Rassismus und Klassismus im Bildungssystem

andreas kemper 29.01.2004 20:20 Themen: Bildung
die neue IGLU / PERLS-studie hat für schlagzeilen gesorgt.
schülerInnen mit migrationshintergrund und / oder aus sogenannter niedriger herkunft werden bei gleicher leistung diskriminiert. die "herkunft entscheidet über bildungschancen, nicht leistung" titelte die fr am mittwoch.
ein paar anmerkungen zu rassismus und klassismus im bildungssystem ...
erläuterung zur tabelle IX.8:
„In Tabelle IX.8 sind die relativen Chancen einer Gymnasialempfehlung in Abhängigkeit vom Migrationshintergrund der Kinder aufgeführt. Ohne Berücksichtigung weiterer Einflussfaktoren ist, verglichen mit Kindern, die eine Hauptschulempfehlung erhalten haben und deren Eltern beide im Ausland geboren wurden, die Chance eines Kindes, dessen Eltern beide in Deutschland geboren wurden, eine Gymnasialempfehlung zu bekommen 4,69 mal so hoch. Selbst unter Kontrolle von Sozialschicht und Lesekompetenz, d.h. wenn man nur Kinder gleicher sozialer Herkunft und Lesekompetenz miteinander vergleicht, bleiben die Kinder, deren Eltern in Deutschland geboren wurden, im Vorteil – ihre Chance auf eine Gymnasialempfehlung ist auch dann noch 1,66 mal so hoch“

erläuterung zur tabelle IX.10:
„Untersucht man den Einfluss der Sozialschicht [...] der Kinder auf ihre
Schullaufbahnempfehlungen, so wird deutlich, dass selbst bei Kontrolle der kognitiven Grundfähigkeiten und der Lesekompetenz Kinder aus den beiden oberen Schichten [Obere Dienstklassen I und II] eine 2,63-fach größere Chance haben, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten als ein Kind aus einem Haushalt aus unteren Schichten (vgl. Tab. IX.10). Die deutliche Benachteiligung
der Kinder aus unteren Schichten zeichnet sich in allen hier aufgeführten
Ländern der Bundesrepublik Deutschland ab. In Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen ist der Grad der Benachteiligung größer als im Bundesmittel, in Hessen etwas geringer.“


okay, die tabellen lassen sich ein wenig schwer verstehen, aber welcheR lange genug darüber brütet findet sich schon zurecht.

dieses ergebnis dürfte nicht überraschen. bereits vor acht jahren stellte eine hamburger studie (lehmann, rainer; peek, rainer; gänsfuß, rüdiger: aspekte der lernausgangslage von schülerinnen und schülern der fünften klassen an hamburger schulen. hamburg, september 1996) dieses diskriminierende verhalten von lehrerInnen gegenüber schülerInnen mit niedriger bildungsherkunft fest. hinzu kam noch, dass je geringer der bildungsabschluss der eltern war, desto genauer folgten sie den vorgaben der lehrerInnen. allerdings blieben selbst die eltern ohne hauptschulabschluss im schnitt nicht unter den empfehlungen der lehrerInnen, während die eltern mit abitur auch dann zum gymnasium schicken wollten, wenn die testergebnisse ihrer kinder dies absolut nicht zuliessen.

einen institutionalisierten rassismus in der grundschule konstatierten bereits vor 3 jahren Mechthild gomolla und frank-olaf radtke (gomolla, mechthild; radtke, frank-olaf: institutionalisierte diskriminierung. die herstellung ethnischer differenz in der schule. opladen 2002)

sind die kinder erst einmal aufgeteilt in die verschiedenen schulformen, wird sich hieran kaum noch etwas ändern. die unicef-studie vor einem jahr titelte daher: "Germany: children sorted for life" und gab entsetzt einen sonderbericht zum deutschen schulsystem heraus. mit der geplanten reduzierung der schuljahre von 13 auf 12 jahren wird dieses einsortiertsein nocheinmal stärker betoniert, da bislang noch schülerInnen aus der haupt- und realschule drei jahre, zukünftig aber nur noch zwei jahre zeit haben werden den bildungsrückstand nachzuholen.
an den universitäten setzt sich die diskriminierung fort: studierende aus den unteren herkunftsgruppen unterbrechen häufiger ihr studium, brechen häufiger ab und brauchen länger (was nun durch langzeitstudiengebühren zusätzlich bestraft wird). sie studieren wesentlich seltener die "lukrativen" fächer jura und medizin (in diesen fächern sind die abbruchraten bei "arbeiterkindern" am höchsten). darüberhinaus werden sie - falls sie einen doktortitel erreichen sehr viel seltener in die "eliten" aufsteigen, da auch hier nicht leistung, sondern standesgemässes, "souveränes" auftreten verlangt ist, wie eine studie von michael hartmann (  http://www.astafu.de/inhalte/artikel/a_2003/leistungseliten ) ergeben hat.

festzuhalten bleibt: innerhalb des bildungssystem werden menschen mit migrations- und / oder bildungsfernerm hintergrund systematisch ausgegrenzt, frauen haben zwar aufgeholt, müssen sich aber mit einfachen billigen akademischen bildungabschlüssen begnügen und doppelbelastungen, sowie sexistischen verhalten an der uni "in kauf" nehmen.
weshalb verzichtet "der kapitalismus" - gerade in deutschland - auf leistungsorientierte besetzungen von führungspositionen?
oder ist ein deutsch-standesgemäßes, hegemonial männliches auftreten im sinne des kapitalismus mehr leistung als inhaltiche kompetenz? ist die leistung, die erfordert wird hauptsächlich die fähigkeit, souverän aufzutreten, sich als elite anerkennen zu lassen (wie dies jemand am montag (26.01.) in der frankfurter rundschau einforderte)? wäre es dann nicht angesagt, diesen "eliten" die anerkennung zu versagen? sollte nicht die große mehrheit der ausgeschlossenen zu einer anerkennungsdissidenz finden? nicht im sinne eines identitätspolitischen "wir"-gefühls, sondern im sinne einer gegenseitigkeit, einer anerkennungssubsistenz?

festzuhalten bleibt aber auch, dass es lehrerInnen sind, also ehemalige studentInnen, die diese rassistischen und klassistischen einstellungen gegenüber grundschülerInnen haben. und da ist die frage, ob es nicht auch unter studierenden diese einstellungen gibt und von lehrenden gegenüber studierenden.
Indymedia ist eine Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann. Eine Überprüfung der Inhalte und eine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge finden nicht statt. Bei Anregungen und Fragen zu diesem Artikel wenden sie sich bitte direkt an die Verfasserin oder den Verfasser.
(Moderationskriterien von Indymedia Deutschland)

Ergänzungen

Bildungsideale

Learnt by Heart 29.01.2004 - 21:48
Dumm gelaufen -
wenn aber Bildung und Wissenschaft sich als nichts anderes entpuppt
als abgefragte und prognostizierte Anpassungsbereitschaft an die
obligatorischen Hierarchien -
braucht man sich über die Ergebnisse nicht zu wundern.
Hier werden euch auch keine Eliteuniversitäten helfen,
wer dumme Inzucht will, wird sie so oder so auch bekommen.

Rätselhaft

werden ausgefüllt muss 30.01.2004 - 12:06
was allerdings in meinen augen rästelhaft ist, sind ist der grad der benachteiligung. so ist ein kind mit ausländischen eltern in bremen stärker benachteiligt, als in hessen!? die politische landkarte hatte da anderes suggeriert.

tabellen fehlen

andreas kemper 31.01.2004 - 09:29
uups,

die tabellen fehlen leider, auf die sich die erklärungen beziehen.
vielleicht könnt ihr sie euch ja aus dem netz ziehen.

ihr findet die studie hier

andreas kemper 31.01.2004 - 09:33

oder

andreas kemper 07.02.2004 - 07:09