Russland: Erlebnisbericht vom Wohnheimbrand

Jenz Steiner 26.11.2003 18:40 Themen: Bildung Weltweit
In der Nacht vom Sonntag zum Montag brach im Korpus sechs der Studentenwohnanlage der Universität der Völkerfreundschaft im Südosten Moskaus ein Feuer aus, das 36 Menschen das Leben nahm. 170 Menschen liegen noch in den Krankenhäusern der Stadt. Ein anfänglich vermuteter Anschlag mit rassistischem Hintergrund wird mittlerweile ausgeschlossen. In den russischen Medien ist heute von einem Kurzschluss als Brandursache, die Rede. Hier ein Erlebnisbericht vom Montag.
Ich war gerade auf dem Weg von der Metrostation Yugo-Zapadnaya im Südwesten Moskaus richtung Belyaevo. Eine triste Plattenbaugegend, zugeschneit wie die restliche Stadt. Ich komme mehrmals in der Woche dort vorbei. Manchmal laufe ich, manchmal nehme ich ein Marshrutnoe Taksi oder den Ikarus-Bus, der genauso lang braucht wie ich zu fuss. Am Montag Mittag bin ich gelaufen. Mein Weg führt vorbei an der Universität der Völkerfreundschaft auf der rechten und der Studentenstadt auf der linken Seite. Bereist vor einem halben Jahr war ich schon einmal in der Studentenstadt und habe russischen Breakern beim Tanz-Training zugesehen. Die Wohnbedingungen der Studierenden dort sind verglichen mit westlichen Studentenwohnheimen miserabel. Ungeziefer in den Etagenküchen, verstopfte Müllschlucker, grantige Etagendamen, beschlagene, abgeklebte Fenster, in denen die Wäsche zum trocknen hängt, kaputte Steckdosen, von den Wänden und Decken abblätternde Farbe, trübseelige Atmosphäre.

Im Pinguinschritt watete ich über die dick überfrorene Schneedecke. Es hatte die ganze Nacht geschneit und nun verwandelte sich der Schnee in Eisregen. Andauernd sah ich Leute umknicken, ausrutschen und stürzen. Streuen ist in Moskau sinnlos. Ich näherte mich dem Studentenstädtchen hinter dem Neu-Russen-Restaurant "Zu Baron Münchhausen" gegenüber dem Hauptgebäude der Universität der Völkerfreundschaft. Das Studentenstädtchen besteht in erster Linie aus kleinen fünfetagigen Plattenbauten im Stil der späten siebziger und frühen achtziger Jahre mit grossen Glasfenstern und grauer Fassade. Ein paar Hochhäuser stehen auch dort. Viel Betrieb herrschte auf den Wegen. Auf dem Gelände befindet aich auch das Fremdsprachenzentrum. Bis dahin war alles ganz normal. Es war bereits gegen 13 Uhr. Mittagszeit. Aus der Ferne sah ich zuerst zwei Krankenwagen, dann ein Milizfahrzeug, eine Art mobile Einsatzleitung, dass mich sofort an die Bilder vom Nord Ost Theater vor einem Jahr erinnerte. Ich weiss nicht warum mir gerade der Gedanke durch den Kopf schoss. Ich kam näher, sah ein marodes Feuerwehrauto und mehrere Milizionäre in gelben Vesten am Strassenrand stehen. Es zwickte in der Nase, doch war es nicht die Kälte, sondern der noch vor sich hin qualmende, schwarze Fünfgeschosser zu meiner linken.

Ich schlitterte zu einem Durchgang im Zaun, schob das rot-weisse Trassierband beiseite und bewegte mich zu der qualmenden Ruine. Etwa vierzig Menschen standen vor dem ausgebrannten Plattenbau. Viele Studenten, ein paar Journalisten. Ein chinesischer Student sagte zu einem anderen in gebrochenem Russisch: "Ein Glück, dass von unseren Leuten keiner da drin war." Von Verletzten oder gar Toten wusste hier niemand wirklich etwas. Die ausländischen Journalisten, und auch ich hatten arge Probleme überhaupt etwas zu erfahren. Hier und da mutmasste jemand etwas von einem rassistisch motivierten Überfall, von Skinheads. Doch ein Landeskundelehrer eines benachbarten Institutes schloss dies aus. ?Die gehen nicht in Wohnheime. Die greifen die Leute auf der Strasse an. Im Wohnheim gibt es schliesslich Wachschutz nd zu viele Zeugen.? Besonders aus dem hinteren Teil des Gebäudes stieg noch viel Qualm. An den Flurfenstern standen Feuerwehrleute und starrten ins leere. Milizionäre mit Papirossi im Mund sicherten den Eingang und die Seiten des Gebäudes. Das vom Schrecken gezeichnete Gesicht einer schwazen Frau, die kopfschüttelnd auf den rauchenden, schwarzen Block starrte, werde ich nicht so schnell vergessen. Auf den Scheiben der Feuerwehrfahrzeuge vor dem russchwarzen Plattenbau hatte sich eine wellige Eisschicht festgesetzt. Es war auch bitterlich kalt. Ein Aspirant der Medizinischen Fautät fühlte sich an einen Brand in einem Wohnheim der Moskauer Staatlichen Lomonossov-Universität , nicht weit von hier, am Prospekt Vernadzkogo erinnert, bei dem zwei chinesische Studenten ums Leben gekommen sein sollen, weil sie aus dem zweiten in den ersten Stock mit dem Fahrstuhl flüchten wollten.

Vor den Toren hatten die russischen Fernsehsender RTR und NTW ihre Satelitenschüsseln im Schnee aufgestellt. Einen Block weiter parkten 20 oder 30 Krankenwagen privater Rettungsdienste, die wahrscheinlich noch auf das grosse Geschäft hofften. Wieviel Verletzte es hier gegeben hatte, war hier nicht rauszufinden. Alle waren genauso zufällig hierher geraten wie ich. ?Ich kenne hier niemanden, ich studier hier nur.? Sagte ein russischer Student. Vor dem Studentenklub und auf der Strasse parkten schwarze Fahrzeuge mit rot-weissem Diplomatenkennzeichen. Wahrscheinlich wollten die Botschaften der Länder aus denen, die Studenten des Wohnheims stammten, näheres über den Brand erfahren. Es war schon eine eigenartig bedrückende Atmosphäre vor Ort. Doch niemand schien hier zu wissen, was hier nur wenige Stunden zuvor geschah. Ich sah einen jungen Mann mit einer genähten Platzwunde am Kopf, wollte ihn aber nicht ansprechen, da er sicher gerade andere Sorgen hatte.

Ich hatte nicht so viel Zeit, musste weiter, mich um meine Sachen kümmern. Für mich war es bis dahin nichts als ein ganz normaler Hausbrand, wie er hier eigentlich schon fast auf der Tagesordnung steht. Erst kürzlich las ich in einer Moskauer Tageszeitung einen Fünfzeiler über 40 verbrannte Psychiatrie-Patienten, einen anderen Tag eine ebenso kleine Meldung über ein eingestürztes Haus, in dem sich einige Obdachlose befanden und unter den Trümmern begraben worden. Damals war ich noch beeindruckt, dass diese Ereignisse nicht weiter thematiesiert wurden. Und hier rechnete ich mit einem 20-Sekunden Beitrag in den Abendnachrichten auf NTW und RTR.

Erst als mich am frühen Abend panische, teilweise sogar vorwurfsvolle Anrufe und e-mails aus Deutschland erreichten, begann ich mir dessen bewusst zu werden, was dort eigentlich geschehen war. Von mittlerweile 136 Toten und 170 Verletzten hat am Montag Mittag in der Ulica Miklukho-Maklaya vor dem Korpus 6 der Studentenstadt niemand gewusst.
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Ergänzungen

Frage

Gerrit 26.11.2003 - 23:52
Ist das die (ehem.?) "Patrice Lumumba"-Uni, zu der das Wohnheim gehört?

Antwort

kominformbjuro 27.11.2003 - 11:55
Ja.

Lage in Moskau nach dem Brand

Jenz Steiner 27.11.2003 - 13:37
Unter den Moskauern ist die Stimmung gemischt. Sie reicht von Gleichgültigkeit bis zu tieder Trauer und Bestürztheit. Insbesondere ausländische Studenten und teilweise auch Lehrer haben sich zusammengeschlossen, um die Überlebenden und Hinterbliebenen zu unterstützen.
Zum Beispiel durch Sachspenden, Übersetzungsarbeit in den Krankenhäusern oder einfach nur seelische Betreung. Unter den Verstorbenen waren auch zwei Professoren der biologischen Fakultät der MGU.

In vielen Einrichtungen der Stadt, besonders in Wohnheimen wurden Brandschutzbelehrungen durchgeführt und die Verwendung von Wasserkochern verboten. Teilweise wurden diese eingesammelt und verwahrt.
Mitarrbeiter der Universitäten müssen beim Verlassen ihrer Arbeitsstelle unterzeichnen, dass sie alle elektischen Geräte ausgestellt haben.