18 Jahre nach der Tschernobyl-Katastrophe

Jens Steiner 27.04.2004 00:20 Themen: Atom Weltweit Ökologie
Nicht im Garten spielen! Runter vom Spielplatz Keine Pilze und kein Gemüse essen!
An solche oder ähnliche Warnungen können sich noch viele der heute Zwanzig- bis Dreissigjährigen entsinnen. Heute vor 18 Jahren ereignete sich in der ehemaligen UdSSR im Atomreaktor Tschernobyl Block-4 eine katastrophale Kernschmelze und Explosion.Auch 18 Jahre nach der Katastrophe ist die Unfallursache nicht vollends geklärt. Nicht nur in vielen Städten in Belarus, Russland, der Ukraine und Polen wurde in den letzten Tagen den über hunderttausend Opfern des Reaktorunfalls gedacht. Den Auftakt bildete ein Gottesdienst in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, der um 1:23 Uhr Ortszeit stattfand, dem Zeitpunkt der Explosion im vierten Kraftwerksblock. Auch am Tschernobyl-Mahnmal fanden Gedenkveranstaltungen statt.
Auch in Deutschland kam es zu Protestaktionen gegen Atomkraft. Der Reaktorunfall von Tschernobyl gilt als die schlimmste Katastrophe in der Geschichte der Atomkraft.

Aktuelle Berichte:
Während in Deutschland vom Bund für Naturschutz vor einem erhöhten Risiko für die EU durch veraltete Reaktoren in den neuen Beitrittsländern warnt, wurde heute in Kiew der Bau eines neuen Atomkraftwerks angekündigt. Man habe aus Tschernobyl gelernt, hiess es im Energie-Ministerium.

Protestaktion gegen Atomkraft der Gruppe ecodefense in Moskau.
Foto: Alica Nikulina, ecodefense

Baufehler und Fehlentscheidung

Im Allgemeinen geht man von einem Baufehler am RBMK-Reaktor und Bedienungsfehlern während eines Experiments als Ursache für die Katastrophe im April 1986 aus.Während des Experimentes sollte geprüft werden, ob die interne Stromversorgung auch dann gesichert ist, wenn die externe Stromversorgung ausfällt. Normale Konsequenz dessen wäre Reaktor-Notabschaltung, die mit der Aktivierung der Notstromversorgung verbunden wäre.Ob die Hauptturbine noch lang genug Strom erzeugen konnte, bis nach etwa einer Minute die Aggregate einsetzen sollten, ist fraglich.Die Leistungsminderung verursachte die Ansammlung des Neutronen-absorbierenden Stoffes und Reaktorgifts Xenon-135, da bei der Kernspaltung erzeugtes radioaktives Iod-135 zu Xenon-135 immer weiter zerfiel.Der Ausfall trieb das Personal dazu, die Leistung des Reaktors wieder hochzufahren. Man entfernte mehr sogenannte Moderatorstäbe aus dem Reaktor als zulässig. Ein stabiles Betreiben des Reaktors war nun nicht mehr möglich. Das nukleare Feuer brannte nun ungleichmässig. Kühlmittel wurden zugeführt und die Durchschnittstemperatur sank.

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Protestaktion gegen Atomkraft der Gruppe ecodefense in Moskau. Der Energetik eine atomfreie Zukunft, steht auf dem gelben Transparent.
Foto: Alica Nikulina, ecodefense

Schließlich wurde der Test gestartet, indem die Ventile zur Generatorturbine geschlossen wurden. In der Folge sank die Stromproduktion der Hauptturbine wie geplant, was wiederum zur Folge hatte, dass die vier für den Test geschalteten Kühlmittelpumpen weniger Wasser pumpen konnten, da der Notstrom nicht sofort bereit stand. Zwar arbeiteten vier nicht am Test beteiligte Kühlmittelpumpen weiter, dennoch kam es aufgrund der oben genannten Instabilitäten an den Stellen im Reaktor mit der höchsten Aktivität zur Überhitzung, so dass das Kühlwasser in den Kühlrohren verdampfte. Da Wasser in gewissem Maß Neutronen absorbiert und somit die Kernreaktion bremst, wurde durch das Verdampfen die Aktivität in den ohnehin schon überhitzten Bereichen weiter gesteigert.

Durch verdampftes Wasser und verringerte Neutronenabsoption wurde eine verstärkte Kettenreaktion ausgelöst. Eine Kettenreaktion wurde in Gang gesetzt. Der Reaktor wurde abgeschaltet. Steuerstäbe liess man zum Teil in den Reaktor einfahren. Doch dadurch wurde die Leistung des Reaktors für kurze Zeit erhöht. Die Reaktoraktivität erreichte nach wenigen Sekunden das Hundertfache des Normalbetriebs. Der Überdruck löste eine Druckwelle aus. Ein mehr als 1000 Tonnen schwerer Betondeckel wurde hochkatapultiert und blieb aufrecht stehen. Eine zweite Explosion folgte, Wasserstoff, der sich in einer Reaktion von Wasser und Graphit bildete, verpuffte.
Radioaktivität wurde in grossen Mengen freigesetzt. Flüchtiges Iod-131 und Cäsium-137 gerieten an die Luft und wurden als radioaktive Wolke über viele tausend Kilometer über die Erde. In der Nähe des Reaktors schlugen sich staubförmige radioaktive Metalle nieder.Die Wolke zog Richtung Westeuropa. Besonders die damalige BSSR, heute Belarus und die VR Polen waren betroffen.
Quelle: wikipedia.org


Gepanzertes Fahrzeug vor evakuiertem Holzhaus, unweit des Unglücksreaktors. Quelle: fcdnet.org

Gorbatschows Nachrichtensperre

Die damalige Sowjetregierung unter Michail Gorbatschow verhängte in der gesamten Sowjetunion eine Nachrichtensperre zur Katastrophe. Erst einige Tage nach Beendigung der Feierlichkeiten zum 1. Mai wurde ein Fehler im Betriebsablauf des Kraftwerks an der belorussisch-ukrainischen Republiksgrenze zugegeben. Währenddessen wurden Sowjetbürger aus verschiedenen Teilrepubliken zu sogenannten Dienstreisen in die Ukraine abgeordnet. Das genaue Ziel und Aufgabengebiet blieb ihnen meist unbekannt. Sie wurden u.a. zur Errichtung des Sarkophags um den Reaktor eingesetzt. Auch heute sind dort Bauarbeiter tätig, die einen weiteren Mantel errichten. Rund 800.000 Menschen mussten sich nach Schätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als sogenannte "Liquidatoren" an den Aufräumarbeiten nach der Katastrophe in Tschernobyl beteiligen. Schätzungsweise 50 000 von ihnen sind bislang an Strahlenschäden bzw. Suizid gestorben. Dies berichtet der Verein Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Die Gefahr wurde von den örtlichen Rettungsdiensten unterschätzt.Nach dem Unfall wurden 203 Menschen ins Krankenhaus eingeliefert. 31 starben.135.000 Personen wurden evakuiert. Allein 45.000 von ihnen stammten aus der Stadt Pripjat in der Nähe des Reaktors gelegenen Stadt Pripjat.
Allein in der Ukraine sind bis heute 30.000 Menschen an den Folgen der Tschernobyl-Katastrophe gestorben.
Besonders in Belarus stieg seit 1987 die Zahl der Schilddrüsenerkrankungen. Schilddrüsenkrebs benötigt teilweise 15 Jahre bis zum Ausbruch, so dass jetzt viele damals Neugeborenen und Kleinstkinder heute darunter zu leiden haben.


Rummelplatz in einer seit 18 Jahren toten Stadt in der Nähe des Kraftwerks. Foto: fcdnet.org

Tschernobyl-Folgen im Westen

Auch im Westen gibt es nachweislich gesundheitliche Effekte nach Tschernobyl. Zahlreiche Untersuchungen wurden durchgeführt, um den möglichen Einfluss auf Geburtsanomalien und auf die Perinatalsterblichkeit zu erforschen. Allein in Deutschland starben vermutlich mehrere hundert Kinder vor, während oder nach der Geburt aufgrund der Strahlenbelastung durch Tschernobyl. Schilddrüsenkrebs, trisomie 21 und Säuglingssterblichkeit sind die häufigsten Folgen. Dies geht aus einer Studie von Edmund Lengfelder und Christine Frenzel aus dem Jahr 2001 hervor.

Drei Jahrzehnte vor Tschernobyl kam Mayak

Bereits 1957 kam es mitten im Ural, im Chemiekombinat Mayak in Tscheljabinsk zu einer Explosion, bei der radioaktive Stoffe freigesetzt wurden. Auch diese Katastrophe wurde von der Sowjetregierung nicht öffentlich gemacht.

Die Atomlobby und deren Informationspolitik

Für die Internationale Atomenergiebehörde IAEA gibt es keine Todesopfer und Erkrankungen, die auf die Strahlenbelastung von Tschernobyl zurückzuführen wären. Die IAEA hat satzungsgemäß die Aufgabe, die Atomenergie zu fördern. Ein Vertrag mit der Weltgesundheitsorganisation WHO hindert diese an einer unabhängigen Erforschung und an der Aufklärung der Öffentlichkeit über die Folgen von Tschernobyl.

"Natürlich lassen sich Fehler nicht absolut ausschließen. Trotzdem garantieren wir heute die Sicherheit der Reaktoren. Wir garantieren auch, dass, falls es doch aus irgend einem Grund zu einer Havarie kommt, diese weder zur Evakuierung der Bevölkerung noch zu anderen Konsequenzen, die Leben und Gesundheit der Menschen beeinträchtigen, führt. "
Jewgeni Welichow, Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften

Karte von Tschernobyl


Chemische Dusche zur Reinigung von radioaktivem Staub. Foto fcdnet.org
aktuelle Fotos aus Tschernobyl

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Artikel zum Thema auf Indy.de

Aktionen zum 16. Tschernobyl-Jahrestag
Aktionen zum 17. Tschernobyl-Jahrestag
Ausnahme Tschernobyl: Indy-Artikel vom 27.04. 2003
Tschernobyl-Tag Demo in München am 24. April 2004
Tschernobyl-Tag in Münster
Moskau: Proteste zum 18. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe

Links zum Thema

Veröffentlichungen der Gesellschaft für Strahlenschutz
15 Jahre Tschernobyl: Folgen und Lehren der Reaktorkatastrophe (Word-Dokument, ca. 224 kByte)
Gesundheitliche Folgen der Atomenergie
Sicherheitsdefizite der Atomenergie
Siemens und Atomenergie, Siemensbykott
Atom-Recht
Informationen zur Atom-, Friedens- und Sozialpolitik
Antiatom.ru
Ecodefense.ru

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Ergänzungen

Fotoreportage von Tschernobyl

Besserwisser 27.04.2004 - 00:36
Klasse Fotoreportage über den Zustand des Gebietes in unmittelbarer Nähe des Reaktors.
Einige Fotos wurden glaube ich schon im Artikel verwendet.
Aber auf alle Fälle sehenswert:

 http://www.angelfire.com/extreme4/kiddofspeed/

BUND :)

Jörg 27.04.2004 - 12:36
Der Verband, heißt übrigens "Bund für Umwelt und Naturschutz in Deutschland e. V." (B.U.N.D.  http://www.bund.net) und nicht "Bund für Naturschutz". Das nur als Anmerkung. Inhaltlich sehr guter Artikel.

mehr Fotos

briks 27.04.2004 - 23:07
Hier gibt es einen Bericht und viele hochwertige Fotos von einem Trip in die Region vom März 2002:
 http://www.gsc-game.com/index.php?t=press&s=press_rel&ss=6
(alle Fotos als ZIP-Archiv:  http://www.gsc-game.com/downloads/chernEng.zip )

Ziel des Ausflugs war die Gegend kennenzulernen um sie für ein Computerspiel möglichst genau nachzubilden.

keine ergänzung, nur grüße

bruder 28.04.2004 - 11:21
hey steiner,

schönet ding...

b&k