Wahlalternative mit Zukunft doch ohne Utopie

Jens Steiner 06.07.2004 16:16 Themen: Soziale Kämpfe
Kommentar: Nachdem sich am Wochenende eine Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit in Form eines eingetragenen Vereins gegründet hat, sucht die SPD einen Diskurs mit den Gewerkschaften. Laut DGB-Chef Michael Sommer sind sich beide Seiten noch immer uneinig. "Die SPD habe sich nicht auf die Gewerkschaften zubewegt. Neue Parteigründungen wollen die Gewerkschaften nicht unterstützen." hiess es in den Tickermeldungen am späten Montag Abend. Mittlerweile versucht ver.di-Chef Bsirske wieder eine Annährung an Rot-Grün.
Die Wahlalternative: eine Reaktion auf die Agenda 2010



Die Idee für eine neue Linkspartei entstand bereits im März 2003, als Bundeskanzler Gerhard Schröder die Agenda 2010 vorstellte. Das geplante Mitgliederbegehren innerhalb der SPD verlor schnell die Aufmerksamkeit der Medien und Mitglieder. Aus der Wahlalternative und der Gruppe Arbeit und soziale Gerechtigkeit formierte sich am Wochenende die Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit. In der Presse werden deren Mitbegründer und Unterstützer als "die neuen Linken", die neue "Linkspartei", "Abweichler", "Rebellen", "linkeste Linke" und als "Arbeiterverein" bezeichnet.

Vom Mitgliederbegehren zur eigenen, bundesweiten Partei

21.000 Unterschriften wurden bis dato gesammelt. Über 10.000 Menschen stehen bereits auf Unterstützerlisten für eine Partei links von SPD, PDS und den Grünen. In vielen Bundesländern und in verschiedenen Stadtbezirken Berlins bildeten sich im vergangenen Monat Ortsgruppen. Laut politikscreen.de kamen in Berlin 700 Menschen zur Gründungsfeier. Nun wurde ein Strategiepapier mit programmatischen Fragen zur Diskussion entworfen. Bis September will man 3000 Mitglieder geworben haben. 16 Landesverbände sollen gebildet werden. Nach einer Urabstimmung über eine Parteigründung will man ab 2006 zu Landtags- und Bundestagswahlen antreten. Als Arbeitstitel für die neue Partei kursiert die Abkürzung AGF, die für "Arbeit, Gerechtigkeit und Frieden – die soziale Alternative" stehen soll. In der heutigen TAZ liest man auch die Bezeichnung Wahlalternative 2006

Grosser Zuspruch in der Bevölkerung

Eine Umfrage von Infratest/dimap vom Montag ergab, das unter Jugendlichen bis zu einem Alter von vierundzwanzig Jahren, 57 Prozent in Betracht ziehen würden, eine solche "Linkspartei" zu wählen. Unter Arbeitern würden 60 Prozent für eine linke Wahlalternative stimmen. 70 Prozent der befragten Arbeitslosen würden ihre Stimme für die neue Partei abgeben. (Quelle: NGO-Online). In der Berliner SPD-Führung gibt man sich nach aussen gelassen über die Vereinsgründung. Allerdings befürchtet man eine Abwanderung von ein bis zwei Prozent der Mitglieder der Berliner SPD. Das sind etwa 200 bis 300 Menschen.

Ex-SPDler, IG-Metaller und Attac-Aktivisten

Zu dem vierzehnköpfigen Gründungsgremium gehören Ralf Krämer, der Publizist Joachim Bischoff, Irina Naszer, der Hamburger Wirtschaftsprofessor Herbert Schui, die Attac-Aktivistin Sabine Lösing, der IG-Metaller Thomas Händel, Gerd Loboda, Peter Vetter, Klaus Ernst, Anny Heike, Helge Meves, Uwe Hiksch, und Günther Schachner.

Gleichberechtigte Sprecher statt Parteichef

Vier Sprecher und Sprecherinnen, drei Männer und eine Frau, sollen den Verein nach aussen gleichberechtig vertreten. Schui, Händel, Loboda, Vetter, Ernst und Schachner müssen ihre SPD-Mitgliedschaft vorerst ruhen lassen.

Zielgruppe: Politikverdrossene, Ungültig-Wähler, von SPD Enttäuschte

Die Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit hat ihre regionalen Wurzeln vor allem im Westen Deutschlands. Dort könnte sie eine ähnliche Rolle einnehmen wie die PDS in den neuen Bundesländern. Die PDS-Führungsebene zeigte sich am Montag bereit, mit der Wahlalternative zusammenzuarbeiten. Einige Mitglieder des Bündnissen wollten davon vorerst gar nichts wissen. Die Gruppe richtet sich an die frustrierte SPD-Wählerschaft und die Masse der Nicht- und Ungültigwähler, die sich politisch nicht mehr vertreten sehen. Ihre Stärke mag auch darin liegen, dass sie verhindern kann, dass diese Menschen ihre Stimme in Zukunft für die Union oder gar rechtspopulistische Parteien abgeben.

Die Wahlalternative ASG als neuer parlamentarischer Arm der Gewerkschaften

Der Schritt, den viele Gewerkschafter gemacht haben, ist durchaus nachvollziehbar. Die SPD galt stets als die parlamentarische Vertretung der Gewerkschaften im Bundestag. Seit 1863 hat sich die SPD, zumindest auf dem Papier, stets für einen Sozialstaat eingesetzt. Nun behauptet sie, der Abbau des Sozialstaates sei Teil des Umbaus zu Modernisierung und Leistungsorientierung. (Quelle: Frank Mangelsdorf, MOZ). Nun ist dieses historische Bündnis aufgehoben. Die Sozialdemokratie hat ihre kritische Klientel freigegeben. (BLZ) Die Gewerkschaftsaktivisten müssen also selbst Initiative ergreifen und eine Partei gründen, wenn sie ihre Interessen weiterhin in Bundestag und Länderparlamenten vertreten wollen.

Massenaustritte aus der SPD, populäre Gesichter helfen über 5%-Hürde

Wenn die "Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit" wirklich den Status einer Partei erhalten sollte, kann das der SPD durchaus die Mehrheit im Bundestag kosten. Sicher wären Lafontaine, Gysi oder gar Rehagel populäre Gesichter, die einer neuen Linkspartei über die 5%-Hürde helfen würden. Das Mandat Schröders gilt noch bis 2006.
1998 stimmten noch 8 Millionen für den SPD-Kanzler. Heute müssen die Sozialdemokraten um 23 Prozent kämpfen. Wie mag es erst in zwei Jahren um die SPD stehen, wenn allein im ersten Quartal 2004 etwas über 4000 Neumitglieder im Kontrast zu mehr als 20.000 Austritten stehen? (Quelle: politikscreen.de)



Linkspartei könnte soziale Bewegung unterstützen

Die neue Fusion aus Wahlalternative und ASG sieht sich in der sozialen Bewegung verwurzelt. Darin könnte auch ihre Stärke liegen. Sie könnte, wie auch einst PDS und Grüne, Aktivisten eine Infrastruktur, Anlauf- und Treffpunkte zur Verfügung stellen und damit das Vernetzen dieser Bewegung vorantreiben.Denn die soziale Bewegung in Deutschland bewegt mehr als nur Hartz IV, Arbeitslosen- und Sozialgeld, Praxisgebühr, Zwangsausbildung statt freie Berufswahl, Zahnersatz, Rentenkürzung, Medikamentenzuzahlung und Bürgerversicherung.

Kein breites Themenspektrum

Natürlich kann man nicht, wenn man am Anfang steht, gleich zu allen Themen Stellung beziehen. Doch bis jetzt mangelt es noch an einem programmatischen Grundkonsens. Es macht sich die Befürchtung breit, dass innerhalb dieser neuen Wahlalternative kein Bewustsein für die Themen herrscht, die die soziale Bewegung in Deutschland beschäftigen. Bis jetzt fiel noch kein kritisches Wort aus den Reihen der gleichberechtigten Führungsriege über den Angriff rechtsstaatlicher Strukturen durch die Zentralisierung von Polizei, BGS und Nachrichtendiensten, über die massiven Einschnitte in den Datenschutz, die zunehmende Limitierung geistiger Freiheit durch das Patentrecht, Beschränkungen der Freiheit im Internet etc.

Positionierung zur SPD beherrscht die Schlagzeilen

Hauptthema der letzten Tage war die Positionierung zur SPD.Konzepte und Strategien wurden nur oberflächlich thematisiert. Die Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit will nur Wahlalternative sein, jedoch nie Regierungspartei. Das bemerken auch die Bürgerinnen und Bürger. Für manche mag es sehr interessant klingen. Für andere besteht wenig Anreiz, für die "ewigen Meckerer" zu stimmen. Wer sagt denn, dass eine solche Wahlalternative nicht genauso schnell wieder in der Bedeutungslosigkeit verschwinden kann, wie vor einigen Jahren das Komitee für Gerechtigkeit? Wer weiss, ob dieser neugegründete e.V. nicht einer von tausenden, deutschen Vereinen bleibt, weil die Menschen nicht an ihn glauben?

Unglaubhafter Robin Hood-Charakter, überholte Wirtschaftstheorien

Der Robin Hood-Charakter, der durch die Forderung der Besteuerung Wohlhabender und grosser Konzerne, entstehen soll, wirkt wenig glaubhaft. Das verschreckt nicht nur die Kleinbürger und die vielen Kleinunternehmer.Das verschreckt auch die letzten in Deutschland verbliebenen Grossbetriebe und killt damit noch mehr Arbeitsplätze. Gute Idee, doch mit katastrophalen Nebenwirkungen. Keine Angleichung an Wirtschaftsinteressen führt zu Abwanderung der Konzerne. Das Wirtschaftsmodell, dem die Wahlalternative-Köpfe anhängen, stammt aus der Zwischenkriegszeit, aus dem Jahr 1936. Geprägt wurde es durch den von Marx beeinflussten Wirtschaftswissenschaftler John M. Keynes. Seine damals respektable Theorie mag, oberflächlich betrachtet, heute noch funktionstüchtig erscheinen. Ein Blick ins Detail beweist, sie ist restlos überholt. (Quelle: D. Nohlen: Wörterbuch Staat und Politik,Wikipedia) Fortschrittliche Denkansätze sucht man vergeblich in den Äusserungen und Richtlinien der zukünftigen Wahlalternative.

Karriere-Sprungbrett für Funktionäre

Schnell entsteht da das Gefühl, die neue Gruppe sei lediglich ein neues Betätigungsfeld für trotzkistische Polit-Sekten und karrieresüchtige Attac- und Gewerkschaftsfunktionäre, die nach dem Abflauen der Friedensbewegung nach neuen Betätigungsfeldern suchen. Weder in SPD-Kreisen noch in der Linken will man die "Neuen Linken" richtig ernst nehmen. Wie soll eine zukünftige Partei als parlamentarischer Arm der sozialen Bewegung fungieren, wenn zu dieser Bewegung kein wirklicher, natürlich gewachsener Kontakt besteht?Vielleicht nimmt die Wahlalternative auch eher die Rolle eines Katalysators ein. Schliesslich hilft sie der SPD durch die Konfrontation sich inhaltlich zu regenerieren und treibt sie wieder enger in die Arme der Gewerkschaften. Eine nahezu lähmende Wirkung kann sie auf die soziale Bewegung haben und die Radikalität der Proteste gegen Sozialabbau in Deutschland deutlich schmälern.

Ablehnung der PDS nicht dauerhaft haltbar

Auch die ablehnende Haltung gegenüber der PDS wird sich nicht dauerhaft bewahren lassen, will man ernsthaft Politik betreiben. Wenn die Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit wirklich in den Bundestag zieht, wird sich die Rhetorik der neuen, alten Genossen und Genossinnen wenig von der SPD-Sprache unterscheiden. Auch sie werden zum Fenster hinaus reden. Auch sie werden Fehler machen und sie bereuen.

Auffällig schnelle bundesweite Mobilisierung

Es ist erstaunlich, wie viel sich in den letzten Monaten getan hat. Es ist schon schwer nachvollziehbar, wie sich in so kurzer Zeit so viele Ortsgruppen in so verschiedenen Regionen bilden konnten. Fanden da reguläre Gewerkschafts- und Parteigruppentreffen einfach unter dem Titel "Gründungstreffen der Wahlalternative" statt? Gab es dafür Anweisungen und Richtlinien von "oben"?Leicht vorstellbar, bei der hierarchischen Struktur deutscher Parteien und Gewerkschaften.

Fazit: Utopielosigkeit ist keine Realpolitik

Man kann der Gründung der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit e.V. bis jetzt gleichviel Gutes und Schlechtes abgewinnen. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Gruppe medial präsentiert und wie sie dargestellt wird. Eine Partei lebt von der Aktivität und dem Aktionismus ihrer Mitglieder. Sie fügt sich ein in das Nullsummenspiel der Politik, die den vorgegebenen Meinungskorridor nicht verlassen wird. Man sollte abwägen, was man von einer Wahlalternative erwarten kann und was nicht. Dieser junge Verein hat das Zeug, eine Partei zu werden, vielleicht auch eine Alternative zu anderen "Anbietern auf dem Politikmarkt". Bis jetzt fehlt ihr jedoch jeder progressive Ansatz. Ihr mangelt es an Utopien. Gerade solche utopischen Ziele verkörpern mehr Realpolitik als das, was Parteifunktionäre unter Realpolitik verstehen. Wie will man weit kommen, wenn man seine Ziele so niedrig ansetzt?
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Ergänzungen

Aritkel

artikel 06.07.2004 - 16:31
„Initiative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“

Eine neu aufgelegte Sozialdemokratie – das hat gerade noch gefehlt


 http://www.de.indymedia.org/2004/07/87033.shtml

Artikel der letzten Tage zur Linkspartei

Max 06.07.2004 - 18:04
Pressekonferenz der "Wahlalternative" in Berlin (Bericht vom Sonntg mit Fotos)
 http://de.indymedia.org/2004/07/86956.shtml

Clement und die Linkspartei
 http://de.indymedia.org/2004/07/87000.shtml

2 Kommentare:
 http://de.indymedia.org/2004/07/86981.shtml
 http://de.indymedia.org/2004/07/86984.shtml

Audio-Kommentar zur Wahlalternative
 http://de.indymedia.org/2004/07/87015.shtml

Nichtwählen ist sexy

Meinungskorridor 06.07.2004 - 22:20
Wieviel Parteien müssen noch gegründet werden, bis die Wähler entdecken, nicht die Wahl zwischen den Parteien, sondern die Wahl zwischen Wählen und Nichtwählen, entscheidet die Wahlen?

Gewerkschaften outen sich endgültig

Ana 07.07.2004 - 02:48
Nach der "Aussprache" zwischen Gewerkschaften und SPD beschlossen die Gewerkschaften künftig nicht mehr die Regierung zu kritisieren, daß die Gerwerkschaftsbosse Angst vor ihren Posten und ihrer Macht haben. Die Interessen der Arbeiter spielen künftig keine Rolle mehr.

Zitate aus  http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,307455,00.html

"Selbst der lauteste Kritiker, Ver.di-Chef Frank Bsirske, gab nun klein bei. In einem Interview des Magazins "Stern" trat er am Dienstag Vermutungen entgegen, er wolle auf einen Sturz des Kanzlers hinarbeiten."

"Überraschend kündigte Bsirske zudem an, künftig auf Forderungen nach Korrekturen an bereits beschlossenen Reformen zu verzichten. "Es nützt ja nichts, immer wieder danach zu rufen, wenn die Verantwortlichen sagen, sie hielten eisern daran fest." Man müsse jetzt "nach vorne schauen"."

Wenn Nichtwählen etwas ändern würde ...

Lutz 07.07.2004 - 18:45
Wenn Nichtwählen etwas ändern würde, wäre es verboten.

Die Propagierung des Wahlboykotts ist m.E. aus mehreren Gründen falsch:

1. Der Aufruf zum Nichtwählen erweckt genau wie der zur Wahlteilnahme den Eindruck, bei Wahlen würden die zentralen Fragen der Gesellschaft entschieden. Werden sie aber nicht. Deshalb kann ein Wahlboykott auch kein vernünftiger systemkritischer Ansatz sein.

2. Die politische Praxis zeigt, dass international Wahlboykotte selten etwas bewirkt haben. Das gilt auch für WAhlen, bei denen ganze Oppositionsbündnisse zum Boykott aufgerufen haben und nur 30 % zur Wahl gegangen sind. In der Bundesrepublik heute ist Wahlboykott weder in wahrnehmbaren Massen durchsetzbar, noch öffentlich als politische Entscheidung zu vermitteln.

Daher sollte m.E. ein prakmatischer Umgang mit Wahlen erfolgen. Wenn dadurch die Arbeitsbedingungen für linke Projekte verändert oder ein Podium für linke Politik geschaffen werden kann, sollte man das auch nutzen. Allerdings sollte man sich über die Möglichkeiten und GRenzen nichts vormachen.

Wenn Phantasielosigkeit zum heulen ist, ....

Für Lutz von Lutzi 08.07.2004 - 00:12
Wenn Phantasielosigkeit zum Heulen ist, wärst Du längst ertrunken.


Schade, lieber Lutz, Du bist zwar gerade in den Gully gerutscht, aber ich hole Dich da wieder raus.

Sagt Dir eigentlich der Name James Boycott (1832-97) was? Richtig, das hört sich so nach boykottieren (to boycott) an. Als wir in Irland das Jahr 1880 schrieben, wagte es der genannte Kapitän James B. als Verwalter eines Pachtgutes im westirischen Mayo, sich der Agitation der irischen Landliga zu verweigern und beutete seine Bauern in gewohnter Weise aus. Daraufhin wurde er der gesellschaftlichen Isolierung preisgegeben. Die Landarbeiter und Dienstboten mieden ihn, ebenso wie die Kaufleute. Der Ächtung in allen Lebensbereichen konnte er nicht lange wieder stehen. Es wurden zwar Truppen zu seinem Schutz aufgeboten, aber bald gab er auf und verschwand. Zurück blieb seine Namen für eine denkbar einfache Kampfform des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Protestes. Was gegen einen Einzelnen im Guten wie im Bösen oft sehr erfolgreich ist, man erinnere nur an das nebelhafte Mobbing, lässt sich nicht so einfach auf den Kampf gegen mächtige gesellschaftliche Gruppen, Strukturen oder Erscheinungen übertragen. Dennoch hat ihn die frühe Arbeiterbewegung mit Erfolg angewendet, den Boykott, als Instrument des Klassenkampfes. Erinnert sei nur an den Bierboykott in Berlin 1894, als in der ganzen Stadt zehntausende Arbeiter von der damals noch antikapitalistischen sozialdemokratischen Boykottkommission unter Führung von Paul Singer geleitet, monatelang kein Bier der Ringbrauereien, einem Zusammenschluß der Bierunternehmer, tranken, weil eine Brauerei 300 Böttcher, die den 1. Mai feierten, kurzerhand entlassen hatte. Zwar ist dieser Kampf als Kompromiß beendet worden, aber den Kapitalisten saß der Schrecken tief in den Gliedern und in den Dividenden, denn der Umsatz ging erheblich zurück. Die Boykottkommission kontrollierte die Kneipen und auch zahlreiche Schankwirte standen auf Seiten der Arbeiter, ihren Hauptkunden.
Boykotts sind seither eine gefährliche Waffe. Das erkannte schon die kaiserliche Justiz und stellte ihn bezeichnenderweise als „groben Unfug“ unter Strafe. Kriminalisiert und mangels einer organisatorischen oder besser informellen Basis, die er wohl irgendwie braucht, geriet er dann gegenüber Streiks, die für Kapitalisten, wie für reformistische Gewerkschafter besser kontrollierbar sind, etwas in den Hintergrund. Aber „Kauft nicht bei Juden“, da ist er wieder, der Boykott, nunmehr auf der falschen Seite 1933. Die afroamerikanische-antirassistische Bewegung nutzte Boykotts sehr erfolgreich. 1955 begann in Montgomery/Alamaba der Busboykott. Er war die Geburtsstunde der Bürgerrechtsbewegung und auch wenn sie noch nicht gesiegt hat, ein Erfolg war sie allemal. Manchmal sehen wir Fluggis mit Boykottaufrufen gegen Coca Cola oder andere extrem profitsüchtige Kraken. Ich trinke keine Coca, auch wenn die davon nicht untergehen wird, aber das liegt nicht an mir, sondern an meiner wirtschaftlich-medialen Machtlosigkeit. Bei Wahlen kann sich das schnell ändern. Ein Wahlboykott kostet den Leuten nichts, aber den Politikern alles. Während sich die Nichtwähler, wenn sie denn 80 % wären, zufrieden zurücklehnen könnten, würde die Politelitenkaste unheilbar verwundet sein. Denn Wahlen sind nun mal der heilige Gott, das Symbol, der Fetisch der Demokratie. Wenn sie beschädigt würden, würde das gesamte System ins Wanken geraten. In welche Richtung es dann fällt, kann ich im Moment auch nicht sagen, aber ist es nicht eine schöne Utopie all unsere Politiker von Gysi über Ströbele, Fischer, Kanzler Gelegentlich, Stoiber, Schill usw. wie Möllemann im freien Fall zu sehen. Niemand könnte sich mehr legitimieren. Sie wären alle wieder Menschen, wie Du und ich. Die Weltgeschichte könnte von vorne beginnen. Nennen wir es Anarchie. Was spricht dagegen. Das Einfache, das so schwer zu machen ist. Schwer? Schwerfällig muß man eigentlich nur sein, nicht hingehen, nicht mitmachen, nicht mitspielen. Einfach den Sommerschlussverkauf verpassen. Das soll schwer sein? Es ist nicht schwer. Deutschland, wie alle westlichen Länder liegen im Bereich der kritischen Masse. Die Menschen haben sich längst von den Parteien gelöst. Sie lösen sich von Ideologien, Göttern, Idolen und Hoffnungen. Die Halbwertzeiten im politischen Alltag sinken. Aber die Einschaltquoten steigen. Scharlatane, Schills, Wunder von Bern bis Otokrates haben Konjunktur. Auf der Titanic spielt die Kapelle noch heute. Weltuntergänge, und Revolutionen sind so etwas, kann man weder organisieren noch vorhersagen. Wirkliche Revolutionäre und Prakkmatiker, wie Du Lutz, glauben nicht an Revolutionen, sondern an das Machbare. Dem steht eigentlich nur die Gewohnheit entgegen. Wir haben uns gewöhnt, den Zettel zu falten. Die Mächtigen nehmen das wohlwollend zur Kenntnis. Alles andere ist verboten. Sicher, in Diktaturen, wie der DDR, kam das besonders deutlich zum Ausdruck, aber in der sinnentleerten Demokratie von heute ist das nicht anders, nur verschleiert. In der DDR war deshalb Boykotthetze, d.h. gegen die dortigen „demokratischen Verfassungsorgane“ zum Boykott aufzurufen nach Artikel 6 der Verfassung verboten. In Belgien ist heute Nichtwählen verboten, d.h. Wahlpflicht. In Deutschland wird in der politischen Kaste schon seit Mitte der 90er Jahre über eine Wahlpflicht nachgesonnen. Natürlich will man den mündigen Bürger nicht zu früh mit einem Wahlzwang schrecken, denn noch gehen 60-70 % zur Wahl. Aber was ist wenn diese größte politische Masse, die Nichtwähler, um 10 % zunehmen würde und die Wahlergebnisse, wie in den USA seit 50 Jahren, an die 50 % Wahlbeteiligung oder darunter drücken würde? Dies wäre ein Politikum, ein Zeichen der Krise, ein Makel des politischen Systems, ein Signal, dass Veränderung Not tut. Nur soweit sollten wir denken, wenn wir Antikapitalisten sind, nicht weiter, aber auch nicht kürzer. Wer aber, wie Du Lutz, sich mit denen pragmatisch einlassen will, wer mit denen Geschäfte machen will, nach dem Motto: Ich bin zwar gegen Euch, aber wieviel zahlt ihr mir dafür? als Abgeordneter, für Projekte, als Almosen usw. dem wünsche ich natürlich viel Glück, auch wenn ich eingestehen muß, dass Du damit meinen Traum wieder um einige Jahre vor mir her schiebst, ohne dass Dir und mir geholfen wird.

Rehhagel???

Nobody Left 08.07.2004 - 20:28
Was ich noch vergessen habe zu schreiben: Wieso wird hier der Name Rehhagel ins Spiel gebracht?? Der Mann ist ein sehr guter Trainer (für bestimmte Mannschaften), aber schon jahrelang CDU-Wähler (und sogar Mitglied??) und wohl eher nicht "links" gesinnt.

analyse oder sektenscheiße

L.T. 09.07.2004 - 03:38
es ist korrekt auch die gegenwärtigen beschränktheiten der wasg zu formulieren. wobei ich der meinung bin, dass du das nicht machst. vielmehr entwickelst du in deiner langweiligen wortwahl eine extrem sektiererische haltung zur wasg, ohne zu kapieren, was daran ausdruck einer fortschrittlichen entwicklung und wie diese "bewegung" auch gleichzeitig ausdruck ihrer eigenen beschränktheit ist.

du ignorierst die tatsache, dass bewegungen nicht schon revolutionär "auf die welt kommen", sondern aus ihren erfahrungen und durch ein wechsel von schlägen und rückschlägen zu revolutionären schlussfolgerungen kommen.
zu behaupten, wasg sei keynesianistisch und damit im endeffekt auch probürgerlich ist richtig, und muss auch kritisiert werden. heißt die konsequenz für dich denn nun: das kann sich nur in eine richtung entwickeln, nämlich nur rein ins bürgerliche lager? heißt das wiederum in der konsequenz, da sollte man als linke/r nicht hingehen? sind da nicht leute, die auch grundlegende veränderungen erkämpfen wollen? und nutzt es gar nix dort argumentativ die begrenztheit der idee, man müsste nur die "spd von früher" wieder aufbauen, darzustellen? sind alle 20tausend unterstützerInnen bürgerliche keyesianisten, die dem kapital durch die krise helfen wollen?

ich bin der meinung, dass da der sektierertum anfängt, wo "radikale", entwicklungen von aussen kommentierend, nur an ihrem revolutionären inhalt messen. ist eine´bewegung oder struktur nicht sofort revolutionär ist es in letzter instanz probürgerlich. das ist aber falsch. so wirst du immer alleine bleiben, du und deine handvoll mitstreiterInnen, die sich wahrscheinlich "undogmatisch(e linke)" nennen. aber nur alleine fühlen sich so hobbyrevoluzzerInnen am wohlsten. ihnen geht es nämlich vor allem darum, dass sie "ganz anders" sind "als die anderen". und das ist doch toll genug.

in wirklichkeit muss man vor allem davon ausgehen, dass bewegungen und strukturen kommen und gehen werden, bis es DIE revolutionären bewegungen und strukturen geben wird. und man muss entwicklungen in einem prozess sehen. es ist eigentlich ganz einfach. es gibt auf der politischen ebene ein totales vakuum auf der linken. immer mehr menschen sehen ihre interessen nicht vertreten. mit dieser wasg wird zumindest schonmal ein schritt in die richtung unternommem, dieses vakuum zu schließen.
das ziel dieser wasg (bisher) ist beschränkt, aber dennoch ein fortschritt, weil es die totale umkehrung der politik der letzten jahre vorsieht. also, noch ein weiterer schritt.
es kann dazu führen, dass die gewerkschaften mit der spd endlich brechen und ihr endlich wirklich den kampf ansagen, was ein weiterer schritt wäre.
ausserdem darf man nicht unterschätzen, wieviel konfliktpotenzial das jetzt schon hat. während jetzt die arbeitslosen in die totale verelendung gedrückt werden und die 50stunden-woche diskutiert wird, würde eine wahrnehmbare kraft wie die wasg schon mit einer forderung wie "rücknahme der praxisgebühr", für sehr viel wirbel sorgen. die angriffe von seiten der medien und der herrschenden könnte die wasg schnell radikalisieren.

der letzte punkt ist, dass sektierer wie du kein vertrauen in die intelligenz der normalen menschen haben. du glaubst doch, dass die wortführer der wasg ankommen können, einen teil der wütenden menschen hinter sich scharen, um so ihre karriere zu machen. in wirklichkeit wissen aber viele, dass es auch an ihnen selbst liegt, was aus so einer nummer wie der wasg wird. auch an dir übrigens. es ist deshalb wichtig und richtig als linke/r den prozess der wasg mit zu gestalten, um linke, anti-kapitalistische und revolutionäre ideen zu thematisieren, aber auch vorzuschlagen, dass es sich bei der wasg nicht nur um eine wahlalternative handeln darf, sondern vor allem um eine kampfalternative.

es wäre eine ganz andere frage, würde die wasg in einer zeít gegründet, in der die revolutionären aufstände gerade toben, die massen das system stürzen wollen, und die wasg dann mit einem keyesianistischen programm auf die nächste wahl vertrösten will. das wäre sicherlich kein fortschritt.
aber das kannst du nicht verstehen. du siehst die entwicklung zu einer revolutionären bewegung aus der sicht einer absolut objektiven instanz (glaubst du), und gehst an so eine frage wie mit einer checklist heran, also total schematisch, statt in ihren prozessen, inneren widersprüchlichkeiten und bewegungen.

philosophen haben die welt nur verschieden interpretiert. es kommt aber darauf an sie zu verändern. (marx)

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