Frühstück im Arbeitsamt Göttingen

müßiggängerin 03.03.2004 19:41
Wir lassen uns im Kampf um die Existenzgrundlage nicht vereinzeln! Deshalb gemeinsames solidarisches Frühstücken am Ort der Vollstreckung.
Die Fotos, die uns zur Verfügung gestellt wurden, geben nicht wirklich die nette Stimmung wieder.
Schlemmen statt darben...

Ca 50 Erwerbslose statteten am Dienstag dem Arbeitsamt einen Besuch ab, um dort mit einem gemeinsamen Frühstück gegen Kürzungen und Repression zu protestieren.
Schon 20 Minuten vor Beginn versammelten sich Angestellte des Arbeitsamtes (es waren nur Männer), Polizei und Zivis in der Eingangshalle, um den Schauplatz des Geschehens im Auge zu behalten. Aber offensichtlich war Zurückhaltung angesagt. Schließlich produziert das Arbeitsamt schon genug negative Schlagzeilen.
Also bauten wir unser Frühstück ohne Stress auf und drapierten Transpis an den Wänden. Das sahen die AA-Mitarbeiter zwar nicht gerne, aber schließlich gaben sie ihre vergeblichen Versuche, uns davon abzuhalten, auf.
Die Flugblätter wurden von den meisten Erwerbslosen, die das Arbeitsamt aufsuchten, interessiert entgegengenommen. Die eine oder der andere traute sich an unseren Frühstückstisch. Der schönste Spruch des Tages: „Meine Seele gehört euch.“
Nach etwa 90 Minuten packten wir die Frühstücksreste ein und verließen mit lauten Parolen das AAmt, nicht ohne anzukündigen, dass wir wiederkommen werden.
Anschließend gab es eine kleine aber laute Spontandemo durch den Bahnhof und die Innenstadt. Die Stimmung war super und über unsere Parolen mussten doch einigen PassantInnen zustimmende Grinsen. Die schönste Parole des Tages: „Niedriglohn und Zwangsarbeit – dafür haben wir keine Zeit!“
Eine nette Auftaktaktion also, die nach mehr verlangt. Es gibt zur zeit viele Orte, an denen Protest genau richtig ist.
Gegen die herrschende Ordnung der Welt – nie wieder Arbeit und viel mehr Geld!

Auch ein wunderbares Beispiel dafür ist das gefakte Flugblatt der Krankenkassen, das in Göttingen verteilt wurde. Darin wird von den Krankenkassen Barma, DAK, TK und AOK die Praxisgebühr als unsozial verurteilt und den PatientInnen die Rückerstattung der Gebühr angeboten. Auszahlungstag sollte Montag, der 1. März sein. Laut Berichten im Radio und GT fanden auch sehr viele Menschen den Weg in die Krankenkassen und legten dort den Vormittag über den normalen Beratungsalltag lahm. Viele drohten gar den Krankenkassen mit Austritt.
Also: Leute lasst das Lesen sein – euch fällt bestimmt was eigenes ein!


Flugblatt, das im Arbeitsamt verteilt wurde:

Wir sind arbeitslos! Und wir sind zornig!

Genauso wie Millionen anderer Menschen auch. Arbeitslosigkeit ist heute bei weitem nicht mehr die Ausnahme! Und trotzdem sollen wir uns schuldig fühlen, wir sollen uns schämen und uns unterwürfig verhalten. Wir sollen alles tun, um wieder Arbeit zu finden. Egal zu welchen Bedingungen. Uns wird weis gemacht, wer Arbeit will, der kriegt auch welche. Aber da wir uns nicht „richtig“ bemühen und gar nicht „wirklich“ arbeiten wollen, müssen schärfere Regelungen und ein härteres Durchgreifen im Arbeitsamt uns dazu zwingen. Wäre doch gelacht, wenn die Statistik durch Sperrzeiten und Arbeitszwang nicht bereinigt und der Haushalt nicht entlastet werden könnte. Aber das ist nur ein Nebeneffekt. Es geht um viel mehr!

Mit Hartz werden wir mehr und mehr entrechtet. Alle ehemals hart erkämpften Absicherungen und Rechte werden nach und nach abgeschafft. Die Arbeitslosenhilfe wird zu einer miesen Fürsorgeleistung ohne Rechtsanspruch. Wir müssen jeden ScheißJob annehmen und der noch so kleinste Miniverdienst wird angerechnet, d.h. abgezogen. Von einem Minijob (bis 400 Euro) sind nur 15%, also 60 Euro, anrechnungsfrei. Arbeiten und trotzdem auf Stütze angewiesen bleiben, weil der Lohn nicht reicht, der Drangsalierung des Arbeitsamtes ausgeliefert, das ist unsere Zukunft.
Die gesamte „Bedarfsgemeinschaft“, das heißt Familie bzw. alle, die in einem Haushalt leben, ist davon betroffen. Alle Personen der „Bedarfsgemeinschaft“ können gezwungen werden, länger zu arbeiten, ein Studium aufzugeben, „Vermögen“ zu verwerten oder von der Schule abzugehen und endlich Geld zu verdienen.
Damit uns die „Lust“ auf Arbeitslosigkeit so richtig vergeht, gibt es dann noch die sog. „Arbeitsgelegenheiten“, vom Arbeitsamt oder Sozialamt organisiert. D.h. arbeiten ohne Lohn, moderne Sklavenarbeit eben. So werden z.B. Stellen, die bisher durch Zivildienstleistende abgedeckt wurden, durch die modernen „Sklaven“ aufgefüllt werden. Wer nicht mitmacht oder mitmachen kann, wird gar nichts mehr kriegen oder Sachleistungen bzw. Gutscheine statt Geld. Schon im letzten Jahr ist die Anzahl der verhängten Sperrzeiten um mehr als ein Drittel auf 423.775 Fälle angestiegen.
Stigmatisierung, Diffamierung und Entrechtung – wie das alles funktioniert, wurde schon reichlich an Flüchtlingen ausprobiert. Als die Gutscheine für Flüchtlinge eingeführt wurden, dachten die wenigsten daran, dass dies eines Tages auch andere Gruppen treffen könnte. Als die Krankenversorgung für Flüchtlinge eingeschränkt wurde, glaubte kaum jemand, dass selbst die gesundheitliche Grundversorgung eine Ware werden könnte, die sich nur noch Leute mit Geld leisten können. Die Diskussion um die Notwendigkeit von Hüftgelenkoperationen bei älteren Menschen, deutet schon heute an, wie die „Reform“ weitergehen wird. Ein Wegweiser für die Verfolgungsbetreuung der künftigen Arbeitslosen ist z.B. ein Modellversuch in Kassel: durch die Pauschalierung der Mietkosten in der Sozialhilfe sind jede Menge Menschen obdachlos geworden. Die Neuregelungen durch Hartz bieten keinen Schutz mehr vor der Obdachlosigkeit. Nur wer einen Arbeitsvertrag vorweisen kann, bekommt ein Darlehen für Mietschulden. Für die anderen werden Obdachlosenunterkünfte gebaut.
Gerechtfertigt wurde und wird diese Entrechtung mit Diffamierungen: sie/wir sind Schmarotzer, wollen nur Geld; sie/wir wollen gar nicht arbeiten usw. Bestes Beispiel ist Florida-Rolf, wie er von der BildZeitung aufgebaut wurde. Er muss als Symbol für uns „arbeitsscheue Sozialschmarotzer“ herhalten. Auch in den täglichen Talkshows werden die Vorurteile bedient: Arbeitslose oder Sozialhilfeempfänger, die gar nicht arbeiten wollen, werden vorgeführt und den Beschimpfungen der Zuschauer/innen ausgesetzt.
Entrechtung geht einher mit Entsolidarisierung! Wir werden gegeneinander ausgespielt. Ständig sollen wir beweisen, dass wir nicht „so“ sind. Dafür müssen wir uns ducken und jede Scheiße mitmachen.
Niemand aber zeigt mit dem Finger auf die Reichen-Enklave Fisher-Island, Florida. Dort halten sich deutsche Millionäre ihre Zierfische für 25.000 Euro pro Stück und lassen andere für sich schuften. Niemand verurteilt Topmodell Linda Evangelista, die selbst sagt, für weniger als 5.000 Euro pro Tag steht sie erst gar nicht aus dem Bett auf.
Wir sagen: Es reicht! Zeigen wir mit der Faust lieber auf die, die uns entrechten und unterdrücken wollen, auf die Ausbeuter, die auf unsere Kosten Millionen Gehälter verdienen....
Die Umformung der Gesellschaft betrifft uns alle! Auch die, die noch arbeiten. Die Entrechtung von uns Arbeitslosen zielt auf den Abbau der Rechte aller Lohnabhängigen: weniger Lohn, längere Arbeitszeit, weniger Rechte! Die Gesundheitsreform, die Steuerreform und die Rentenreform zielen auf eine Umverteilung von unten nach oben, auf eine Privatisierung aller gesellschaftlichen Kosten. Im Endeffekt geht es um die Durchdringung des ganzen Lebens nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten.
Wer da nicht mithalten kann, gerät ins Abseits, gehört nicht mehr dazu, für den gelten keine Rechte mehr, nur noch Sondergesetze, die drangsalieren sollen.
Wir sagen – „Es reicht!“ Es reicht uns schon lange!
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Ergänzungen

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mmh — ra0105

Sehr gut! — Lutz Rewo

Mehr davon! — Nobody Left

Zornig? — Wut im Bauch