Drei Jahre nach 9/11 - Eine Presseschau

Haiko Lietz 21.09.2004 15:48 Themen: Militarismus Weltweit
Der dritte Jahrestag der Anschlägen in den USA vom 11. September 2001 war Anlass, den Stand der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus zu rekapitulieren. Die Ereignisse des 11. Septembers selber und ihre Aufklärung stehen nur noch selten im Mittelpunkt der Berichterstattung. Die meisten Artikel stehen unter dem Eindruck des Massakers von Beslan in Nordossetien.
Georg Klein fragt in der Berliner Zeitung, "Was uns die Bilder aus Beslan sagen": "Der Hochmut des Westens sagt: Die schützende Hand moderner Allmacht wacht über unsere Kinder. (…) Das Gegenteil ist wahr. Auch unsere Kinder wären gestorben oder wären blutüberströmt von verstörten Männern in Kampfanzügen den Kameras entgegengetragen worden. Die Bilder aus Beslan sagen: Auch das weiße Kind, der Augapfel der westlichen Kultur, er ist auf diese altbrutale Weise angreifbar. Es braucht nur Handfeuerwaffen, ein paar Kilo Sprengstoff, einige Mobiltelefone und den Mut der Verzweiflung, um ein großes Blutbad unter den Kindern der Mächtigen anzurichten. Genau diese Einsicht wollten die Geiselnehmer erzwingen. Dafür haben sie sich selbst und andere getötet. Ihr Tun ist grausam und unentschuldbar. Aber hochmütig ist es nicht. Denn von der Versehrbarkeit ihrer Kinder haben die Selbstmordattentäter von Beslan nicht vor dem Fernseher oder aus den Geschichtsbüchern, sondern in den Ruinen von Grosny und auf den verminten tschetschenischen Äckern erfahren."

Henryk M. Broder polemisiert in Spiegel Online gegen die "Terroristen-Versteher", die im Moment des Terrorismus darauf hinweisen, dass dieser ein politisches Phänomen ist. Eine politische Motivation lässt Broder für islamistische Terroristen nicht gelten: "Bis jetzt galten Amokläufer als schwer gestörte Menschen, nicht als Protesttäter. Seit dem 11. September aber wird ihnen eine politische Motivation unterstellt, nur weil sie ihren Todeswunsch mit einem politischen Alibi drapieren. Dies macht den Abgang umso dramatischer, es ist der letzte Kick auf dem Weg von Hier in die Ewigkeit. Was ist schon ein Abschiedsbrief an die Verwandten gegen den Knalleffekt, Hunderte oder Tausende von Menschen in den Tod mitzunehmen."

Dem widerspricht der Geschichtsprofessor Juan Cole in seiner Analyse der Motive al-Qaidas: "From al-Qaeda's point of view, the political unity of the Muslim world was deliberately destroyed by a one-two punch. First, Western colonial powers invaded Muslim lands and detached them from the Ottoman Empire or other Muslim states. They ruled them brutally as colonies, reducing the people to little more than slaves serving the economic and political interests of the British, French, Russians, etc. France invaded Algeria in 1830. Great Britain took Egypt in 1882 and Iraq in 1917. Russia took the Emirate of Bukhara and other Central Asian territories in the 1860s and forward. Second, they formed these colonies into Western-style nation-states, often small and weak ones, so that the divisive effects of the colonial conquests have lasted. (Look at the British Empire and its imposition on much of the Muslim world, e.g.:) (…) From al-Qaeda's point of view, the Soviet attempt to absorb Afghanistan was the beginning of the end of the colonial venture. They demonstrated that even a superpower can be forced to withdraw from a Muslim land if sufficient guerrilla pressure is put on it. Bin Laden sees the Muslim world as continually invaded, divided and weakened by outside forces. Among these is the Americans in Saudi Arabia and the Israelis in geographical Palestine. He repeatedly complained about the occupation of the three holy cities, i.e., Mecca, Medina and Jerusalem."

Martin Winter mahnt in der Frankfurter Rundschau, bei der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus den Rechtstaat nicht aufzugeben: "Es gibt mehr islamistischen Terror in größerer Variation als zuvor. Madrid, Djerba, Beslan, Beerscheba, Istanbul und Riad stehen für Orte, an denen der Terror die Gesellschaften zu destabilisieren sucht. Die Welt ist unsicherer. (…) Wer islamistische Terroristen besiegen will, darf nicht so handeln wie die USA und ihre willigen Koalitionäre in Europa. Vor allem aber muss er unbeirrt an seinen Werten festhalten. Rechtsstaat, Freiheit und persönliche Unversehrtheit sind die Attraktionen im Schaufenster aufgeklärter Gesellschaften. Sie sind die beste Werbung für die Demokratie, deren viele - auch muslimische - Länder dringend bedürften. Die wahre Stärke des Westens gegen die Islamisten steckt in seinen Werten."

Angesichts der Ankündigung Russlands, wie die USA die Bekämpfung des Terrorismus militärisch und präventiv zu verstärken, schreibt die Financial Times Deutschland über die "Eskalation des Anti-Terror-Krieges": "Selbst eine gefestigte Demokratie wie die USA gerät bei solch einem Krieg ins Taumeln - siehe die Menschenrechtsverletzungen in Guantanamo, siehe Abu Ghraib. Was aber droht der Welt, wenn ein autokratisch regierter Staat wie Russland zur weltweiten Hatz bläst? Einen Vorgeschmack darauf gab es kürzlich im Golfstaat Katar, als zwei russische Agenten einen Tschetschenen-Führer per Autobombe "neutralisierten". Drohen ähnliche Aktionen nun in Istanbul, London oder Stuttgart?"

Der amerikanische Terrorismus-Experte Bruce Hoffman meint gegenüber dem Christian Science Monitor, man könne nicht von einem "Krieg" gegen den Terrorismus sprechen, und erst recht nicht von einem "globalen", da einzelne Brennpunkte nicht zusammenhingen: "One of the most disturbing aspects of these attacks is that some may represent strategic escalation. Terrorists have targeted schools before, but never on the scale of last week's Russian disaster. Islamists have similarly increased the breadth of their violence against Iraqi targets. But this doesn't mean the world has lost ground in a global war on terror. Indeed, this struggle may not be global, or even best described as "war," at all. The main fronts might instead be seen as separate hot spots, each on its own time cycle, each roiled by its own clashes of power and religion, each perhaps better fought in different ways. "The bottom line is they are not connected," says Bruce Hoffman, a terror expert at the RAND Corp. in Washington. "This has been a particularly bad two weeks.""

Der französische Terrorismus-Forscher Gilles Kepel verweist in der Los Angeles Times auf den großen Fehler der USA, deren Verbündeten und Russlands hin, den Terrorismus militärisch bekämpfen zu wollen, und dabei eine aussichtsreiche Option zu vernachlässigen: "The Muslim reaction to these incidents suggests that Al Qaeda could be beaten at its own hearts-and-minds game. Instead, by concentrating on the military option, Russia and the U.S. are missing an opportunity to mobilize Muslim civil society against Islamist terrorism and dry out the social swamps from which it springs."

Die Globalisierungskritikerin Naomi Klein weist im Guardian darauf hin, dass die USA mit ihrer Strategie, weltweit die Dinge mit Gewalt zu regeln, die Strategie des israelischen Likud-Blocks (Ariel Scharon) globalisiert hätten: "Common wisdom has it that, after Sept. 11, a new era of geopolitics was ushered in, defined by what is usually called the "Bush doctrine": pre-emptive wars, attacks on "terrorist infrastructure" (read entire countries), and an insistence that all the enemy understands is force. It would be more accurate to call this rigid world view the "Likud doctrine." What happened on Sept. 11 is that the Likud doctrine, previously used only against Palestinians, was picked up by the most powerful nation on Earth and applied on a global scale. Call it the Likudization of the world, the real legacy of Sept. 11."

James Fallows schreibt im Atlantic Monthly: "It is hard to find a counterterrorism specialist who thinks that the Iraq War has reduced rather than increased the threat to the United States".

Mike Whitney schreibt in Counterpunch, dass die USA, genau wie die Terroristen in Beslan, des Terrorismus schuldig seien: "The city of 500,000 is being held hostage by an American leadership who doesn't mind shedding the blood of innocent civilians to achieve their broader political goals. That is the very definition of terrorism. (…) If Terrorism Isn't Video-taped, It Doesn't Exist".

Brendan O'Neill analysiert im Onlinemagazin sp!ked die internationale Verbindung des tschetschenischen Terrorismus: "The missing link in the debates about terrorism, about the shift from the more politically-oriented violence of the past to the blindly ruthless attacks of today, is the West's foreign interventions of the 1990s. It is by examining these that we can start to make sense of today's seemingly senseless terror. Such interventions, particularly in the Balkans, did much to create the conditions for the rise of the new stateless groups that are so different from old-style nationalist movements. (…) In undermining state authority, humanitarianism created the space for the rise of non-state actors - and it encouraged their movement across borders."

Jürgen Elsässer präsentiert in der jungen Welt Rechercheergebnisse (Teil 1, Teil 2), dass gerade die Terroristen, die am 11. September 2001 so zugeschlagen haben sollen, wie es der Abschlussbericht der 9/11-Komission schildert, einen Teil ihrer bislang kaum berichteten Karriere auf dem Balkan gemacht hätten. Die "beiden Masterminds Khalid Scheich Mohammed und Ramzi Binalshibh sowie die wichtigsten Piloten und Logistiker Mohammed Atta, Hani Hanjour, Ziad Jarrah, Khalid Almidhar und Nawaf Alhazmi (…) haben, bevor sie mit Al Qaida in Kontakt kamen, in Bosnien gekämpft. Die dortigen muslimischen Einheiten wurden vom Pentagon-Geheimdienst mit Waffen versorgt. Als dieselben Personen später die Anschläge des 11. September vorbereiten, wurden sie von den US-Geheimdiensten pausenlos observiert, teilweise gab es sogar direkte Anwerbeversuche – aber niemals eine Verhaftung. Zwei dieser Leute sind heute die wichtigsten Kronzeugen der US-Regierung für die Alleinschuld von Al Qaida am 11. September."

Mathias Bröckers berichtet in Telepolis über den Unglauben an der offiziellen Version der Geschehnisse und Hintergründe: "Vor einem Jahr noch, als eine Umfrage der "Zeit" ein ähnliches Meinungsbild in Deutschland erbrachte, schlugen die Wellen hochund die Kommentatoren mit Schaum vor dem Mund auf die vermeintlichen Verursacher ein. Eine Handvoll "Verschwörungstheoretiker" - so der allgemeine Tenor der Entrüstung – hätte mit ihren "Phantastereien" zwei Drittel der Bevökerung den Kopf verdreht, indem sie die typisch deutschen Vorurteile des Anti-Amerikanismus und Anti-Semitismus bedienten. Dass es sich bei diesem Vorwurf um ausgemachten Humbug handelt, sollte allerspätestens durch diese neue Umfrage klar geworden sein: Dass auch die Hälfte aller New Yorker/innen an der offiziellen Legende zweifelt, kann wohl schwerlich an diesen "deutschen" Vorurteilen liegen."

Das Middle East Media Research Institute hat zum Jahrestag eine arabische und iranische Presseschau zusammengestellt: "During this past year leading up to the third anniversary of the attacks, there has been a consistent stream of articles and TV programs in the region's government-controlled media continuing to focus on conspiracy theories surrounding the attacks. The commemoration within the region's media includes statements made by leading professors, religious leaders, government officials, and even Muslim-Americans. These conspiracy theories primarily state that Arabs and Muslims were not involved and that the U.S. government and/or Jews/Israel are the true culprits. While it should be no surprise that Iran, a country with no official ties with the U.S., is supporting many lies regarding September 11, the U.S.'s closet Arab allies, Egypt and Saudi Arabia, are also supportive of these lies."

Jim Lobe zieht bei IPS News das Fazit: "At a time when the United States is unifying the Islamic world against it, the Bush administration has demoralised and divided the West."


Fazit

Drei Jahre nach den Anschlägen des 11. September 2001 sind diese weder glaubwürdig rekonstruiert noch hintergründig aufgeklärt. Weltweit sind Öffentlichkeit und Politik gespalten. Öffentliche Meinung und veröffentlichte Meinung sind widersprüchlich. Der sogenannte "Krieg gegen den Terrorismus" hat – wie vorhergesagt worden ist – zu einer Zunahme des Terrorismus geführt. Die Instrumentalisierung des Terrorismus durch die USA und ihre Verbündeten, darunter Russland, hat das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Politik verstärkt.

Als schlimmes Ergebnisse der Gewaltspirale seit 9/11 darf gelten, dass Moslems und die Religion des Islam in der westlichen Öffentlichkeit eine Kollektivschuld zugewiesen bekommen haben: "Den Islam empfinden die Deutschen als fremd und bedrohlich. Dies zeigt das Ergebnis einer Frage nach den Assoziationen, die das Wort "Islam" bei den Befragten hervorruft. Ganz an der Spitze der Aussagen stehen "Unterdrückung der Frau" (93 Prozent), "Terror" (83 Prozent), "fanatisch, radikal" (82 Prozent), "rückwärtsgewandt" (66 Prozent). Die ersten positiven Assoziationen erscheinen, von weniger als der Hälfte der Bevölkerung genannt, an sechster und siebter Stelle: "Gastfreundschaft" (45 Prozent), "bedeutende kulturelle Leistungen" (39 Prozent). Von der Faszination, die der Orient jahrhundertelang auf den Westen ausübte und die sich in Kunst, Literatur und Architektur des Abendlandes niederschlug, von den gotischen Kathedralen bis zur Dresdner Tabakmoschee, ist wenig geblieben. Ganze 16 Prozent der Deutschen sagen heute noch, man könne beim Stichwort "Islam" an "faszinierend" denken. Ganz am Schluß der Liste, von 6 Prozent angeführt, erscheint schließlich die Assoziation "sympathisch"."

Es scheint, als wäre der Plan des Amerikanischen Ideologen Samuel Huntington aufgegangen, mit der These vom "Kampf der Kulturen" von der Überlagerung der islamischen Welt durch einen amerikanisch geführten Imperialismus als tatsächliche Ursache vieler alter und neuer Konflikte abzulenken.
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Ergänzungen

Zeilenumbrüche

gelegenheits-mod 21.09.2004 - 16:03
Ich habe die Zeilenumbrüche per Hand ergänzt. Beim Benutzen von html-Tags im Artikel bitte immer Zeilenumbrüche oder Absätze einfügen, da der Text sonst nach Umschalten auf html keine Formatierung enthält.

Fragezeichen in Zitaten

Haiko Lietz 21.09.2004 - 17:28
(?) in den Zitaten bedeutet: (...)

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