Ageeb: Bericht vom 9. Prozesstag

Prozessbeobachtungsgruppe 12.03.2004 23:31
Am neunten Prozesstag begründet die Verteidigung erneut ihren Antrag, Otto Schily als Zeugen zu laden, und stellt weitere Anträge, darunter einen Befangenehtisantrag gegen die gerichtsmedizinischen Sachverständigen. Das gericht lehnt alle Anträge ab. Das nichtvorladen des Bundesinnenministers begründet das Gericht damit, es sei als Wahrheit zu unterstellen, dass das informelle Gespräch zwischen BGS, Innenministerium und angeklagten BGS-Beamten stattgefunden habe. Durch Schilys Aussage ließen sich keine neuen Erkenntnisse gewinnen.
Die Verteidigung trägt in Ergänzung ihres Beweisantrages
vom 8. Prozesstag vor, warum dem Antrag, Bundesinnenminister Otto Schily zu laden, stattgegeben werden soll. Vorgetragen werden dazu ein Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 26./27.6.1999 sowie eine Presseerklärung des Bundesinnenministeriums vom 25.6.1999, die sich auf die Ergebnisse einer Fachkonferenz in Berlin am 18.6.1999 bezieht, an der auch Bundesinnenminister Otto Schily teilgenommen hat. In der Presseerklärung wird u.a. darauf hingewiesen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse zur lagebedingten Erstickung künftig zu berücksichtigen seien und dass dem BGS bei künftigen Abschiebungen eine umfassende Vorinformation durch die beteiligten Behörden der Länder u.a. zu Gesundheitsproblemen, zu Gewaltbereitschaft usw. zukommen müssten.

Außerdem beantragt die Verteidigung die Vernehmung fünf weiterer BGS-Beamter, die Ageeb in der Gewahrsamszelle vor der Abschiebung nach der sogenannten hogtie-Methode gefesselt während mehrerer Stunden gesehen haben bzw. an der Fesselung beteiligt gewesen sein sollen. Die Verteidigung begründet den Antrag auf Ladung dieser Zeugen damit, dass die Vorfesselung Ageebs zu Vorschädigungen hätte führen können, die für den späteren tödlichen Verlauf der Abschiebung hätten mitursächlich sein können.

Die Verteidigung beantragt weiter die Verlesung der Korrespondenz der BGS-Spitze mit den nachgeordneten Dienststellen bis zum 4.6.1999. Es soll unter Beweis gestellt werden, dass Kenntnisse zur lagebedingten Erstickung (PA-Syndrom) bis zu diesem Zeitpunkt nicht vorhanden waren.

Die Verteidigung stellt weiter den Antrag, die gerichtsmedizinischen Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen. Die Einlassungen der Sachverständigen seien einseitig und unprofessionell. Der Sachverhalt der Vorfesselung in hogtie-Stellung sei ihnen bekannt gewesen. Befragt nach dem PA-Syndrom hätten sie sich lediglich geäußert, der vorliegende Fall unterscheide sich von den Konstellationen, die in der wissenschaftlichen US-Literatur zum Thema zu finden seien. Es habe aber nicht unerwähnt bleiben können, ob nicht der spätere Geschehensablauf durch die Vorfesselung beeinflusst gewesen sei. Zumindest hätten sich die Sachverständigen mit dem aus der Vorfesselung möglicherweise entstehenden Sauerstoffschuld auseinandersetzen müssen. Es sei davon auszugehen, dass es eine Steigerung der physischen Erregung durch langfristige Fixierung gegeben habe. Bei den US-Todesfällen im polizeilichen Gewahrsam habe es solche Todesfälle nach der Literatur durchaus gegeben.

Die medizinischen Sachverständigen seien auch deshalb als befangen zu betrachten, da sie als Szenario lediglich das Herunterdrücken von Ageebs Kopf zur Unterbindung der Atmung unterstellt hätten. Aus den Zeugenvernehmungen im Rahmen der Hauptverhandlung habe sich jedoch ergeben, dass dieses Herunterdrücken lediglich im Zusammenhang mit der Unterbindung des Schreiens erwähnt worden sei. Zeugenaussagen seien auf diese Weise als Anknüpfungstatsache übergangen und ein bestimmtes Szenario einseitig zugrunde gelegt worden. Außerdem gebe es eine Differenz zwischen den Aussagen der Sachverständigen in ihrem schriftlichen und dem in der Hauptverhandlung vorgetragenen mündlichen Gutachten (Anmerkung: Die Differenz erschließt sich dem Publikum und dem Protokollanten aus der Darstellung der Verteidigung nicht.)

Darüber hinaus beanstandet die Verteidigung, dass es eine wirkliche Tatrekonstruktion am 15.9.1999 nach den Aussagen des Zeugen H. nicht gegeben habe. Stattdessen hätten die gerichtsmedizinischen Sachverständigen einen Selbstversuch durchgeführt. Die Funktion dieses Selbstversuches sei nicht nachvollziehbar, zumal bei diesem außer acht gelassen worden sei, dass Ageeb sich gewehrt habe, woraus sich ein anderer als der im Selbstversuch nachgestellte Ablauf ergebe. Was hierzu im schriftlichen Gutachten noch aufgeklärt worden sei, habe bei den Selbstversuchen keine Rolle mehr gespielt.

Zur Wahrung des rechtlichen Gehörs beantragt die Verteidigung darüber hinaus, ihr die Protokolle der bisherigen Hauptverhandlung zugänglich zu machen.

Den vom Verteidiger des angeklagten Sch. vorgetragenen Beweisanträgen schließen sich die beiden anderen Verteidiger an.

Sitzungspause

Nach der Verhandlungspause nimmt der Staatsanwalt zu den Beweisanträgen Stellung.

Zum Verlesungsantrag:
Es sei unstreitig, dass das PA-Phänomen nicht bekannt gewesen sei. Deswegen sei das Beweisthema ohne Bedeutung. Er stelle die Verlesung aber ins Ermessen des Gerichts.

Zum Antrag auf Ladung weiterer Zeugen zur Vorfesselungssituation:
Der Antrag sei abzulehnen, da die hogtie-Fesselung einen isolierten Sachverhalt darstelle. Es handele sich um einen neuen Kausalverlauf, der frühestens mit dem Verbringen ins Flugzeug begonnen habe. Bis dahin sei Ageeb nach dem Ergebnis der bisherigen Hauptverhandlung körperlich unversehrt gewesen.

Zum Befangenheitsantrag gegen die medizinischen Sachverständigen:
Der Antrag sei abzulehnen. Sachverständige könnten nur abgelehnt werden, wenn Befangenheit vorliege oder mangelnde Sachkunde zutage trete. Vernünftige Gründe für die Ablehnung seien von der Verteidigung nicht vorgetragen worden. Die Gutachten der Sachverständigen seien überzeugend gewesen. Bei der Vorfesselung in hogtie-Stellung habe es sich um einen eigenständigen Kausalverlauf gehandelt, der unerheblich für die Todesursache gewesen sei. Vor diesem Hintergrund hätten die Sachverständigen darauf auch nicht eingehen müssen.
Die Sachverständigen hätten weder die Aufgabe gehabt, zu den Tatmotiven etwas zu sagen, noch hätten sie dies tatsächlich getan. Ihre zentrale Aufgabe sei die Klärung der Frage gewesen, ob ein derartiges Herunterdrücken zum Tode führen könne. Dafür allerdings hätten sich ausreichende Belege ergeben.
Maßgeblich seien im übrigen die mündlichen Erklärungen der medizinischen Sachverständigen im Rahmen der Hauptverhandlung. Diese seien eindeutig und nachvollziehbar gewesen. Der pathologische Mechanismus sei geklärt worden. Es habe ein Ersticken durch Niederdrücken vorgelegen. Dies gebe es nicht nur beim PA-Syndrom, sondern eben auch bei anderen Abläufen.

Die Äußerungen der Verteidigung zur Tatrekonstruktion und den Selbstversuchen der medizinischen Sachverständigen seien nicht nachvollziehbar. Eine Nachstellung habe es in jedem Fall gegeben. Deren Ergebnis sei nicht zu beanstanden. Die Selbstversuche der medizinischen Sachverständigen seien sinnvoll zur Überprüfung der theoretischen Erkenntnisse gewesen.

Gegen den Antrag der Verteidigung, die Niederschrift der Hauptverhandlung zugänglich zu machen, bestehen bei der Staatsanwaltschaft keine Bedenken. Alle übrigen Anträge seien abzulehnen.



Der Vertreter der Nebenklage vertritt die Auffassung, dass der Befangenheitsantrag gegen die medizinischen Sachverständigen abzulehnen sei. Es habe in der Hauptverhandlung genügend Gelegenheit zu klärenden Nachfragen gegeben, die jedoch nicht gestellt worden seien. Daraus ergebe sich keine Besorgnis der Befangenheit. Im übrigen sei die Nebenklage mit dem Antrag auf Verlesung der BGS-Korrespondenz sowie dem Antrag auf Vernehmung weiterer Zeugen einverstanden.

Die Verteidigung insistiert auf ihrem Befangenheitsantrag. Es habe sich bei Vorfesselung und dem späteren Tatverlauf um einen einheitlichen Sachverhalt gehandelt, der zu bewerten sei. Dieser Sachverhalt dürfe nicht in einen angeblich relevanten und irrelevanten Teil aufgespalten werden. Dass die Staatsanwaltschaft behauptet, Ageeb sei bis zum Beginn einer neuen Kausalitätskette nach der Vorfesselung noch gesund gewesen, sei ein bloßes Postulat. Gesundheitliche Vorschäden könnten durchaus vorher eingetreten sein. Wenn die medizinischen Sachverständigen dazu nichts gesagt hätten, sei das ein Indiz für ihre Einseitigkeit. Es sei nicht Aufgabe von Sachverständigen, Tatmotive zu ergründen. Dies allerdings sei hier geschehen. Als Tatmotiv sei unterstellt worden, die Handlungen der Angeklagten hätten darauf gezielt, Ageeb die Luft zu nehmen. Die vorangegangenen Auseinandersetzungen mit Ageeb seien nicht ins mündliche Gutachten einbezogen worden. Man habe damit Beweisergebnisse ausgeblendet und durch eigene Überzeugungen ersetzt.
Die beantragte Vernehmung weiterer Zeugen würde weitere Aufschlüsse bringen zur Dauer und Intensität der hogtie-Fesselung und damit zur Frage, ob Vorschäden eingetreten sein könnten.

Zum Antrag auf Verlesung der BGS-Korrespondenz:
Es wurde offenbar versucht, nach Ageebs Tod festzustellen, ob Erkenntnisse zum PA-Syndrom vorgelegen hätten. Es habe jedoch keine solchen gegeben. Dies sei unter Beweis zu stellen.

Der Staatsanwalt repliziert, was ein einheitlicher Lebenssachverhalt im Rahmen eines Tatablaufes sei, sei rechtlich längst ausdiskutiert. Deshalb halte er die Äußerung der Verteidigung für abwegig. Vorgaben für das Gutachten, die die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen, habe es im übrigen nicht gegeben.

Sitzungspause

Nach der Verhandlungspause lehnt das Gericht alle Beweisanträge ab. Der Vorsitzende führt aus, aus einer Ladung des Bundesinnenministers ließen sich keine weiteren Erkenntnisse gewinnen. Die Tatsache, dass nach Ageebs Tod eine Fachkonferenz in Berlin zum Thema Rückführungsmethoden stattgefunden habe, sei als wahr zu unterstellen. Als wahr zu unterstellen sei ebenfalls, dass es zu einer Neufassung der Richtlinien gekommen sei.

Die Verlesung der Korrespondenz des BGS wird ebenfalls abgelehnt, da die nach der Auffassung der Verteidigung hierdurch zu gewinnenden Erkenntnisse als wahr zu unterstellen seien.

Die Zeugenvernehmung weiterer fünf BGS-Beamter wird abgelehnt, da die Vorfesselung in hogtie-Stellung als wahr zu unterstellen sei, aber nicht todesursächlich gewesen sei.

Der Antrag der Verteidigung, das Protokoll der Hauptverhandlung zugänglich zu machen, wird abgelehnt, da dieses noch nicht fertiggestellt worden sei und kein Rechtsanspruch hierauf bestehe.

Der Befangenheitsantrag gegen die gerichtsmedizinischen Sachverständigen wird als unbegründet abgelehnt. Es gebe keine Gründe, deren Unparteilichkeit in Zweifel zu ziehen. Die Sachverständigen hätten bei ihren Untersuchungen keinen Hinweis auf Vorschädigungen Ageebs erhalten. Sachdienliche Fragen seien von der Verteidigung nicht gestellt worden. Dass der zu beurteilende Fall von der Fachliteratur abweiche, hätten die Sachverständigen konkret dargestellt. Das Gericht sehe im übrigen nicht, dass die Sachverständigen den Angeklagten eine Motivation unterstellt hätten. Der Selbstversuch sei ein zusätzliches Erkenntnismittel gewesen. Signifikante Abweichungen oder Einlassungen der medizinischen Sachverständigen in der Hauptverhandlung zu früheren schriftlichen Darstellungen gebe es nicht. Die Selbstversuche der Sachverständigen auch ohne das Szenario einer Gegenwehr hätten die Erkenntnis gebracht, dass der Atemmechanismus behindert worden sei. Dass der Tod möglicherweise bei Gegenwehr schneller eintreten könne, sei allgemeinkundig und bedürfe keiner weiteren Betrachtung. Die Gerichtsmediziner hätten im übrigen die Würdigung der Sachverhalte dem Gericht überlassen.

Die Verteidigung beantragt eine Sitzungspause, da man die Stellung eines Befangenheitsantrages gegen das Gericht in Erwägung ziehe. Es stellte sich die Frage, wie nach mehrmals verlängerter Sitzungspause ein derart umfangreicher Ablehnungsbeschluss zustande kommen könne, da die Schöffen, wie von der Verteidigung wahrgenommen, den größten Teil der Zeit auf dem Flur gestanden hätten. Man wolle mit den Mandanten über den Antrag beraten.

Sitzungspause

Nach der Pause stellt die Verteidigung jedoch keinen Befangenheitsantrag gegen das Gericht. Die Verteidigung beantragt lediglich, weitere Krankenakten von Ageeb zur Verfügung zu stellen, die ihr noch nicht zugänglich gemacht worden seien. Dem wird stattgegeben.

Das Gericht tritt in die Beweisaufnahme zur Person ein. Vorstrafen der Angeklagten sind nicht bekannt. Es gibt auch keine laufenden Ermittlungsverfahren. Die Beweisaufnahme wird geschlossen.

Nächste Termine:
Am 17. März um 13 Uhr stehen die Plädoyers an.
Als weiterer Verhandlungstermin wird Montag, der 22. März, 9 Uhr anberaumt
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Ergänzungen

Prozess gegen BGS im "Fall Ageeb"

ein Überblick 13.03.2004 - 01:00
DAS INDY SPECIAL
Prozess gegen BGS im Fall Ageeb
 http://de.indymedia.org//2004/01/72570.shtml

Ageeb: Bericht vom 9. Prozesstag
 http://de.indymedia.org//2004/03/76867.shtml

Ageeb: Bericht vom 8. Prozesstag
 http://de.indymedia.org//2004/02/75781.shtml

Ageeb: Bericht vom 7. Prozesstag
 http://de.indymedia.org//2004/02/75710.shtml

Ageeb: Bericht vom 6. Prozesstag
 http://de.indymedia.org//2004/02/75709.shtml

Ageeb: Bericht vom 5. Prozesstag
 http://de.indymedia.org//2004/02/75227.shtml

Ageeb: Resümee der 2. Prozesswoche
 http://de.indymedia.org//2004/02/74752.shtml

Ageeb: Bericht vom 4. Prozesstag
 http://de.indymedia.org//2004/02/74682.shtml

Ageeb: Bericht vom 3. Prozesstag
 http://de.indymedia.org//2004/02/74678.shtml

Ageeb: Bericht vom 2. Prozesstag
 http://de.indymedia.org//2004/02/73988.shtml

Fotos: Mahnwache zum Ageeb-Prozess
 http://de.indymedia.org//2004/02/73977.shtml

NGOs: Resümee der 1. Woche im Ageeb-Prozess
 http://de.indymedia.org//2004/02/73926.shtml

Ageeb: Bericht vom 1. Prozesstag
 http://de.indymedia.org//2004/02/73855.shtml

Pro Asyl: Keine exzessive Gewaltanwendung!
 http://de.indymedia.org//2004/02/73466.shtml

Die Fesselung von Aamir Ageeb
 http://de.indymedia.org//2004/02/73457.shtml

Tod bei Abschiebung
 http://de.indymedia.org//2004/01/73105.shtml

Ageeb: Prozeß gegen BGSler beginnt im Februar
 http://de.indymedia.org//2003/12/70432.shtml

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