Ein weiterer Prozessbericht aus Giessen

A.C.N. 20.12.2003 14:12 Themen: Repression
Hier ein weiterer Bericht vom Giessener Prozess am 15.12. gegen zwei Aktivisten mit insgesamt 12 Anklagepunkten (Beleidigung, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch, Körperverletzung). Das Prozessergebnis lässt vermuten, dass von Anfang an die Verurteilung feststand. Denn an Beweisen brachte der Prozess nichts - ganz im Gegenteil.
Störungen im Prozess
Immer wieder gehen Leute aufs Klo und bringen damit Bewegung ins Publikum. Es folgen Einwürfe aus dem Publikum, auf die Richter Wendel mit Drohungen reagiert.
Als daraufhin wieder Bemerkungen aus dem Publikum erfolgen, zeigt der Staatsanwalt auf eine bestimmte Person und behauptet, sie sei es gewesen. Daraufhin droht Richter Wendel ihr den Rauswurf an.
Kurze Zeit später hat die betreffende Person Pflaster quer über den Mund geklebt. Richter Wendel wird wütend und behauptet, das sei eine demonstrative Aktion und nicht erlaubt. Sie soll entfernt werden. Es folgen weitere Zwischenrufe; der Saalschutz räumt sie. Dabei werden die Gerichtsdiener mit Konfetti beworfen, woraufhin eine weitere Person herausgeschleppt wird.

Diktiergerät in der Kamera
Später flüstert ein Saalschützer dem Richter etwas zu und zeigt auf eine Person in schwarzem Hemd und heller Hose. Er behauptet, diese würde eine Tonbandaufnahme vom Prozess machen. Richter Wendel guckt böse; der Saalschützer geht hin und muss feststellen, dass der Fotoapparat keine Töne aufzeichnen kann.

Polizeizeugen
Zuerst werden zwei Polizisten vernommen, die die Angeklagten in einer Nacht aufgegriffen hatten, als acht Wahlplakate verändert worden waren. Zu diesem Zeitpunkt wussten die Staatsdiener noch nichts davon, sondern waren auf der Suche nach Autoknackern.
Weit ab vom Ort des Geschehens trafen sie die Angeklagten und hielten sie für Autoknacker. Erst im Nachhinein fiel ihnen auf, dass der eine ein Glas mit einer Flüssigkeit und ein Stöckchen, dass er später für einen Pinsel hielt, mit sich trug. Das Glas soll der Angeklagte beim Gang zum Streifenwagen in einen Bauschutt-Container geschmettert haben, so dass es in tausend kleine nicht brauchbare Stücke zersprang. Der Pinsel sei nicht mehr auffindbar gewesen. Dabei wusste der Polizist aber nicht mehr, ob der Angeklagte ihn schon auf dem Weg zum Auto, im Polizeiwagen oder sonstwo entsorgt haben sollte.
Der zweite Angeklagte wurde inzwischen in Handschellen gelegt, wobei dem Beamten eine Peinlichkeit unterlief, für die er bis jetzt noch aufgezogen wird: Es gab keinen Schlüssel für die Handschellen. Als er den Angeklagten freilassen wollte, musste ein zweiter Streifenwagen gerufen werden, um die Fesseln zu öffnen. Später kontrollierte die selbe Streife weitere Personen in der Nähe der veränderten Plakate.
Erst geraume Zeit später bemerkte die Polizei die Veränderung von Wahlplakaten und nahm an, die zuerst kontrollierten seien das gewesen. Einer der Polizisten kehrte zurück zum Ort des Antreffens und wühlte im Container nach Beweisen. Die Flüssigkeit an der Containerwand hielt er für Kleber. Er sicherte jedoch keine Beweise, mit denen untersucht hätte werden können, ob es sich um den Kleber handelt, der zum Kleben der Plakate benutzt wurde. Auch Teile des hypothetischen Glases wurden nicht sichergestellt.
Eine Menge Zettel und ein Sprühkleber waren dagegen sichergestellt worden. Ob der Sprühkleber zum Plakatieren benutzt wurde, wurde jedoch nicht untersucht.
In der Vernehmung sagten die Polizisten aus, dass sie ihre eigene Interpretation der Tathergänge hatten und der Meinung waren, keine Beweise sicherstellen zu müssen. Teils widersprachen die Polizisten sich, teils erinnerten sie sich nicht mehr.

Inzwischen waren umgeschriebene Lieder gegen Justiz und Staat vor dem Gericht gesungen, was zum Teil sogar noch im Saal zu hören war.

Die Angeklagten stellten den Antrag einen weiteren Zeugen zu vernehmen, um zu zeigen, dass zumindest ein Polizeizeuge die Unwahrheit ausgesagt hat.

Nach einer Pause war der Giessener Staatsschutz-Chef Puff zu bewundern. Er erzählte Geschichtchen über angebliche Zusammenhänge und Tatabläufe, die sich vielfach dann im weiteren Verlauf als unbegründete bzw. nicht miteinander in Zusammenhang stehend darstellten. Beispielsweise stellte er als Indiz dar, dass die Angeklagten "ihre Aktionen" immer zeitnah im Internet veröffentlichen würden und das dort geschilderte Insiderwissen die Beteiligung belegen würde. Dass in dem von ihm geschilderten Fall aber eine solche Veröffentlichung nicht auf diese Art stattfand und seine Argumentation deshalb nichts zur Sache tut, war erst nach langem Nachbohren zu erfahren. Herr Puff tat sich ohnehin mit Antworten schwer. Teils zeigte er sich nicht bereit auf Fragen zu antworten, und wenn er es doch tat, dann redete er solange um den heißen Brei herum, bis er zuletzt vom Gericht aufgefordert wurde, zur Sache zu kommen.
Herr Puff ist ohnehin schon bekannt für seine Erfindung von Straftaten. So konstruierte er im Zusammenhang mit der Sicherstellung einer Pressekamera bei einem Polizeieinsatz, bei dieser könnte es sich um eine Tatwaffe handeln. Schließlich könnten mit der Kamera Fotos gemacht worden sein, die später zur Volksverhetzung genutzt werden könnten. In der Vernehmung dichtete er der Projektwerkstatt, in der die Angeklagten aktiv sein sollen, Illegalität an. Erst durch Nachfragen wird klar, wie er das meint: einer der Angeklagten hielt sich dort ein halbes Jahr lang auf, ohne dass seine Eltern davon wussten. Ganz klar illegal...
Sein Vorwurf: Ein Angeklagter hätte ihm bei einer Festnahme den Daumen verletzt. Dabei beschrieb er blumig sein Zugreifen, Nachgreifen, blablabla und meinte, durch das unkooperative Auftreten des Angeklagten hätte er sich dann den Daumen verdreht. An einen Schlag gegen den Festgenommen, bei dem er sich verletzt haben könnte, konnte er sich nicht erinnern.
Weiteres Indiz für die Taten der Angeklagten seien Farbflecken an deren Kleidungsstücken gewesen. Puff erklärte damit immer wieder ihre Täterschaft, bis irgendwann der Staatsanwalt eingriff und zugestand, dass die LKA-Untersuchungen ergeben hätten, dass die Farbflecken nicht mit den vorgeworfenen Sprühereien zu tun hatten.
Bei der ganzen Vernehmung mied Staatsschutz-Chef Puff den Blickkontakt zu dem befragenden Angeklagten. Der Beweisantrag zum Beleg seiner Gewalttätigkeit bei vielen anderen Festnahmen interessierte Richter Wendel nicht.

Dann kam der Polizei-Einsatzleiter, der sich um die Sicherheit eines CDU-Wahlstandes sorgte, zu Wort. Rainer Walter hatte den Befehl bekommen, eine Demonstration an der auch die Angeklagten beteiligt waren, aufzulösen. Dieser kam direkt vom hessischen Innenminister Bouffier, der sich am Stand der CDU befand und damit den ebenfalls anwesenden Polizeipräsidenten Meise beauftragte.
Erster Patzer war die Überzeugung des Einsatzleiters, eine Demo müsse 48 Stunden vorher angemeldet und genehmigt werden. Durch den Angeklagten wurde er darüber aufgeklärt, dass Demonstrationen nur angemeldet, aber nicht genehmigt werden müssen. Außerdem wurde der Grund der Demonstration erfragt, was Walter mit der willkürlichen Razzia der Projektwerkstatt beantwortete, die etwa einen Tag zuvor stattgefunden hatte. Auch die Nachfrage, dass er diese Razzia also für rechtswidrig hält, bestätigte der Zeuge... Nun ja, da der Grund der Demo aber innerhalb der 48 Stunden lag, musste sie nicht mehr angemeldet werden, es handelte sich um eine Spontandemonstration. Das glaubte der Polizist nicht, wurde aber vom Richter bestätigt. Nun, jedenfalls sollte dem Angeklagten das Megaphon abgenommen werden, worauf der sich um dieses geklammert habe, so dass ein Zugriff nicht möglich war. Daraufhin sei er durch den sich entwickelnden Tumult (bestehend aus PolizistInnen, prügelnden CDu-Leuten, PassantInnen und DemonstrantInnen) geschleift worden. Vor einem Polizeiwagen sei er abgesetzt worden, sodann ins Auto hineingesetzt worden. Als Walter den Angeklagten an den Füßen hochheben wollte, hätte dieser ihn mit einem gezielten Tritt an die Stirn verletzt. Dabei sei der Angeklagte bereits in der Schwebe gewesen. Das Megaphon hatte er wohl auch noch umklammert. Wie das ein Mensch schaffen soll, schwebend in so einer Situation gezielt zuzutreten, konnte der Beamte auch nicht erklären.

Mal kein Polizeizeuge
Dann kam ein Gegenzeuge an die Reihe. Er hatte die Angeklagten dort das erste mal gesehen und später nur noch einmal mit ihnen zu tun gehabt, als er gefragt wurde, ob er als Zeuge zur Verfügung stünde. Er war zum Zeitpunkt der Tat in einem Café nur wenige Meter entfernt gewesen und hatte die Situation beobachtet. Er schilderte, wie der Angeklagte von vier Polizisten, die offensichtlich überfordert waren und ihn schlecht tragen konnten, an allen vier Gliedmaßen geschleppt wurde. Dabei stoplerte mindestens ein Mal ein Polizist und brachte den Angeklagten damit auch zu Fall. In den Wagen sei er dann mehr oder weniger kopfüber hineingestopft worden und dann die Tür zugeworfen worden. Von einem Tritt hatte er nichts mitbekommen. Die Behauptung des Polizeizeugen Walter war gewesen, der Angeklagte sei in aufrecht sitzender Haltung in das Polizeiauto gesetzt worden, von außen habe mensch maximal den Kopf sehen können. Der unabhängige Zeuge dagegen erklärte, nur die Beine seien zu sehen gewesen... komisch.

Später ging es um den Vorwurf des Hausfriedensbruchs. Ein Angeklagter habe eine Stadtverordnetenversammlung gestört, indem er ein Transparent entrollte und Parolen gerufen habe. Das Tonband, das zu dieser Behauptung als Beweismittel hätte dienen können, wurde jedoch nicht gehört. Der Abgeordnete, der durch den Vorfall unterbrochen worden sein soll, sagte aus, sich dadurch nicht gestört gefühlt zu haben, sondern erst durch die Unterbrechung durch den Stadtverordneten-Vorsitzenden Herrn Geil. Es konnte nicht geklärt werden, ob derAngeklagte tatsächlich gestört hatte, oder nur dabeistand. Und auch, dass es viele ähnliche und sogar weitergehende Aktionen - u.a. von StudentInnen, Kindergartenkindern etc. - gab, die überhaupt nicht kriminalisiert wurden, wurde erörtert.

In einem anderen Vorwurf soll ein Angeklagter mit Schuhen, die niemandem gehören, die Grünberger Gallushalle bemalt haben. Nur weil er einen Tag später betreffende Schuhe an den Füßen hatte, die sich aber im Gemeineigentum befanden, also von jedeR getragen werden konnten, soll er der Täter gewesen sein.

Und nicht zuletzt der Vorwurf, die Grüne Bürgermeisterkandidatin von Giessen, Frau Gülle, bespritzt zu haben. Sie war dazugekommen, als ein Klappständer mit einem Wahlplakat von ihr mit einer Gießkanne begossen wurde, kam sie dazu und versetzte dem Angeklagten einen Faustschlag, der dessen Brille wegschmetterte. Dieser Schlag wurde in den folgenden Tagen von der Regionalpresse gefeiert und mehr davon gefordert. Der Angeklagte habe Frau Gülle in diesem Zusammenhang mit Wasser beschüttet. Bezeugen tat dies ein Polizeibeamter, der aber auch aussagte, es nicht gesehen zu haben. AUch der Staatsschutzmann Schmidt, der alles fotografiert hat, nur die interessanten Szenen nicht, behauptete dies selbst unter Eid. Er wird seine Polizeilaufbahn jetzt wohl beenden müssen, denn nach dem Meineidsverfahren und mindestens 3 Monaten Freiheitsentzug wird er wohl kaum noch bei der Polizei arbeiten dürfen. Die Person, die Frau Gülle tatsächlich begossen hat, hat sich nämlich bereiterklärt, eine Aussage zu machen.
Nun, das kreativste an dieser Tat ist jedoch, dass nach dem Faustschlag nicht die Schlägerin, sondern das Opfer verhaftet und angezeigt wurde - wegen Beleidigung, Sachbeschädigung und Körperverletzung. Körperverletzung und Sachbeschädigung erübrigten sich im Laufe der Verhandlung, aber die Beleidigung blieb, weil der Angeklagte zum Plakatständer "Hiermit pisse ich dich an" gesagt haben soll.

Später kamen weitere ZeugInnen-Vernehmungen; wesentliche Beweisanträge, die die Unschuld der Angeklagten bzw. die Unglaubwürdigkeit der Polizeizeugen belegt hätten, wurden jedoch nicht zugelassen. Noch am selben Abend begründete Richter Wendel mit Bezugnahme auf die Polizeizeugen, die ihn überzeugt hätten und ohne auf die GegenzeugInnen einzugehen, die Angeklagten seien zu 9 Monaten Freiheitsstrafe ohne Bewährung bzw. zu 100 Tagessätzen á 10,00 EUR verurteilt. Dass es keine Bewährung gibt, begründete er damit, dass der betreffende Angeklagte unverbesserlich sei, weil er die ganze Zeit über zwar nicht zugegeben hatte, die Taten begangen zu haben, aber solche Aktionen als begrüßenswert erklärte. Richter Wendel sah es zwar nicht in jedem Falle erwiesen, ob die Angeklagten, oder vielleicht doch andere AktivistInnen Plakate veränderten. Aber es sei doch wahrscheinlich, dass sie alle zusammen die Aktionen geplant hätten und deshalb müsste hart bestraft werden...
Indymedia ist eine Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann. Eine Überprüfung der Inhalte und eine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge finden nicht statt. Bei Anregungen und Fragen zu diesem Artikel wenden sie sich bitte direkt an die Verfasserin oder den Verfasser.
(Moderationskriterien von Indymedia Deutschland)

Ergänzungen

Ein etwas anderer Bericht...

Mischka 20.12.2003 - 20:30
zum Prozesss, der schon im Vorab geschrieben und dem Giessener Staatsschutz zugeschoben wurde, findet ihr hier:  http://de.indymedia.org/2003/12/70598.shtml

weitere Artikel

ein Überblick 22.12.2003 - 04:16
 http://www.projektwerkstatt.de/prozess/

Prozessbericht Giessen (SciFi-Version)
 http://de.indymedia.org/2003/12/70598.shtml

Marburg: Massive Farbattacken auf Behörden
 http://de.indymedia.org/2003/12/70441.shtml

Genauerer Bericht: Prozess in Giessen +Fotos!
 http://www.de.indymedia.org/2003/12/70410.shtml

Giessen: 9 Monate ohne Bewährung
 http://www.de.indymedia.org/2003/12/70184.shtml