Marburger Demo gegen Sozialabbau

teilnehmer 23.08.2004 20:44 Themen: Soziale Kämpfe
Marburger Demo gegen Sozialabbau
An der ersten Marburger Demo gegen Sozialabbau nahmen an diesem Montag zwischen 150 und 200 Personen teil. Start war um 17:00 beim Sozialamt in der Friedrichstrasse.

Aufrufende Organisationen waren: Humanistische Union, AK Marburger WissenschaftlerInnen für Friedens und Abrüstungsforschung, AkademikerInnen solidarität Marburg (AKM), attac Marburg, AusländerInnenbeirat, DGB Kreisverband Marburg-Biedenkopf, DKP Marburg, GEW, IG BAU, PDS, SDAJ, Ver.di, Wahlalternative Mittelhessen, Wildwasser e.v. sowie Einzelpersonen.

Hier die Rede des Vertreters von attac:
Montagsdemo?
Ist es nicht zynisch, an die Tradition der Menschen anzuknüpfen, die sich gegen eine Diktatur erhoben? Nein, ist es nicht, denn wieder wird in Ostdeutschland und jetzt auch hier gegen eine Diktatur gekämpft, die immer mehr um sich greift und die Politik von Schröder & Co dominiert: die Diktatur des Marktes, die Diktatur der Standortkonkurrenz, die Diktatur des privaten Profits!

Liebe Marburgerinnen und Marburger,

bisher wurde Hartz IV hauptsächlich wegen der vorgesehenen Leistungskürzungen und der Anrechnung von Einkommen kritisiert.
Das ist schlimm genug, aber nicht der Kern des Problems.

Viele Personen, die von ihrer Einkommenssituation her berechtigt sind, Arbeitslosengeld II zu beziehen, werden es dennoch nicht bekommen.
Denn ein Rechtsanspruch besteht nicht mehr, die Entscheidung über die Leistungsgewährung ist der Willkür der Fallmanager überlassen.
Und die dürfen Geldzahlungen nur dann gewähren, wenn die Arbeitslosen einen Eingliederungsvertrag unterzeichnet haben und nach Meinung des Fallmanagers überhaupt eine Vermittlungschance haben.

Was passiert aber mit den anderen? Das ist unbekannt.
Vielleicht gibt aber das Mannheimer Sozialamt einen Ausblick auf die Zukunft von Hartz IV. Hermann Genz, der Leiter dieses Sozialamtes brüstete sich, 550 Personen durch Schikanen aus dem Sozialhilfebezug gekegelt zu haben. Wovon diese Personen leben sollen, kümmert ihn offensichtlich nicht.

Hartz IV wird auch dazu führen, dass sich Zwangsarbeit in großem Umfang durchsetzen wird. Schon heute nutzt das Unternehmen Praxis GmbH die Arbeitskraft von ZwangsarbeiterInnen etwa bei einem Umzugsservice.
Es ist uns auch ein Fall bekannt, wo eine Person ebenfalls Zwangsarbeit in einer Verwaltungsstelle der Stadtverwaltung von Marburg leistet.

Dies wird sich mit Hartz IV verallgemeinern. Wirtschaftsminister Clement geht von mindestens 600.000 Personen aus, die in Billigjobs für einen Euro die Stunde arbeiten werden müssen.
Dieser Lohn wird dann gegebenenfalls auf das Niveau des Arbeitslosengeldes II aufgestockt. Wer sich weigert, dem werden alle Leistungen gestrichen.
Dies rechtfertigt es, von Zwangsarbeit zu sprechen: Wer nicht für diesen Hungerlohn arbeitet, verliert die Möglichkeit, ein menschenwürdiges Leben zu führen.
Wer alle Zwangsmaßnahmen mitmacht, gibt damit den Rest eines selbstbestimmtes Leben auf.
Die Hartz-Gesetze treten die Würde des Menschen mit Füßen.

Es heißt, diese Tätigkeiten sollen keine Arbeitsplätze gefährden – das aber ist unrealistisch. Der hochverschuldete Landkreis Marburg-Biedenkopf will ab dem nächsten Jahr die Betreuung der Arbeitslosen selbst übernehmen. Das lässt sich kostendeckend aber nur realisieren, wenn in kommunalen Betrieben und Verwaltungen massenhaft tariflich gebundene Arbeitskräfte entlassen und durch ZwangsarbeiterInnen ersetzt würden.

Mit der vollständigen Umsetzung von Hartz IV und der Durchsetzung dieser Logik werden in einigen Jahren in der Kranken- und Altenpflege, der eigentlichen Verwaltung, bei der Müllabfuhr und im öffentlichen Personennahverkehr hauptsächlich ZwangsarbeiterInnen beschäftigt sein.

Die Agentur für Arbeit kann ihre ZwangsarbeiterInnen zukünftig auch an Privatbetriebe ausleihen.
Daneben wird die Angst vor dem sozialen Abstieg bei Verlust des Jobs die Arbeitenden weiter in die Defensive bringen.
Unsicherheit, Angst, Konkurrenzkampf und der Abbau von Rechten wird dazu führen, dass sich der Lohn für einfache Tätigkeiten in einigen Jahren auf dem Niveau des Arbeitslosengelds II einpendelt.

Damit landen wir bei frühkapitalistischen Verhältnissen. Denn die ZwangsarbeiterInnen haben keine festen Arbeitszeiten, kein Streikrecht und für sie gilt auch nicht die Unverletztlichkeit der Wohnung, die von MitarbeiterInnen des Arbeitsamtes jederzeit durchsucht werden kann. Letztendlich werden sie wie Kriminelle auf Bewährung behandelt.

Warum das alles?
"Die Lohnkosten sind Deutschland zu hoch, wir verlieren unsere Wettbewerbsfähigkeit!"
Hans-Werner Sinn, Präsident des IFO-Instituts für Wirtschaftsforschung, propagierte diesen Unterbietungswettbewerb um Niedriglöhne am 4.4.2004 bei Sabine Christiansen, Zitat: „Wenn wir schon nicht mehr gut sind, dann müssen wir wenigstens billig sein.“
Diesem Zweck dient auch Hartz IV. Die Löhne sollen nachdrücklich gesenkt werden.

Dabei gliedert sich Hartz IV ein in eine ganze Reihe von Maßnahmen auf deutscher, europäischer und globaler Ebene.
Auch die EU-Kommission bereitet mit der sog. Bolkestein-Richtlinie zur Liberalisierung des Dienstleistungssektors Programm vor, dass unter anderem zu einem massiven Lohndumping führen wird.

Weltweit sind mindestens eine Milliarde Menschen arbeitslos oder unterbeschäftigt. In den Entwicklungsländern sind die Löhne deshalb extrem niedrig. ArbeiterInnen in der Elektronischen Industrie in Shenzen / China verdienen 37 $ pro Monat, damit z.B. die dort produzierten Fernseher auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig sind, wir billig einkaufen können und die Konzerne trotzdem noch Gewinne einfahren. Von 37$ im Monat kann niemand leben, selbst in China nicht und erst recht nicht bei uns. Wer also einen Unterbietungswettbewerb um Niedriglöhne startet, setzt weltweit eine massive Spirale der Verarmung in Gang.

Es geht bei Hartz IV ja nicht darum, dass wir im reichen Norden auf etwas verzichten müssen, damit es den Menschen im Süden besser geht. Im Gegenteil: der Druck auf die arbeitenden Menschen, den der Menschlichkeit beraubten „Faktor Arbeit“ wird durch Hartz auf globaler Ebene erhöht.
Soll tatsächlich die große Mehrheit der Menschheit unter immer schlechteren Bedingungen leben, damit die Gewinne von Konzernen und Kapitalanlegern in gewohnter Weise erhalten bleiben?

Wir dürfen diesen Wahnsinn nicht mehr länger mitmachen! Verweigern wir uns diesem Unterbietungswettbewerb!
Eine Alternative sind Mindestlöhne und ein allgemeines Existenzgeld:
Denn von seiner Arbeit muss ein Mensch leben können – aber ohne Arbeit auch!
- alle müssen in Würde leben könnten, ohne Schikanen, ohne Zwang, ohne Druck.

Fragen wir nicht, wie billig die Arbeit sein muss, damit die deutsche Wirtschaft wettbewerbsfähig bleibt – d.h. damit weiterhin hohe Profite gemacht werden können.
Fragen wir, wie wir leben wollen, wie viel dafür gearbeitet werden muss und wie wir diese Arbeit solidarisch verteilen!

Es ist genug für alle da!
Wenn wir aber fragen, wer Einfluss auf die Verteilung hat, wie Macht und Eigentum verteilt sind, stellen wir fest, dass es mit unserer Demokratie nicht weit her ist!
Darum muss der Protest weiter gehen, sich ausbreiten,
- um den neoliberalen Wolf im nur noch schlecht getarnten sozialdemokratischen Schafspelz zu stoppen
- um uns einzumischen und echte Demokratie einzufordern
- um soziale Sicherheit und ein menschenwürdiges Leben für alle zu erkämpfen
Indymedia ist eine Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann. Eine Überprüfung der Inhalte und eine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge finden nicht statt. Bei Anregungen und Fragen zu diesem Artikel wenden sie sich bitte direkt an die Verfasserin oder den Verfasser.
(Moderationskriterien von Indymedia Deutschland)

Ergänzungen

Korrektur Zahlen

teilnehmer 24.08.2004 - 18:43
Ich war wohl zu pessimistisch mit meiner Schätzung 150 bis 200. Allein die Polizei hat 250 TeilnehmerInnen gezählt:  http://www.op-marburg.de/op/home.news.lokal/article.op.jsp?id=20040823.450364