Kritik des Bolschewismus (mp3)

Offene Antifa Münster (OAM) 19.04.2004 14:35
Im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Gesellschaft im Widerspruch" referierte im Münster am vergangenen Samstag der seit den 1930er Jahren in der rätekommunistischen Bewegung Hollands aktive Cajo Brendel über die Kritik des Bolschewismus aus rätekommunistischer Perspektive. Hier gibt's den Vortrag als mp3 sowie das Einführungsreferat als Text.
"Innerhalb der genossenschaftlichen, auf Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründeten Gesellschaft tauschen die Produzenten ihre Produkte nicht aus; ebensowenig erscheint hier die auf Produkte verwandte Arbeit a l s W e r t (Sperrdruck im Original) dieser Produkte, als eine von ihnen besessene sachliche Eigenschaft, da jetzt, im Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft, die individuellen Arbeiten nicht mehr auf einem Umweg, sondern unmittelbar als Bestandteile der Gesamtarbeit existieren." (Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, S. 24/25)



"...weder die Verwandlung in Aktiengesellschaften noch die in Staatseigentum, hebt die Kapitaleigenschaft der Produktivkräfte auf [...]. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter [...], das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitze getrieben. [...] Das Staatseigentum an Produktivkräften ist nicht die Lösung." (Engels, MEW Bd. 20, S. 260)



Cajo Brendel: Der Un-Sinn von Staat und Partei - Kritik des Bolschewismus aus rätekommunistischer Perspektive:



 http://oam.antifa.net/archiv/vortraege/brendel.mp3 (42 min., ca. 14 MB)



Das Einführungsreferat

Offene Antifa Münster (OAM): Zum Bolschewismus



Über die Toten soll man bekanntlich schweigen - Das gilt, so wie es den Anschein hat, für die klassische Arbeiterbewegung besonderer Art und Weise. Nachdem das Projekt, das einst mit dem Anspruch der Abschaffung aller Klassenverhältnisse auf der Weltbühne erschien, an seiner eigenen Praxis zugrunde ging, spukt es lediglich noch als "Ungeist" durch die politische Landschaft. Der eine Epoche beendende, fulminante Zusammenbruch der SU aber lebt fort: Der bürgerlichen Welt gereicht er einerseits zur eigenen Identifikationsstiftung, mit dem sich NS-Faschismus und Sowjetunion vermittels der Totalitarismusthese als diktatorische und menschenverachtende Regime auf eine Stufe stellen lassen. Und die Linke andererseits, die radikale zumal, versucht, das begriffliche Erbe der marxschen Kritik entweder zu leugnen, zu verdrängen oder abzuschütteln. Während die sich selbst als kommunistisch oder leninistisch deklarierenden Parteien so fortfahren wollten, als hätte sich der Globus seit 1918 nicht weiter gedreht, will neue Linke den Wahrheitsanspruch des Marxismus in der subjektivistischen Beliebigkeit eines postmodernen Kommunismusbegriffs auflösen, wie es zuletzt im Rahmen des „Indeterminate Kommunismus-Kongress“ in Frankfurt zu bestaunen war. Die Gemeinsamkeit dieser beiden innerlinken Strömungen, sich entweder durch oberflächlichen Dogmatismus oder kleinbürgerlich- studentischem Habitus auszeichnend, zeigt sich im Bedürfnis, eine reflektierte Auseinandersetzung mit dem historisch-wirksamen Kommunismus auszuklammern. Dies mag der Anschlussfahig- und Anschlusswilligkeit an den herrschenden Zeitgeist geschuldet sein - zur Klärung der Frage, wie die Zukunft der allgemein- menschlichen Emanzipationsbewegung aussehen kann, trägt dies nichts bei.



Unsere Auseinandersetzung mit dem geschichtlich-einflussreichstem Teil der klassischen Arbeiterbewegung - dem Bolschewismus - soll einem Seziermesser gleichen, das einen verschiedenen Corpus zerlegt. Wir wollen an ihm nichts retten, da es nichts zu retten gibt. Von seiner inneren Logik her war er nie in der Lage, über die Formen bürgerlichen Denkens hinauszukommen. Staat und Politik galten ihm als überhistorische Wahrheiten. Lenin kritisierte daher in „Staat und Revolution“ lediglich den bürgerlichen Charakter des Staates - der Staat als solcher bleibt unangetastet, und gilt in sozialistischer Form gar teleologisch das letzte Ziel der Entwicklung. Die Organisationsform der Partei bewegte sich dabei stets in dem durch bürgerliche Politik gesetzten Rahmen: Was sich in der Theorie als „revolutionäre Diktatur des Proletariats“ (MEW Bd. 19, S. 28) definiert, war praktisch nicht mehr als die unmittelbar- gewaltförmige Übernahme der politischen Herrschaft in Gestalt eines radikalen Sozialdemokratismus. Die Anarchie des Marktes und die Despotie der Fabrik (vgl. MEW Bd. 23, S. 377) gelten nicht als zwei notwendige Formen des Kapitals in Produktions- und Zirkulationssphäre, sondern als „gute Seite und schlechte Seite, als Vorteil und als Nachteil“ (MEW Bd. 4, S. 131). So sahen die Bolschewiki in der Kriegswirtschaft des dt. Kaiserreichs im 1. Weltkrieg eine wahre „Bedarfswirtschaft“, und Lenin wusste zu dem Thema bekanntermaßen zu sagen:



„Ein geistreicher deutscher Sozialdemokrat der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bezeichnete die Post als Muster sozialistischer Wirtschaft. Das ist durchaus richtig. Gegenwärtig ist die Post ein Betrieb, der nach dem Typ des staatskapitalistischen Monopols organisiert ist. Der Imperialismus verwandelt nach und nach alle Trusts in Organisationen ähnlicher Art... der Mechanismus der gesellschaftlichen Wirtschaftsführung ist hier bereits vorhanden. Man stürze die Kapitalisten, man breche mit eiserner Faust der bewaffneten Arbeiter den Widerstand dieser Ausbeuter, man zerschlage die Maschinerie des modernen Staates – und wir haben eine von dem 'Schmarotzer' befreiten technischen Mechanismus vor uns, den die vereinigten Arbeiter sehr wohl in Gang bringen können.“ (Lenin, Staat und Revolution, S. 53)



Hier wird aus einem angeblich orthodoxen Marxismus die reine „Philosophie des Elends“ eines Pierre-Joseph Proudhon: Die gute Seite der Ökonomie ist zu bewahren, die schlechte zu beseitigen. Der positiven technischen Organisation kapitalistischer Produktion wir die negative marktmäßige Distribution antithetisch entgegengestellt. Ihre dialektische Bestimmung durch das Kapitalverhältnis als solchem, wie die darin begründete Möglichkeit der Aufhebung wird nicht begriffen. So gilt es dem Bolschewismus, die Fesseln der Produktivkraftentfaltung dadurch zu zerschlagen, dass das Kapital einer politischen Herrschaftsinstanz untergeordnet wird, welche sich absolute Verfügungsgewalt über Produktionsmittel und Arbeitskraft aneignet, und dass diese sich, wie Marx sagte, als zentraler „Reserve- und Akkumulationsfonds“ (MEW Bd. 23, S. 553) gesellschaftlich- produzierten Kapitals konstituiert. Das ist Staatskapitalismus in reinster Form. (-> Pollock)



So leistete der Bolschewismus eines mit Sicherheit nicht: Die Abschaffung des Kapitals als einem gesellschaftlichem Verhältnis. Wesentlicher Gehalt dieses Verhältnisses ist nicht die Existenz der sich ihrer objektiven Lage bewussten sozialen Klasse des Proletariats (auf die historische Kontingenz dieser Annahme wies Ingo Elbe bereits hin), sondern die Existenz des Werts als allgemein- gesellschaftliche Vermittlungsform sowie dessen ausschließliche Gültigkeit im Produktions- und Distributionsprozess. Die wertförmige Vermittlung der gesellschaftlichen Beziehungen ist vom Menschen selbst produziert, erscheint aber als überhistorische, gar anthropologische Unausweichlichkeit. Sie wird dann notwendig, wenn vereinzelte Produzenten für den gesellschaftlichen Zweck - die Reproduktion der menschlichen Gattung - tätig werden, und sich der Gattungscharakter der individuellen Tätigkeit nicht unmittelbar manifestiert. Wie die Feuerbachsche Religionskritik den "Gott" des Christentums als Projektion entlarvte, so stellte Marx dar, dass die Denkformen der bürgerlichen Welt - Geld und Kapital, Staat und Recht - ihre reale Basis in den Verkehrsverhältnissen der Individuen haben. Vermittels Arbeitsteilung und Warentausch treten die als Privateigentümer verfassten Einzelnen in soziale Aktion. Zum einen konstituiert sich das Kapital als gesellschaftliches Verhältnis erst durch die Form ihrer gesellschaftlichen Produktion. Dies ist den Menschen dabei völlig unklar, denn Sie gehen vom Resultat aus: Das Selbstproduzierte erscheint als naturhaft, das Naturhafte als gesellschaftlich. Zum anderen konstituiert sich das Kapital als gesellschaftlichem Verhältnis eben durch die Individuen, denen ihr eigener, selbstproduzierter gesellschaftlicher Charakter in veräußerlichten Formen entgegentritt; In der Form des Werts ist die derart sich vollziehende Selbstveräußerlichung der Menschheit von ihrem Gattungsbegriff dargestellt. Marx zeigt die Möglichkeit der Überwindung der Verobjetivierung des Menschen von seinem gesellschaftlichen Charakter in doppelt- negativer Form auf: Im Begriff des Kommunismus.



Der Bolschewismus nun verdoppelte die gesellschaftlich- produzierte Verobjektivierung in ideologischer Form, und verriet somit den Kommunismus als allgemein- menschliche Emanzipationsbewegung noch einmal. Während die bürgerliche Revolution sich dadurch auszeichnet, dass die innerhalb der feudalen Gesellschaft entstandene, neue soziale Klasse ihre Verkehrsverhältnisse und Ideologieformen auf die alte Gesellschaft überträgt, und somit den Klassenantagonismus auf neuer Ebene zuspitzend reproduziert, hatte der Kommunismus der alten Arbeiterbewegung die Selbstaufhebung des Proletariats als Klasse (MEW Bd. 1, S. 391) zu leisten. Die Selbstaufhebung ist dialektisch zu begreifen, indem die Grundlage der Konstitution gesellschaftlicher Klassen überhaupt zu existieren aufhört. Genau dieses dialektische Moment fehlte, wie bereits skizziert, dem Bolschewismus. Stattdessen übertrug er die Verkehrsverhältnisse und Ideologieformen des Proletariats, Produkt kapitalistischer Vergesellschaftung, auf die Gesellschaft insgesamt. Anders gesagt: Sie wurde „proletarisiert“. Somit war die russische Revolution von ihrem Wesen her jakobinisch, proudhonistisch und bourgeois zugleich. Jakobinisch, weil unter der Ägide einer kleinen Elite, die für sich die Einsicht in die objektiven Bewegungsgesetze der Geschichte beanspruchte, die Gesellschaft in etwas transformiert werden sollte, für das ihr objektiv die Reife fehlte. Proudhonistisch, da der guten, ehrlichen proletarischen Arbeit das Schmarotzer-, Wucher- und Schachertum der Kleinbauern und -bürger unter der Parole „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ entgegengestellt wurde. Und schließlich bourgeois, da eine soziale Klasse sich die Gesellschaft nach ihrem eigenen Bilde schaffen wollte, anstatt die Konstitutionsmomente ihres Klassencharakters selbst aufzuheben.



Die Gruppe Internationaler Kommunisten Hollands formulierte bereits in den 1930er Jahren eine umfassende Kritik des russischen Staatskapitalismus. Sie kam zu dem vernichtenden Urteil, dass der Bolschewismus für das Ziel der freien Assoziation der Produzenten „nicht nur untauglich, sondern eines ihrer schwersten und gefährlichen Hemmnisse ist“ (Mattick/Pannekoek, Marxistischer Anti-Leninismus). Dies hat, bei einer kritischen Analyse der klassischen Arbeiterbewegung in kommunistischer Absicht, genauso als ewiges Vermächtnis zu gelten wie die Einsicht in die Tatsache, dass sich das Kapital nicht am eigenen Schopfe aus dem Sumpf herauszieht: Wir sind diejenigen, die aus dem Begriff der vernünftigen Einrichtung der Welt ihre Wirklichkeit hervorzubringen haben.



Weitere Termine der Veranstaltungsreihe:



Donnerstag, 22.04. // Fürstenberghaus Hörsaal F3, Domplatz 20

Der Kommunismus der Kritischen Theorie

Referent: Joachim Bruhn (ISF Freiburg)



Sonntag, 25.04. // Die Brücke, Wilmergasse 2

1968ff - Die schlechte Aufhebung der "antiautoritären Bewegung"

Referent: Jens Benicke (La Banda Vaga Freiburg)



Donnerstag, 06.05. // Cuba Kultur, Achtermannstraße

Das Ende der Antifa - Die Zukunft der Revolution

Podiumsdiskussion mit K&P Berlin und Antideutschen Kommunisten Berlin



Infos:  http://oam.antifa.net
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Ergänzungen

Kritik des Sowjetsystems

W. Buchenberg 19.04.2004 - 17:10

immerhin haben die von brendel und seinen

der nestscheißer 19.04.2004 - 18:00
großem vorbild otto pannekoek kritisierten "bolschewist/innen" (damit sind von mir nicht die stalin-jünger/innen sondern die in authentischer bolschewistischer tradition stehenden strömungen wie "trotzkist/innen", "brandlerianer/innen", etc. gemeint) anders als die rätekommunist/innen und bordigist/innen richtig erkannt, dass zwischen bürgerlich-parlamentarischen systemen und faschismus für die unterdrückten ein qualitativer unterschied besteht und dass es daraus abgeleitet unterschiedliche herangehensweisen gibt und dass anti-koloniale befreiungsbewegungen zu unterstützen und nicht mit den kolonialen unterdrückern gleichzusetzen sind.

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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nochmaaaal — münsta