Neue fragwürdige Praktik am UN-Tribunal

Kirsten Anderberg; Übersetzung: Kh. 28.11.2003 01:46 Themen: 3. Golfkrieg Militarismus
Das berüchtigte Plea Bargaining*, das dem amerikanischen Justiz- und Vollzugswesen zu schaffen macht, wird jetzt unter dem Druck der Bush-Regierung auch vom UN-Kriegsverbrechertribunal übernommen.
UN-Kriegsverbrechertribunal übernimmt amerikanische Plea Bargains-Praktik -
26. Nov. 2003

Die berüchtigte Plea-Bargain-Praktik*, die dem amerikanischen Justiz- und Vollzugswesen zu schaffen macht, wird jetzt unter dem Druck der Bush-Regierung auch vom UN-Kriegsverbrechertribunal übernommen. Da dieses mit den Verfahren zu den Kriegsverbrechen im Balkan der 1990er Jahre im Rückstand ist, will die UN diesen Rückstand ?auf einmal aufarbeiten?, indem Urteile im Gegenzug zur ?Mitarbeit? und zu Schuldeingeständnissen der Angeklagten herabgesetzt werden. (New York Times vom 18. 11. 2003, Seite 1)**

Die Einführung des Plea Bargaining beim UN-Tribunal ist eine Reaktion auf die Bush-Regierung, die für fast ein Viertel des Budgets des Tribunals aufkommt. Die Regierung Bush ist ungeduldig und hat gefordert, daß die Ermittlungen in den Fällen von Kriegsverbrechen auf dem Balkan im nächsten Jahr beendet und alle Prozesse 2008 abgeschlossen sein sollen. P. R. Prosper, Abgesandter der Bush-Regierung für Fälle von Kriegsverbrechen, setzt die UN-Gerichte mit neuen Verfahrensregeln unter Druck, wie Einengung der gerichtlichen Beweisführung und die Zulassung der schriftlichen Zeugenaussage, sowie eine neue ?Endstrategie?. Diese neue Strategie ähnelt der US-amerikanischen Reaktion auf ihre überfüllten Gefängnisse und Justizeinrichtungen. Das derzeit im US-amerikanischen Justizwesen übliche Ausleseverfahren findet jetzt im Gericht statt. Sie nehmen die am längsten einsitzenden Gefängnisinsassen für die schlimmsten Verbrechen und präparieren sie für einen Plea-Bargain?Prozeß. Die als weniger bedrohlich eingestuften Kriminellen werden an die unteren Instanzen zurückverwiesen. 62 Ermittlungen werden jetzt vom Tribunal eingestellt, um sich dafür auf einige wenige der länger einsitzenden Insassen zu konzentrieren.

Zwischen 1996 und 2003 haben sich 16 Angeklagte vor dem Tribunal schuldig bekannt. Acht von diesen 16 Schuldgeständnissen kamen nach Mai 2003 zustande, als das Plea-Bargain-Verfahren eingeführt wurde. Die Verteidiger jubeln (?), und einer sagte anläßlich dieser Schuldeingeständnisse auf dem Wege des Plea Bargaining: ?Wir sehen da einen Schneeball-Effekt ...? P. Banović bekannte sich am 8. Oktober 2003 schuldig, im Gefangenenlager Keraterm 5 Insassen getötet und 27 weitere geschlagen zu haben. Durch sein Schuldeingeständnis auf dem Wege des Plea Bargaining wurde seine Gefängnisstrafe auf 8 Jahre reduziert, was bei guter Führung 6 Jahre bedeuten könnte. Untergeordnete Gefängniswärter aus ähnlichen Lagern aber, die sich nicht schuldig bekannten, erhielten 20 Jahre Gefängnis. In Banovićs Fall erhob zwar Richterin P. Robinson Einspruch mit der Begründung, daß diese Kriegsverbrecher längere Gefängnisstrafen verdienen würden, aber da beim Plea Bargaining auf jedes Recht auf Berufung verzichtet wird, bleibt das Urteil ungeachtet dieses Einspruchs bestehen. Einer dieser wahrhaft hinterhältigen Bestandteile des Plea Bargaining besteht in einer Klausel, wonach man nach einer solchen Abmachung auf alle Rechte auf Berufung verzichtet. Ich denke, das paßt zu den Plea Bargains, weil sie so korrupt und suspekt sind, daß sie nur Bestand haben, wenn jede nochmalige Überprüfung von vornherein ausgeschlossen wird.

Ankläger feiern die neuen Verfahrensregeln des Tribunals als einen Sieg, indem sie schnelle Verfahren und (unter Zwang abgelegte) Geständnisse, wie auch neues Beweismaterial als Vorteile des neuen Systems anführen. Hohe Gerichtsbedienstete am Tribunal sind jedoch schockiert, Organisationen, die sich für die Rechte der Opfer einsetzen, sind empört. Rechtsexperten und Richter sagen, die Eile, mit der der Terminplan erledigt werden soll, könnte die Glaubwürdigkeit des Tribunals unterminieren. Ein Rechtsanwalt äußerte, er frage sich, ob die Eile, mit der das Arbeitspensum erledigt werden soll, mehr gelten solle, als das Interesse an der Gerechtigkeit. Richter David Hunt, ein Berufungsrichter in Den Haag und früherer Richter am Obersten Gerichtshof in Australien, ärgert sich über diese Strategie und sagte, das Tribunal werde nicht danach bewertet, wieviele Fälle es bearbeite oder wie schnell sie bearbeitet würden, ?sondern nach der Gerechtigkeit seiner Gerichtsverfahren?. Richter Hunt erklärte, er sei gegen die Plea Bargains, weil sie die Anklagevertretung begünstigten, nicht aber die Angeklagten. Er meinte, durch diese Plea Bargains ?werde das Ansehen dieses Tribunals zunehmend Schaden erleiden.? Richter Hunt geht im November in den Ruhestand, was möglicherweise seiner stoischen Ehrlichkeit etwas nachgeholfen hat, aber er sagte, er fühle sich verpflichtet, Kritik an dem neuen Trend zu üben, daß Richter die Anklagevertreter bei der Beschleunigung der Verfahren unterstützen.

US-amerikanische Anwälte IN DER ANKLAGEVERTRETUNG haben dem UN-Kriegsverbrechertribunal das neue Plea-Bargaining-System vorgeschlagen. Die New York Times berichtet, ein ?höherer Anklagevertreter, der nicht identifiziert werden wollte? habe gesagt: ?Die Erleichterung von Schuldeingeständnissen ist vom Standpunkt des Managements aus gewiß sinnvoll?. Ich finde es sehr interessant, daß dieser Beamte nicht identifiziert werden wollte. Warum wollte er seine Identität verbergen, als er über Plea Bargaining am Tribunal sprach? Das amerikanische, britische und kanadische Plea-Bargaining-System ist sehr belastet und jeder weiß das. Wie Richter Hunt ausführte, erlauben die Plea Bargains dem Richter, ungerechterweise mit der Anklagevertretung in einem Team zusammenzuarbeiten, und so ist das Verfahren einseitig nach der Anklageseite hin ausgerichtet, zu ungunsten der Angeklagten. Richter T. Meron ist der Vorsitzende des Tribunals, aber da er aus den Vereinigten Staaten kommt, argumentiert er, er sehe keinen Fehler am Plea-Bargain-System, in dem er ausgebildet wurde und das er als amerikanischer Anwalt und Richter praktizierte. Er behauptete, die Übernahme des Plea Bargaining durch das Tribunal bedeute für dieses ein ?Erwachsenwerden?. Die dieses neue Plea-Bargain-System rechtfertigen, heiligen den Zweck durch die Mittel. Sie behaupten, sie erhielten durch die Plea Bargains Hinweise und Einzelheiten über Verbrechen. Dieses Verfahren ist ein heißes Thema im UN-Gefängnis, das 51 Insassen beherbergt, darunter auch S. Milo?ević.

Aber diese Auseinandersetzungen im UN-Tribunal über das Plea-Bargaining sollten auch in amerikanischen Gerichtsgebäuden und Gefängnissen stattfinden. Wie jede(r) sehen kann, haben diese Absprachen (Plea Bargains) etwas Obskures an sich. Es sind erzwungene Erklärungen, die unter äußerstem Zwang abgegeben wurden. Dabei gibt es ohnehin nicht den mindesten Verhandlungsspielraum. Viele dieser Absprachen werden unter der Bedrohung gemacht, daß die Angeklagten sonst ihr Leben verlieren, wie im Mordfall Green River. (Dem Angeklagten) Ridgeway drohte die Todesstrafe, und er verhandelte mit der Anklage, um sein Leben zu retten. Höhere Staatsanwälte wollen nicht, daß ihr Name angegeben wird, wenn sie gegenüber der New York Times über Plea Bargaining reden. Die Gerichte glauben so wenig an die Gültigkeit des Plea-Bargaining, daß sie jede Berufung als Bestandtteil dieses Verfahrens ausschließen. Es wird mit Sicherheit die Glaubwürdigkeit des UN-Kriegsverbrechertribunals untergraben. Wegen der acht Schuldgeständnisse seit Mai 2003 hat es bereits Mißfallen erregt. Lassen wir diese Plea-Bargaining-Epidemie nicht auf die UN übergreifen. Es dient in Amerika nicht der Gerechtigkeit und den Angeklagten, es dient der Anklagevertretung und dem (Justiz-)Management. Richter Hunts Kritik am Plea-Bargain-System der UN kann auch für alle US-Gerichte gelten. Amerika hat seit langem an den Strafgerichten Fairness und Gerechtigkeit zugunsten der Anklage und rationeller Kosten geopfert. Es ist wirklich ein trauriger Tag für uns, an dem dieses dämonische System jetzt das UN-Tribunal infiziert. Nunmehr sind alle Schuldgeständnisse vor diesem Tribunal dem Verdacht ausgesetzt, unter Zwang abgegeben worden zu sein, ebenso wie alle durch derartige Absprachen zustandegekommenen Schuldbekenntnisse in den USA.

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* Absprache zwischen Anklage und Verteidigung zwecks Beschränkung der Anklage auf einzelne Punkte oder des Strafmaßes. Der Angeklagte bekennt sich eines geringeren Straftatbestands schuldig, als die Anklage lautet, wodurch das Verfahren abgekürzt werden kann.

** Marlise Simons: ?Plea Deals Being Used to Clear Balkan War Tribunal?s Docket?, New York Times vom 18. Nov. 2003; Abstract dieses Artikels:  http://query.nytimes.com/gst/abstract.html?res=FB0D14F8355C0C7B8DDDA80994DB404482
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Ergänzungen

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Kh. 28.11.2003 - 02:22
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