Proteste gegen Hartz IV: Totgesagte leben...

rumpelpumpel 04.10.2004 04:17 Themen: Soziale Kämpfe
Mehr als 50.000 Menschen am Wochenende auf der Strasse gegen sozialen Kahlschlag; Berliner PDS-Chef spricht sich für ein Ende der Demos aus; Günter Grass in Koalition mit BDI-Chef Michael Rogowski für Hartz IV; Proteste gehen trotzdem weiter: Grossdemo in Nürnberg am 6.11. geplant.
Hartz IV ist die größte Zerstörung des Sozialstaates seit 1945. Ab Januar nimmt die Regierung einer halben Million Menschen ihr Arbeitslosengeld weg und zwingt sie, von Sozialhilfe zu leben.
Nach der Ankündigung eines breiten Bündnisses zur Montagsdemonstration am 16.8. in Berlin berief die Regierung eine Krisensitzung ein, die erste Korrekturen an Hartz4 vornahm. Das ist eine Ermunterung, weiterzumachen. Wenn jetzt bald überall weitehin Aktionen laufen, können wir die Regierung in die Knie zwingen und die vollständige Rücknahme von Hartz4 erreichen. Jede und jeder ist aufgerufen mitzuhelfen lokale Demos aufzubauen.
Zehntausende sind am Wochenende in Berlin gegen die Arbeitsmarktreform Hartz IV auf die Straße gegangen. Am Samstag den 2. Oktober beteiligten sich mehr als 45.000 Menschen an der ersten bundesweiten Anti- Hartz-Demonstration, zu der verchiedene Bündnisse, OrganisatorInnen und Unterstützerorganisationen lokaler Montagsdemos, linke Gruppen und lokale Gewerkschaftsgliederungen aufgerufen hatte.
Am Sonntag kamen noch einmal rund 3000 Teilnehmer zum Protest in die berliner Innenstadt.
Nachdem die (neoliberale) SPD durch ihre radikale Umverteilungspolitik von unten nach oben ihre letzten Reste der eigene (alten) Basis verloren hat, geht die PDS den Weg des kleinen Beibootes weiterhin mit und organisiert damit ebenfalls ihren eigenen Untergang. Der berliner PDS-Chef spricht sich für ein Ende der Demos aus. Er halte nichts davon, weiter immer und ewig zu demonstrieren. Damit reiht sich die PDS in die alte SPD-Tradition ein, sich auf der einen Seite an die Spitze der sozialen Bewegungen zu stellen um sie im nächsten Augenblick wieder abzuwürgen. Die SPD, die diese Strategie mindestens seit 1914 verfolgt und mit dem Abwürgen der demokratischen Rätebewegung von 1918 (SPD: "Wir haben Deutschland vor dem Bolschewismus gerettet") ihre Rolle als "Arzt am Krankenbett des Kapitalismus" gefunden hatte, ist mittlerweile gar nicht mehr in der Lage diese Rolle einzunhemen. Dafür ist aber die PDS, zumindest in Ostdeutschland, an ihre Stelle getreten.
Die Befürworter (in der PDS) einer Koalition von SPD-PDS in Brandenburg haben sich viel Mühe gegeben: Bei einer Landesvorstandsitzung im Vorfeld der Verhandlungen mit den Sozialdemokraten versuchten sie, die Forderungen nach unten zu schrauben, damit die SPD nicht verprellt wird.
Der Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen (!) von Berlin, der PDS-Mann Harald Wolf hat erklärt, dass die Berliner SPD-PDS-Koalition mit Hartz IV auch den von Clement geforderten Niedrigstlohnsektor umsetzen will und das die 1-Euro-Jobs eine alte Forderung der PDS sind: in Berlin Tarifverträge gekündigt wurden, mit Zustimmung der PDS. Im Gespräch sind mindestens 30000 Niedrigstlohnjobs für künftige Empfänger von ALG II.
Auf die Frage, was die Regierungspartei PDS gegen eine solche Form der Lohndrückerei unternehmen könne, antwortete Gregor Gysi auf einer Wahlkampfveranstaltung in Brandenburg: Sie könne allenfalls dafür sorgen, dass statt einem Euro zwei Euro Stundenlohn gezahlt werde.
Da bei Ablehnung eines solchen Jobs durch Arbeitslose nach Hartz IV Einkommensverlust bis zur vollständigen Streichung des Arbeitslosengelds droht, bedeutet dies die Etablierung von Zwangsarbeit für Niedrigstlohn durch die PDS.
Auf diese Zertreter der Interessen ihrer eigenen WälerInnen können wir verzichten. Die bundesweite Demonstration vom 2. Oktober hat gezeigt, dass
Etwa 60 Künstler, Manager und Publizisten stellten sich unterdessen hinter die Politik der Bundesregierung. "Wir haben das Jammern über Deutschland satt", heißt es in einem Aufruf in der "Süddeutschen Zeitung", der unter anderen von Schriftsteller Günter Grass, dem Musiker Marius Müller-Westernhagen und BDI-Chef Michael Rogowski unterzeichnet wurde. Die Hartz-IV-Reformen seien "überlebensnotwendig für den Standort Deutschland".
Die Erfahrungen der sozialen Bewegungen in ganz Europa zeigen, dass mit Demonstrationen und Streiks Kürzungen abgewehrt und mehr Gerechtigkeit erkämpft werden können.
Nur Druck von unten und eine breite Mobilisierung zu lokalen Aktionen (z.b. am 20.10. gegen Agenda 2010) und zu zentralen Demonstrationen kann gesellschaftliche Veränderung für Arbeit und soziale Gerechtigkeit erreichen und längerfristig den Prozess einer emanzipatorischen Bewegung vorranbringen um eine Welt jenseits des Kapitalismus gemeinsam mit allen im Kapitalismus Marginalisierten und Ausgebeuteten zu schaffen.
Mit den lokalen, regionalen und internationalen Sozialforen hat sich die Bewegung gegen neoliberale und militärische Globalisierung einen Raum von unten geschaffen, wo Strategien entwickelt, Kampagnen koordiniert und Erfahrungen ausgetauscht werden können.

Vom 15 - 17 Oktober findet das Europäische Sozialforum in London statt:  http://www.fse-esf.org/

Initiative für ein Sozialforum in Deutschland:  http://www.dsf-gsf.org

Ein weiterer Höhepunkt des heissen Herbstes wird die Grossdemo in Nürnberg am 6.11. ( http://www.grossdemo-nuernberg.tk) und der bundesweite, dezentrale Aktionstag am 17. November ( http://www.alle-gemeinsam-gegen-sozialkahlschlag.de). Dieser ehemals arbeitsfreie Tag (Buß- und Bettag) soll von allen Initiativen, Bündnissen, Gewerkschaften genutzt werden, um mit vielfältigen Aktionen den Protest gegen den Sozialkahlschlag zu stärken. An diesem Tag sollte möglichst wenig gearbeitet werden!
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Ergänzungen

und hier die schicke anzeige der prominenten

der nestscheißer 04.10.2004 - 11:23
aus der "bild" für volk und standort

und hier die schicke anzeige der prominenten

der nestscheißer 04.10.2004 - 11:27
aus der "bild" für volk und standort

PDS in Pankow Berlin setzt Hartz IV um

xx 04.10.2004 - 14:06
über hundert Arbeitslose wurden zum 1.10. über ein Abkommen zwischen dem Bezirkamt Pankow, dem Arbeitsamt Nord und freien kommunalen Trägern der Sozial- und Jugendarbeit zu Zwangsarbeit verdonnert, zu € 1.50,- bis € 2.50,- die Stunde.

Ein Euro zusätzlich

Wolli 04.10.2004 - 15:07
Mir fällt immer öfter bei der Diskussion um die "Ein-Euro-Jobs" auf, dass die Tatsache unterschlagen wird, dass die Betroffenen nicht für "1 Euro pro Stunde" arbeiten sollen, sondern dass sie diese ein- oder zwei Euro ZUSÄTZLICH zu staatlichen Leistungen erhalten! Hat diese Tatsachenunterschlagung System? Ich vermute: JA!

Reden, Interviews & Pressespiegel zum 2.10.

rumpelpumpel 04.10.2004 - 16:25
Reden auf der Demonstration vom 2. Oktober 2004

» Rede von Bernd Riexinger
 http://www.zweiter-oktober.de/rede_bernd_riexinger.htm

» Weiter gegen den "Hartz"-Infarkt!
Auszüge aus Reden auf der Kundgebung gegen Sozialkahlschlag am Samstag in Berlin
junge welt, 04.10.2004
 http://www.jungewelt.de/2004/10-04/011.php

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Einige Pressestimmen zur Demonstration am 2. Oktober 2004

» Kurswechsel gefordert
Über 70000 Menschen protestierten am Wochenende in Berlin gegen die "Hartz-IV"-Gesetze. ATTAC will Widerstand "mit Kraft und Schärfe in den Herbst und das Frühjahr tragen"
junge welt, 04.10.2004
 http://www.jungewelt.de/2004/10-04/001.php

» Die Phantasiezahlen der Medienbosse
Zählen von Demonstranten schwer beherrschbar
junge welt, 04.10.2004
 http://www.jungewelt.de/2004/10-04/013.php

» "Die SPD-Führung leidet an Autismus"
Interview mit Anti-Hartz-Demo-Organisator Werner Halbauer
Tagesschau.de, 04.10.2004
 http://www.zweiter-oktober.de/tagesschau_interview_halbauer.htm

» Hartz-Gegner: PDS-Chef kann uns nicht bremsen
Aktionsbündnis ärgert sich über Stefan Liebich
Tagesspiegel, 04.10.2004
 http://www.tagesspiegel.de/berlin/index.asp?gotos=http://archiv.tagesspiegel.de/toolbox-neu.php?ran=on&url=http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/04.10.2004/1398487.asp#art

» Protestwelle ebbt ab
Zentrale Kundgebung gegen Hartz-Reform in Berlin Mehrere zehntausend Menschen haben am Samstag in der Hauptstadt gegen Sozialreformen protestiert.
Frankfurter Rundschau, 04.10.2004 (bei der FR merkt mensch nun, wer sie gekauft hat: FR nun endgültig verlängerter Arm des Kanzleramtes?!)
 http://www.fr-aktuell.de/ressorts/nachrichten_und_politik/deutschland/?cnt=515026

@ Wolli

Norbert 04.10.2004 - 18:34
Ja, Wolli, die meisten haben es sicherlich schon bemerkt, dass an diesem Standort niemand mit 160 Euro (160 Std./M. a 1 Euro) längerfristig "leben" kann.

Deshalb dürfte fast allen klar sein, dass der Staat als ideeller Gesamtkapitalist einen Teil des Geldes, dass er von denjenigen nimmt, die um ihr Überleben zu sichern, gezwungen sind, ihre Arbeitskraft anzubieten und die tatsächlich von irgendeinem Unternehmer eingekauft wurden, dafür verwendet, den menschlichen Überschuss irgendwie vor dem Krepieren zu bewahren und ihm sogar noch - wie es treffend heisst - die "Unterkunft" bezahlt (ganz schön moralisch!). Und das sollte natürlich auf keinen Fall verschwiegen werden.

Der Menschenüberschuß wird also nicht - wie es ihm bei den Vorfahren unserer Standortelite noch passiert wäre - entweder direkt liquidiert oder als Menschenmaterial auf Schlachtfelder gejagt, sondern er erhält - wie du schon so richtig bemerkt hast - "staatliche Leistungen". Um diese zu bekommen müssen diese Leute sich der direkten Zwangsarbeit unterwerfen. Lohnarbeit selbst ist zwar auch Zwangsarbeit, aber Dank der 1 oder 2 Euro Jobs wird der Zwang deutlicher spürbar.

Mit Hilfe der "staatlichen Leistungen" plus direkter Zwangsarbeit soll einerseits der Menschenüberschuß ruhig gestellt werden, Teile dieser Menschen könnten ja durchaus wiederverwendet werden, vielleicht findet sich ja jemand, den sie reich machen können. Andererseits soll damit ein Niedriglohnsektor weiter etabliert werden.

Ich hoffe, du bist jetzt zufrieden.

Norbert

@Wolli @Norbert

oli.w 05.10.2004 - 02:11
Mal ganz davon abgesehen ob man von diesem zusätzlichen einem Euro pro Arbeitsstunde leben kann wird so durchs Hintertürchen ein neuer Billiglohnsektor geschaffen - schliesslich gehen so Stellen, die vorher (wenigstens auf ABM-Basis) besser entlohnt wurden kaputt. Das Problem liegt also nicht nur bei dem, der diesen Ein-Euro-Job annehmen muss sondern auch bei dem, der die selbe Tätigkeit vorher für mehr Kohle gemacht hat und nun selbst (wieder) auf der Straße steht.

noch mehr fotos von 2. oktober demo in berlin

rumpelpumpel 05.10.2004 - 02:12
hier findet ihr noch mehr fotos von der bundesweiten demo gegen hartz4 und sozialkahlschlag:

-  http://www.zweiter-oktober.de/bilder/fotos_zweiter-oktober/index.htm

und noch mehr unter:

-  http://www.attac.de/uni-bochum/Gallery/thumbnails.php?album=32

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Nach dem 2. Oktober:
Vernetzungstreffen am 23.10.04 in Magdeburg
Dort wollen wir über weitere gemeinsame Schritte gegen den Sozialabbau beraten.
Den genaueren Beginn und Ort werden wir Euch bald bekannt geben.
Infos demnächst unter:  http://www.alle-gemeinsam-gegen-sozialkahlschlag.de
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