18h Gewahrsam wegen Lesung in Giessen

DichterIn 11.12.2003 01:10 Themen: Repression
Am 09.12. gegen 23 Uhr wurden 12 Personen bei einer Gedichts-Lesung vor dem Amtsgericht durchsucht und anschließend in Unterbindungsgewahrsam genommen, obwohl bei der Durchsuchung keine "Beweismittel" gefunden wurden. Erst nach 18 Stunden konnten diese dann wieder gehen, nachdem das Gericht geprüft hatte, ob sie noch eine Weile (vermutlich bis Montag, da dann der Prozeß gegen zwei Projektwerkstättler ist) weiter hinter Gittern bleiben können. Alle Beteiligten haben einen Platzverweis auf unbestimmte Zeit für das Gerichtsgelände bekommen.
In der Polizeipresse haben sich die Bullen dann aber doch einen Grund ausgedacht. Angeblich hätten diese Personen Die Gerichte beschmieren wollen. Mit Gedichten?!?
Pressebericht

Wegen beabsichtigter Farbschmierereien: 11 Aktivisten in Gewahrsam
genommen

Gießen: Am Dienstag, dem 09.12.03, gegen 22.15 Uhr, wurden 12
Aktivisten am Eingang des Gebäudes der Staatsanwaltschaft Gießen in
der Marburger Straße angetroffen. Diese Gruppe hatte offensichtlich
die Absicht, Farbschmierereien zu begehen, da entsprechende
Utensilien mitgeführt wurden. Elf Personen wurden in Gewahrsam
genommen und am Mittwoch, dem 12.12.03, in den Nachmittagsstunden
wieder entlassen. Gegen zwei Personen besteht der Verdacht, dass sie
an den Farbschmierereien in der Nacht zum Mittwoch, dem 03.12.03, an
den Justizgebäuden beteiligt waren.


Ein Erfahrungsbericht

Um 22 Uhr sollte laut einer Ankündigung vor dem Amtsgericht in Giessen eine
offene Gedichtslesung stattfinden. Dort konnte jeder, der mochte eigene Gedichte vortragen. Als ich ankam, waren bereits neun Menschen anwesend, die auch sofort mit den ersten Gedichten begannen. Ca. 5 min später kamen zwei Zivil-Polizisten, die unsere Personalien feststellen wollten. Als Grund nannten sie, daß es vor drei Tagen Farbanschläge auf das Amtgericht gab (Fotos dazu unter:  http://de.indymedia.org//2003/12/68907.shtml). Vier weitere Personen kamen zum "Tatort" um der Gedichtslesung beizuwohnen und schienen ganz irritiert von dem Ordnungsmaßnamen. Nach einigen Diskussionen mit den Ordnungshütern, die nun schon zu acht waren, zeigten wir dann unsere Personalausweise und wurden anschließend durchsucht. Die Zahl der Polizisten (teils in Uniform, teils Zivil) stieg weiter, zu Ende kesselten sie uns mit ca. 20 Mann ein. Plötzlich tauchte der Einsatzleiter auf, um uns zu verkünden, daß wir alle in Unterbindungsgewahrsam genommen werden, worauf wir alle in Lachen ausbrachen. Ca. eine Stunde später kam dann auch schon der Gefangenentransporter, um uns (13 Personen) ins
Polizeipräsidium zu schaffen. Dort angekommen wurden wir alle nacheinander genau untersucht, die gesamte Prozedur dauerte Ungefähr 2,5 h, anschließend wurden wir in unsere Zellen verwiesen. Telefonate wurden mir untersagt. Ohne Begründung. Die Personen wurden nach Geschlecht geteilt und in zwei Gruppenzellen gesteckt, eine weibliche Person kam in eine Einzelzelle. Ich landete in der Gruppenzelle der
männlichen Personen. Dort herrschte super Stimmung, es wurde durchgehend gesungen und Sketche gemacht u.s.w. Nach ca. 2 Stunden ging mir dies jedoch ziemlich auf die Nerven und wurde dann auch glücklicher Weise in eine Einzelzelle verlegt (ohne das ich dazu aufgefordert hatte. Nachdem ich ca. 2 Stunden geschlafen hatte wurde ich von gellenden Schreien geweckt. "ICH WILL HIER RAUS", eine Person hatte sich im Klo eingeschlossen, da sie wegen Platzangst, auf die mehrmals hingewiesen wurde, nicht mehr in ihre Zelle zurückwollte. Die Schreie dauerten ungefähr eine halbe Stunde an, bis dann aus der Polizeikaserne mehrere
Bereitschafts-Polizisten kamen um die Person aus der Toilette zu ziehen. Unter lautem Geschreie wurde sie dann in eine Einzelzelle mit Videoüberwachung gesteckt. Nach endlosen Verhandlungen, daß dies absolut unmenschlich sei und weil eine Person sich nach einem Toilettengang weigerte, sich wieder in die Zelle zurückzubegeben, wurde die Person dann wieder mit den anderen Personen zusammengelegt, die dann ihr bestes gaben um diese zu beruhigen. Außerdem wurde die Person ärztlich behandelt. Doch Stille herrschte noch lange nicht. Aus der Gruppenzelle der männlichen Personen tönte Karnevalsmusik (fast die ganze Nacht hindurch). Der Polizei-Doc. musste noch zwei weitere Male kommen und sowieso war immer was los auf unserem Zelltakt, was den zuständigen Beamten zur Weisglut trieb. In den Mittagsstunden öffnete sich dann die Zelltür und ich wurde gebeten mitzukommen. Ich wurde erkennungsdienstlich behandelt (Fingerabdrücke, Fotos). Als ich den Grund erfragte, wurde mir mitgeteilt, daß ich unter dringendem Tagverdacht stehe, den Anschlag auf das Amtsgericht getan zu haben. "Wie kommen sie dazu mich zu verdächtigen" lautete meine Frage. Als Antwort wurde mir meine Hose, die mir am Vortag bei der Durchsuchung abgenommen wurde, unter die Nase. Ich verstand nicht. Dann deutete er auf einen roten Fleck auf meiner Hose. Ich verstand, rote Farbe am Gericht, rote Farbe auf meiner Hose. Einer weiteren Person wurden aus gleichen Motiven die Schuhe geklaut.. Nach 2 weiteren Stunden in der Zelle wurde ich, nach 18 Stunden Gesamtaufenthalt, dann endlich entlassen, inklusive den anderen 11 "Straftätern".

Außenblick
(Kurzer Bericht von einer Person, die noch woanders war, dadurch zu spät kam und nicht einfuhr ...)
0 Uhr ... Ankunft in der Projektwerkstatt. Fast leer. Nicht gut. Ein paar Anrufe in WGs, welche Leute fehlen. Verdacht erhärtet sich. Hier sind richtig viele Leute verschwunden. 3 Uhr nachts: Anruf aus dem Polizeiknast. 12 Leute sind dort. Naja. Erstmal ein paar Stunden schlafen. Dann:
- Rundrufen: Wir überlegen eine Demo für 16.30 Uhr in der Innenstadt von Gießen.
- Pressefax geht raus - bei der Gießener Presse ist eh nur zu erwarten, daß sie das an die Bullen weiterleitet. Und FR & Co. sind zu arrogant und antianarchistisch, um was über die Direct-Action-Gruppen in und um Gießen zu schreiben. Wäre jedenfalls das zu erwartende.
- Anruf im Polizeipräsidium ... viel Rumgedruckse, aber das reicht ja, um zu wissen, daß da noch alle gefangen sind.
- In der Unistreik-VV wird der Vorgang vorgestellt und zur Spontandemo eingeladen. Ca. 4 kamen dann auch.
- Anruf beim Amtsgericht im zweiten Versuch ... zum Haftrichter bzw. "Betreuer" des Falles. "Ich habe mit dem zuständigen Kommissariat geredet und es erledigt sich in ihrem Sinne". OK, das reicht ja - ab nach Gießen zur Demo. Kram gepackt und los.
- Ab 16.30 Uhr mit zwei Megafonen und einigen Schildern durch Gießen mit etwas mehr als 10 Leuten. Einige Gespräche mit PassantInnen. Rundherum etliche Zivilpolizisten. Die müssen den auch vorhandenen Ordnungsdienst erstmal beruhigen, der sich über das Megafon aufregen will. Kurz vor Ende der Demo: Die Gefangenen tauchen wieder auf ... währenddessen wird das Uni-Hauptgebäude von StudiaktivistInnen besetzt (endlich ...) und einige wechseln die Aktion :-)


Weitere Termine rund um Gerichte, Knäste und Justiz

14.12. Offener Abend, Thema "Knast und Strafe"
These: Knast macht alles schlimmer, draußen sieht man das nur nicht. Zudem bedeutet Kontrolle und Zwang immer eine Verschärfung der Neigung von Menschen zu Gewalt auch untereinander. Das wird ein Thema des Abends - und dann natürlich der Prozeß, Aktionsideen dazu und mehr.

12.-14.12. Seminar "Kreative Antirepression"
Wegen des bevorstehenden Prozeß (15.12.) gegen zwei Projektwerkstättler wollen sich verschiedenste Menschen treffen, um sich über kreative Möglichkeiten des Handelns bei Personalienfeststellung, Verhaftung, im Polizeikessel, gegen Knäste und Justiz oder im Gerichtssaal Gedanken zu machen. Übernachtungsmöglichkeiten sind kein Problem

15.12. 8:30 Uhr, Amtsgericht, Prozeßauftakt gegen Projektwerkstättler
Im Saal 100a stehen zwei Projektwerkstättler vor dem Strafrichter. Ginge es nach der Staatsanwaltschaft und den dahinterstehenden Scharfmachern des Staatsschutzes
sowie von law-and-order-Innenminister Bouffier, dann sollen die Projektwerkstättler in den Knast für Vorfälle, wo vor allem die Polizei übelst zuschlug. Der Gerichtsprozeß ist für Publikum offen...nicht entgehen lassen (und kreative Ideen mitbringen)
Mehr:  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/prozess1.html
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Ergänzungen

PRESSEMITTEILUNG EINES BETROFFENEN

wieder in Freiheit 11.12.2003 - 19:07
18 Stunden Gewahrsam wegen Gedichte-Lesung auf Gerichtsgelaende

Fuer den 09.12.03 wurde im Internet eine offene Lesung auf dem Gerichtsgelaende
an der Ostanlage angekuendigt. Gegen 22 Uhr fanden sich am Eingangsbereich der
Staatsanwaltschaft - der hellste Punkt des Gelaendes, der fuer eine Lesung
ueberhaupt geeignet war - 14 Personen ein. Bereits nach wenigen Minuten wurde
die Veranstaltung von Zivilpolizisten angesprochen und den Anwesenden die
Herausgabe der Personalien angeordnet. Da die Gruppe darauf vorerst nicht
reagierte und mit der Lesung fort fuhr, forderte die Beamten in zivil
Verstaerkung an. In kurzer Zeit umstellten mehrere Einsatzfahrzeuge und eine
Reihe Polizisten die Gruppe. Nach und nach wurden die Personalien aufgenommen
und saemtliche Personen koerperlich durchsucht. Gefaehrliche Gegenstaende wurden
dabei nicht gefunden.

Ein hochrangiger Polizeibeamter hatte gegenueber einem Betroffenen ausgesagt,
dass alle Personen einen Platzerweis erteilt bekommen wuerden. Nach Abschluss
der Personenkontrollen und Durchsuchungen kam es aber noch viel dicker: 12
Personen wurden fuer 18 Stunden in Gewahrsam genommen. Eine Begruendung dafuer
gibt es bis heute nicht. "Es ist voellig unbegreiflich, was am Abhalten einer
Lesung die oeffentliche Sicherheit gefaehrden sollte. Die Polizei muss sich
fragen lassen, ob sie hier nicht einfach mit allen Mitten Ansaetze erdruecken
will, die sich nicht in die Normalitaet einordnen wollen.", meint einer der
Betroffen zu dem Vorgang. Waehrend des Gewahrsams konnte nur aufgrund des
massiven Drucks Telefongespraeche oder Getraenke durchgesetzt werden. Am Mittwoch
gegen 17 Uhr wurden die 12 Personen wieder frei gelassen. Eine Begruendung fuer
den Gewahrsam liegt immer noch nicht vor.

"Polizei betreibt Rufmord"
In der Pressemittelung der Polizei heisst es dazu: "Am Dienstag, dem 09.12.03,
gegen 22.15 Uhr, wurden 12 Aktivisten am Eingang des Gebaeudes der
Staatsanwaltschaft Giessen in der Marburger Strasse angetroffen. Diese Gruppe
hatte offensichtlich die Absicht, Farbschmierereien zu begehen, da
entsprechende Utensilien mitgefuehrt wurden." Bei den Durchsuchungen wurde
tatsaechlich ausser Zetteln mit Gedichten keine Gegenstaende (Spraydosen, Farbe
usw.) aufgefunden, die fuer solche Aktionen geeignet waeren. "Wer sich im
hellsten Bereich der Gerichtsgelaende zu einer im Internet angekuendigten Aktion
versammelt, plant dabei sicher keine Farbanschlaege. Das ist doch absurd." Meint
Patrick Neuhaus, und erhebt schwere Vorwuerfe gegen die Polizei: "Da die Polizei
das selbst genau gewusst hat, kann man davon ausgehen, dass hier vorsaetzliche
mit Luegen gearbeitet wird, um ueberhaupt plausibel machen zu koennen, warum
Anwesende einer Lesung fuer 18 Stunden der Freiheit beraubt werden." Da die
Polizei verpflichtet ist, saemtliche Massnahmen genau zu dokumentieren, sei
ueberpruefbar, ob die Sicherstellungen von Spruehdosen oder Farbe erfunden oder
wahr sei. Vor diesem Hintergrund seien kritische Nachfragen und eine
oeffentliche Auseinandersetzung mit den Vorgaengen erforderlich. "Vielleicht ist
man nervoes wegen dem Prozess am 15.12.03. gegen zwei Projektwerkstaettler."

Mit der Bitte um Abdruck,
Patrick Neuhaus, einer der Betroffenen


Nachfragen unter 06401-903283,
Informationen im Netz: www.projektwerkstatt.de/prozess
(dort auch eine Liste von erfundenen Straftaten seitens der Polizei, Presse
...)

geplante aktion

mupf 11.12.2003 - 19:53
die ganze aktion scheint von seite der bullen schon geplant gewesen zu sein. dafür spricht zumindest, dass sie ALLE anwesenden eingefahren haben, ohne grund, und die betroffenen gerne bis montag drinnen behalten hätten. die angaben aus der pressemitteilung sind erfunden, es hatte niemand materialen zur verschönerung von gebäuden bei sich, nicht mal einen edding. die giessener repressionsbehörden scheinen ganz schön angst zu haben, dass vor dem prozess gegen zwei projektwerkstättler noch aktionen laufen und haben die lesung am amtsgericht als willkommenen anlass genommen, einen grossteil der aktivistinnen aus dem umfeld der prowe einzusperren. daher scheint es eben auch wahrscheinlich, dass die begründung für die gewahrsamnahme schon vorher fest stand.

neue internetseiten zum prozess

Projektwerkstätti 11.12.2003 - 23:57
Zum bevorstehenden Prozess sind mehrere neue Internetseiten entstanden, u.a. mit Zusammenstellungen von Pressehetze, Filz zwischen Polizei/Regierung/Presse und Beispiele für komplett ausgedachte Straftaten aus den letzten Monaten - sowas wie die erfundenen Farbschmiererei-Utensilien sind ja kein Einzelfall. Von der genannten Adresse kommt Ihr auf die verschiedenen Seiten.

Nicht vergessen: Freitag, 12.12., 18 Uhr Infoabend in der Projektwerkstatt. Anschließend am Wochenende ein Seminar zu allem (kreative Antirepression). Und dann am Montag 8.30 Uhr der Prozess. Nicht nur zugucken ...