in den Händen und versuchte möglichst viele Nahaufnahmen einzelner Demonstrierender zu bekommen. Dazu kam der Kamerawagen der Polizei. Was für eine Datenflut?

Die Demo endete wieder am Alexanderplatz. Ich wartete die Abschlussveranstaltung nicht ab. Ich ging durch die Karl-Marx-Allee, zurück zum Kino International. Die Reisebusse füllten sich wieder. Hauptgesprächsthema, die Gewalt der Polizei. Ein paar Jugendliche hockten auf dem Gehweg über einem Stadtplan. Ich fragte, welche Strasse sie suchen würden. Sie wollten nach Tempelhof. Dort würde ein Freund bei der Polizei festgehalten werden. Er wäre gleich am Anfang weggeschnappt worden, weil er eine "Hassi" dabei hatte. Ich zeigte ihnen den schnellsten Weg, stieg ins Auto und fuhr Heim. Im rbb-Inforadio liefen O-Töne von Joschka Fischer beim Grünen-Parteitag. "Es lohnt sich zu kämpfen." sagte er, wenn auch in einem anderen Kontext. Dann die Meldung zur Demo in Berlin: Mehrere 10.000 Menschen ... sechs Festnahmen ... Flaschen und Farbbeutel geworfen. Ein paar Kurz-Interviews mit Teinehmerinnen. Das muss reichen fürs Radiopublikum.
Indymedia ist eine Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann. Eine Überprüfung der Inhalte und eine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge finden nicht statt. Bei Anregungen und Fragen zu diesem Artikel wenden sie sich bitte direkt an die Verfasserin oder den Verfasser.
(Moderationskriterien von Indymedia Deutschland)

Ergänzungen

Hab noch ein paar Links

Mr.X 04.10.2004 - 14:27
Fotos, die die Demo in ihrer Länge zeigen:
 http://de.indymedia.org/2004/10/95384.shtml
 http://de.indymedia.org/2004/10/95306.shtml

Zur Textstelle: "Eine ältere Frau neben mir bekam etwas ab. Sie begann zu zitern, ihre Mundwinkel zuckten und Blut schoss über ihren Kopf. Ein Freund zog Taschentücher hervor. Ich presste sie auf ihren Kopf."
gibts das hier:  http://de.indymedia.org/2004/10/95606.shtml

Zu einem Übergriff auf einen Journalisten:  http://de.indymedia.org/2004/10/95576.shtml

Ansonsten gibts noch ne Menge in der Mittelspalte

Berlin, hart aber wir kommen wieder :)

Person vor Int. Kino 04.10.2004 - 17:53
Danke noch mal für die Hilfe. Die in Gewahrsam genommene Person wurde kurze Zeit später frei gelassen und konnte per Taxi zu uns stoßen.
Für das nächste mal wäre es vielleicht auch ganz gut wenn die EA-Nummer besetzt ist und nicht ein Anrufbeantworter dran is...

POLIZEIGEWALT

-y- 04.10.2004 - 19:33
polizei bricht pds-sprecher schultergelenk
 http://www.germany.indymedia.org/2004/10/95632.shtml



polizei verprügelt grundlos poln. journalist:
 http://www.germany.indymedia.org/2004/10/95576.shtml



rentner am boden von polizei getreten
 http://www.germany.indymedia.org/2004/10/95208.shtml

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

Zeige den folgenden Kommentar an