Das Problem heißt Antisemitismus

kerstin becher 09.03.2004 17:08
Demnächst soll vor Gericht über den weiteren Ausbau des Ariowitsch-Hauses zum neuen Jüdischen Gemeindezentrum Leipzigs verhandelt werden.
Das Problem heißt Antisemitismus





Demnächst soll vor Gericht über den weiteren Ausbau des


Ariowitsch-Hauses zum neuen Jüdischen Gemeindezentrum Leipzigs verhandelt


werden. Gegen das Bauvorhaben geklagt haben einige Deutsche aus der


Nachbarschaft. Der Bau des Gemeindezentrums soll verhindert werden. Seit der


Einreichung der Klagen liegen die Pläne für den Ausbau auf Eis, die


schon für Oktober 2002 geplante Grundsteinlegung mußte entfallen.


Um ihr Ziel zu erreichen waren die Kläger alles andere als untätig:


Akribisch suchten sie nach Gründen gegen den Ausbau, machten Eingaben bei


der Stadt und vor Gericht, erreichten immerhin einen Baustop. Systematisch


spürten sie etwaige Mängel des Vorhabens auf, taten alles


Erdenkliche, um dem Projekt Steine in den Weg zu legen. Sie kalkulierten mit


fehlenden Finanzmitteln, mit dem Wegfallen zeitlich begrenzter


Förderungsgelder. Sie ließen die Baupläne prüfen,


berechneten das mögliche Verkehrsaufkommen und führten den


eventuellen Wertverlust ihrer Immobilien ins Feld. Sie suchten das


Bedrohungspotential, nach Islamisten und anderen Nazis, denen ein


Jüdisches Gemeindezentrum in Leipzig ebenfalls ein Dorn im Auge wäre.


Nicht einen Zweifel ließen die anonym bleiben wollenden Kläger


daran, daß ihnen jüdisches Leben direkt in ihrer Nachbarschaft mehr


als lästig sein muß.


Eigentlich sollte es in Deutschland heute eine Selbstverständlichkeit


darstellen, jüdisches Leben und Einrichtungen zu fördern und zu


ermöglichen. Fast 60 Jahre nach der Niederschlagung des


Nationalsozialismus und der Befreiung der restlichen Überlebenden aus den


Konzentrationslagern müßte - so ließe sich hoffen -


den Deutschen die Schuld vor allem am Tod von sechs Millionen Juden und die


daraus resultierenden moralischen Verpflichtungen bewußt sein.


Stattdessen trauert man heute lieber über die deutschen »Brandopfer


des alliierten Bombenkriegs« und beweist in Permanenz, daß es


zwischen Deutschen und Juden auch in Zukunft keinen selbstverständlichen


Umgang geben soll. Die Furcht der Kläger vor dem Bau des Leipziger


Gemeindezentrums ist so auch nur als eine Begebenheit unter vielen zu


verstehen, als Ausdruck eines spezifisch deutschen Normalzustands, in dem Juden


wie eh und je hauptsächlich als Projektionsfläche für


Ängste und »Sorgen« dienen. Die Deutschen die von diesen


Projektionen beherrscht sind und sich von diesen leiten lassen, stehen nicht


nur irgendwie in der »trüben Tradition des Antisemitismus«,


sondern sie sind Antisemiten. Das auszusprechen traut sich auch in Leipzig


niemand, schließlich ist Antisemit zu sein heute diskreditiert und das


Brandmarken anderer Deutscher zu Antisemiten offensichtlich höchst


unbeliebt. Jedoch zu glauben, der manifeste Antisemitismus der Deutschen sei


etwa seit der Zerschlagung des Nationalsozialismus nach 1945 schlagartig


verschwunden, ist barer Unsinn. Wo der Antisemitismus als Konstante der


bürgerlichen Gesellschaft zwar vorhanden ist, aber als verpönt gilt,


drückt er sich zwangsläufig in neuen, verdrucksten Formen aus. Tritt


nun in Leipzig die jüdische Gemeinde öffentlich mit dem Bau eines


neuen Gemeindezentrums auf den Plan, so verwundert es wenig, daß wo Juden


in der Öffentlichkeit »auftauchen« deutsche Antisemiten


nicht weit sind und in Aktion treten.


Ausnahmen allerdings sind die Kläger beileibe nicht. Schließlich


gibt es auch bei den übrigen Waldstraßenviertel-Bewohnern das


Bedürfnis, ihrem Unbehagen an dem neuen Gemeindezentrum Luft zu machen.


Der Bürgerverein Waldstraßenviertel fühlt sich


dementsprechend dazu genötigt für die Bewohner des Viertels extra


eine Veranstaltung unter dem Titel »Das neue Jüdische


Gemeindezentrum - Anlass zur Sorge oder neue Chance?« zu


organisieren. Zwar mag es vom Bürgerverein gut gemeint sein, die


Ressentiments der Viertel-Bewohner ausräumen zu wollen. Gerade aber,


daß überhaupt erst für ein jüdisches Gemeindezentrum


»sensibilisiert« werden muß, wie es in der


Vorankündigung der Veranstaltung lautet, drückt die Wahrheit nicht


nur über die Bewohner dieses Viertels, sondern über die gesamte


deutsche Gesellschaft aus: Die Juden sind wie zu allen Zeiten die Fremden, die


im »Wohngebiet zum Wohlfühlen« stören, jüdisches


Leben und Kultur werden als andersartig und verdächtig wahrgenommen und


als gefahrvoll stigmatisiert. Daß schließlich, wie man beim


Bürgerverein zu berichten weiß, die Sicherheitsbedenken der


Viertel-Bewohner gegen das Gemeindezentrum ganz im Vordergrund stehen,


trägt dem nur Rechnung.


Gegen diesen antisemitischen Normalzustand ruft das Leipziger Bündnis


gegen Antisemitismus auf zur Teilnahme an einer Kundgebung für die


sofortige Rücknahme der Klagen gegen das neue Jüdische


Gemeindezentrum und die entschiedene Unterstützung des Bauvorhabens durch


die Leipziger Öffentlichkeit.


Die Kundgebung wird am Tag der Verhandlung vor dem Gerichtsgebäude


stattfinden. Genauer Ort und Datum sind sobald bekannt auf der Webseite


www.israel-soli.de einsehbar.





Bündnis gegen Antisemitismus Leipzig,


Leipzig, 9. März 2004
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Ergänzungen

Kollektivschuld?

Nichtschuldiger 09.03.2004 - 18:03
Ich finde es nicht sehr intelligent zu fordern, dass die deutschen ihre schuld anerkennen müssten. es gibt keine kollektivschuld. leute die nach oder während dem krieg geboren sind haben nunmal weder krieg geführt, noch juden ermordet, noch hitler gewählt, noch etwas dagegen tun können, dass er an die macht kommt. wogegen hingegen zu kämpfen ist, ist die bagatellisierung und relativierung der deutschen vergangenheit und eine europäisierung der deutschen geschichte hin zu einer sammlung des europäischen leids des 20.Jahrhunderts ("wir hams alle schwer gehabt: holocaust, krieg, vertreibung der deutschen minderheiten"). es kann nicht sein, dass deutsche täter, die ganz europa verwüsteten und millionen menschen industriell vernichteten in eine reihe gestellt werden mit anderen verbrechen, oder wie im falle der vertreibungen logischen kriegsfolgen für die willigen vollstrecker hitlers. denn der grund der vertreibungen und der bombardierungen ist nicht am ende, sondern am anfang des krieges zu suchen. somit is nobody to blame, ausser nazis und deutsche vollstrecker. schon garnicht die royal airforce, die an der befreiung deutschlands einen beträchtichen anteil hatte.

weitere Beiträge zum Thema

ein Überblick 11.03.2004 - 03:12
Antisemitisch? Klage gegen Baupläne der Jüdischen Gemeinde in Leipzig Anna Engel
 http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/242256/

Tätervolk, neue Folge Von Gaby Hommel Konkret Heft 03 2004
Deutsche Neonazis und Leipziger Bürger sind einig im Protest gegen den Bau jüdischer Einrichtungen
 http://www.konkret-verlage.de/kvv/in.php?text=&jahr=2004&mon=03

der Vollständigkeit halber

ein Überblick 12.03.2004 - 00:08
Donnerstag 11.3. 19:15 im Deutschlandfunk-Magazin
kam wieder ein kurzer Beitrag zu Leizig:
"Angst oder Antisemitismus? Querelen um den Bau eines jüdischen Gemeindesaals in Leipzig"

Hendrik Lasch, Leipzig im"Neuen Deutschland"

ein Überblick 12.03.2004 - 02:27
Antisemitismus
Jüdisches Leben gegen Quadratmeterpreise
Leipziger Bürger verurteilen Klagen gegen Gemeindehaus von Leipziger Bürgern
Von Hendrik Lasch, Leipzig
 http://www.nd-online.de/artikel.asp?AID=50098&IDC=2

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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vökischer mist — xxx

... — anti

. — .

"einige Deutsche" — Norbert

ach leute — weist

Danke mod du raffst echt nix ! — ein überblick