Ageeb: Bericht vom 10. Prozesstag

Prozessbeobachtungsgruppe 18.03.2004 17:26
Am 10. Prozesstag stellte die Verteidigung der drei angeklagten BGS-Beamten eine Reihe weiterer Anträge, die von der Staatsanwaltschaft und vom Nebenklagevertreter als Versuch gewertet werden, den Prozess zu verschleppen.
Die Verteidigung befasst sich nochmals mit der Ablehnung des Befangenheitsantrages gegen die medizinischen Sachverständigen durch das Gericht und erhebt Gegenvorstellung. Zentrales Argument: Die hogtie-Stellung sei Thema der Hauptverhandlung gewesen. Das Gutachten der medizinischen Sachverständigen sei jedoch unvollständig gewesen, weil man sich mit der potentiellen Vorschädigung durch eine länger andauernde hogtie-Fesselung nicht auseinandergesetzt habe. Die Verteidigung beruft sich auf die US-Fachliteratur, die u.a. das Thema einer Lungenschädigung durch die hogtie-Fesselung als möglichen Faktor für das Entstehen einer späteren Atembehinderung nahe legt. Jedenfalls hätten sich die medizinischen Sachverständigen in keiner Weise mit der Frage auseinandergesetzt und ihr schriftliches Gutachten auf die Situation im Flugzeug beschränkt. Entsprechend dem wissenschaftlichen Schrifttum hätten sich die Sachverständigen mit mehreren Aspekten auseinandersetzen müssen: Delirium eventuell durch toxische Einwirkungen, Wirkung erhöhter Katecholaminausschüttung durch Vorfesselung und körperliche Auseinandersetzungen, weiteren Mechanismen der möglichen Atembehinderung.

Die Verteidigung beantragt des weiteren die Verlesung diverser Dokumente aus der Akte, darunter ein Amtshilfeersuchen des Kreises Pinneberg, das Protokoll einer Anhörung vor dem Amtsgericht Karlsruhe zur Verhängung der Abschiebungshaft, eines Abschiebungshaftantrages des Kreises Pinneberg, eines Verlängerungsantrages auf Abschiebungshaft durch den Kreis Pinneberg, einer einstweiligen Anordnung des Amtsgerichts Karlsruhe und eines Beschlusses des Amtsgerichts Karlsruhe zur Abschiebungshaft.

Die Verlesung der Dokumente werde u.a. ergeben, dass Ageebs Widerstandsbereitschaft gegen die Abschiebung bekannt war.

Die Verteidigung stellt weiter den Beweisantrag, die Krankenakte der Psychiatrie des Haftkrankenhauses Hohenasperg beizuziehen bzw. zu beschlagnahmen. Sie werde belegen, dass bei Ageeb psychische Störungen in Form einer "massiven Anpassungsstörung" und einer "Störung der Impulskontrolle" vorgelegen hätten. Die Verteidigung beantragt diesbezüglich ein Sachverständigengutachten zum Beweis der Gesundheitsschädigungen.

Des weiteren beantragt die Verteidigung die Vernehmung des Staatsanwaltes Möllers als Zeugen. Als Zeuge vernommen werde der Staatsanwalt bekunden, dass bestimmte Zeugen im Rahmen z.B. der Rekonstruktion des Tatverlaufes unprotokollierte Aussagen gemacht hätten.

Der Zeuge werde weiterhin bekunden, dass der medizinische Sachverständige bei der Tatortrekonstruktion bestimmte Äußerungen getan habe, wie zum Beispiel "das war noch nicht ausgereizt".

Die Schilderung der Rekonstruktion durch die medizinischen Sachverständigen sei schlicht falsch gewesen.

Die Verteidigung stellt weiter den Antrag, als medizinischen Sachverständigen Professor DR. B. von der Gerichtsmedizin Frankfurt am Main vernehmen zu lassen, aus Sicht der Verteidigung ein kompetenterer Sachverständiger.

In seiner Stellungnahme zu den Anträgen stellt die Staatsanwaltschaft zunächst die Frage in den Raum, warum der Antrag auf die zeugenschaftliche Vernehmung seiner selbst erst jetzt gestellt werde. Es dränge sich der Eindruck der Verschleppung auf. Zum Inhalt des Antrages werde er gegebenenfalls später Stellung nehmen.

Der Antrag auf die Vernehmung von Professor Dr. B. als eines weiteren medizinischen Sachverständigen sei abzulehnen, da sie nach dem bisherigen Ergebnis der Hauptverhandlung ohne Bedeutung sei. Die Tatsache, dass Dr. B. weitere Untersuchungen angeregt habe, die von der Münchener Gerichtsmedizin zum Teil auch durchgeführt worden seien, sei nicht geeignet, Zweifel an der Sachkunde des medizinischen Sachverständigen zu begründen.

Der Antrag auf Verlesung der Dokumente zum Vorverhalten Ageebs sei abzulehnen, da sie für die Entscheidung ohne Bedeutung seien. Die Angaben zu Ageebs Verhalten im Vorfeld der Abschiebung könnten im übrigen als wahr unterstellt werden.

Ebenso als wahr unterstellt werden könnten die Vorgänge im Zusammenhang mit der Einlieferung ins Haftkrankenhaus Hohenasperg und die Umstände der Behandlung. Ebenso ohne Bedeutung und daher abzulehnen sei der Antrag der Verteidigung auf die Vernehmung des mit dem Fall befassten psychologischen Fachpersonals.

Weiterhin nimmt der Staatsanwalt zur Gegenvorstellung der Verteidigung bezüglich der Ablehnung des Befangenheitsantrags gegen die medizinischen Sachverständigen Stellung. Sie sei zurückzuweisen. Das Gericht habe sich ausführlich mit der Frage der Befangenheit auseinandergesetzt. Eine weitergehende Befragung der medizinischen Sachverständigen wäre im übrigen im vorherigen Verlauf der Hauptverhandlung möglich gewesen.

Abschließend nimmt der Staatsanwalt Stellung zum Antrag, ihn in eigener Person als Zeugen zu vernehmen. Er stellt den Sinn dieses Antrags in Frage. Es hätte auch andere Personen gegeben, die bei der Tatrekonstruktion zugegen waren und geeignet gewesen wären zu klären, was die Verteidigung unter Beweis gestellt sehen wolle. Die Tatrekonstruktion sei auch nicht von zentraler Bedeutung, wie die Verteidigung im früheren Verlauf der Hauptverhandlung selbst betont habe. Sachverhalte, die die Verteidigung in sein Wissen gestellt habe, müssten seiner Vermutung nach vom Video der Tatrekonstruktion stammen. Falls er selber als Zeuge gehört werden solle, beantrage er, zuvor das Video erneut ansehen zu können. Selbstverständlich sei er bereit, als Zeuge auszusagen.

Der Vertreter der Nebenklage bemerkt, dass sich aus den Beweisanträgen bzw. dem späten Zeitpunkt, zu dem die Beweisanträge gestellt wurden, der Eindruck der Prozessverschleppung ergebe. Die Anträge seien abzulehnen. Insbesondere seien alle Zeugen da gewesen, die Sachverhalte hätten klären können, von denen die Verteidigung unterstelle, sie seien ungeklärt geblieben. Die Sachverständigenaussagen seien ausreichend gewesen. Die Anträge der Verteidigung seien abzulehnen. Dass Ageeb sich habe gegen seine Abschiebung wehren wollen, könne aufgrund von Aussagen in der Hauptverhandlung und Aktenlage als wahr unterstellt werden.

Die Verteidigung weist den Nebenklagevertreter darauf hin, dass ihr das Video von der Tatrekonstruktion erst während der Hauptverhandlung zugänglich gemacht worden sei. Bei den vorherigen Aktenseinsichtnahmen sei das Video nicht mit übersandt worden. Wenn sich nun vor dem Hintergrund des Videos wesentliche Sachverhalte anders darstellen, dann möge der Nebenklagevertreter zurückhaltend sein mit seiner Wertung, bei den Anträgen der Verteidigung handele es sich um Verschleppung. Hinsichtlich der Frage der Vorschädigungen Ageebs durch eine länger andauernde hogtie-Fesselung stellt die Verteidigung ihr Interesse am Thema dar: Bei Erregungszuständen, die im Fall Ageebs bereits vor der Verbringung ins Flugzeug vorgelegen hätten, gehe der Körper über die sonst üblichen Schranken hinweg. Dies ergebe sich auch aus der wissenschaftlichen Fachliteratur zur hogtie-Fesselung bzw. zum PA-Phänomen. Dieser Sachverhalt aber sei im Sachverständigengutachten ausgeblendet geblieben.

Die Sitzung wird für 1 ½ Stunden unterbrochen.

Nach der Sitzungspause teilt das Gericht mit, zunächst werde man dem Beweisantrag hinsichtlich des beantragten Verlesens der Schriftstücke, die die ausländerrechtliche Vorgeschichte der Abschiebung betreffen, entsprechen. Die weiter oben aufgelisteten Dokumente werden verlesen.

Die Entscheidung über die weiteren Anträge der Verteidigung wird zurückgestellt und auf den nächsten Sitzungstag verschoben.

Die Verteidigung stellt einen erneuten Ablehnungsantrag gegen den medizinischen Sachverständigen Dr. P. Sie bezieht sich dabei insbesondere darauf, dass der Sachverständige im Rahmen seiner Anweisungen zur Tatrekonstruktion Sachverhalte zugrunde gelegt habe, die zu diesem Zeitpunkt aus Zeugenaussagen noch nicht bekannt waren.

Nächster Verhandlungstermin (mit der entsprechenden Entscheidung des Gerichts über die gestellten Anträge): Montag, der 22. März 2004, 9 Uhr.

Die Dokumentation des Falles Ageeb und des ganzen Prozesses:
 http://www.aamir-ageeb.de
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Ergänzungen

Prozess gegen BGS im "Fall Ageeb"

ein Überblick 18.03.2004 - 23:50
DAS INDY SPECIAL
Prozess gegen BGS im Fall Ageeb
 http://de.indymedia.org//2004/01/72570.shtml

Ageeb: Bericht vom 9. Prozesstag
 http://de.indymedia.org//2004/03/76867.shtml

Ageeb: Bericht vom 8. Prozesstag
 http://de.indymedia.org//2004/02/75781.shtml

Ageeb: Bericht vom 7. Prozesstag
 http://de.indymedia.org//2004/02/75710.shtml

Ageeb: Bericht vom 6. Prozesstag
 http://de.indymedia.org//2004/02/75709.shtml

Ageeb: Bericht vom 5. Prozesstag
 http://de.indymedia.org//2004/02/75227.shtml

Ageeb: Resümee der 2. Prozesswoche
 http://de.indymedia.org//2004/02/74752.shtml

Ageeb: Bericht vom 4. Prozesstag
 http://de.indymedia.org//2004/02/74682.shtml

Ageeb: Bericht vom 3. Prozesstag
 http://de.indymedia.org//2004/02/74678.shtml

Ageeb: Bericht vom 2. Prozesstag
 http://de.indymedia.org//2004/02/73988.shtml

Fotos: Mahnwache zum Ageeb-Prozess
 http://de.indymedia.org//2004/02/73977.shtml

NGOs: Resümee der 1. Woche im Ageeb-Prozess
 http://de.indymedia.org//2004/02/73926.shtml

Ageeb: Bericht vom 1. Prozesstag
 http://de.indymedia.org//2004/02/73855.shtml

Pro Asyl: Keine exzessive Gewaltanwendung!
 http://de.indymedia.org//2004/02/73466.shtml

Die Fesselung von Aamir Ageeb
 http://de.indymedia.org//2004/02/73457.shtml

Tod bei Abschiebung
 http://de.indymedia.org//2004/01/73105.shtml

Ageeb: Prozeß gegen BGSler beginnt im Februar
 http://de.indymedia.org//2003/12/70432.shtml