ESF Paris, Das Europa der Plätze - Ivry

Günter Melle 20.11.2003 15:08 Themen: Globalisierung Soziale Kämpfe Weltweit
War das ESF Paris das Treffen einer antagonistischen Linken? War es die Entfaltung von Basisbewegung und Widerspiegelung der sozialen Kämpfe der Menschen in Europa? War es ein Fortschritt gegenüber Florenz 2002? Der Artikel greift einige dieser Fragen auf, in dem er in mehreren Beiträgen auf die Plätze des Sozialforums in Paris eingeht.
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Das Europa der Plätze
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v. Günter Melle

14.11.2003./// Früh der Morgen. Der Bus quält sich im Schritttempo über die Mehrspurtrasse durch die Vorstädte der französischen Metropole Paris in Richtung Ivry. Am Vorabend lief noch die Nachricht vom Bombenattentat in Nassiriya und den Aktionen der italienischen Delegierten vor der Botschaft in Paris über die Breitbandkabel. Ihre Forderung: Rückzug der Carabiniere-Einheiten aus dem besetzten Irak. Im Bus selbst ist der Anschlag aus dem sunnitischen Widerstand kein Thema. Es sind nicht unsere Soldaten, ein Sonderkommando aus Calw hätte vielleicht etwas mehr Gesprächsstoff zu früher Morgenstunde gegeben und überhaupt befinden wir uns in einigen Stunden im Krieg der Städte. Der Kapitalismus ist eine Kultur des Todes. Wer achtet schon darauf, wenn die Totenglocke läutet und wer hat schon gehört, dass Beerdigungsunternehmen in diesen guten Zeiten des Sterbens Konkurs anmelden. Im Dickicht von Blech, Plastik und elektronischen Leiterbahnen, beim Ton heulender Sirenen der Ambulanzen und Feuerwehr, kurz vor Paris, sind wir immer noch Fracht, die "wohlbehalten" abgeliefert werden muss. Der Busfahrer tut sein Möglichstes, nach acht Stunden Fahrt war mein Vertrauen nur zeitweilig erschüttert. Draußen suggeriert eine überdimensionale Tafel Sicherheit: Sicherheitsreifen, Sicherheitsgurt, Sicherheitsabstand, Sicherheitsstreifen.

In Ivry dann über die Seine, von weitem sind die Symbole der Stadt sichtbar: Ganz Paris träumt von der Liebe. Die Unterhaltungsindustrie hat meiner Generation die Clichees schon damals ins Gehirn geprügelt. Es war der Anfang der deutsch-französischen Verständigung. Ich hab' mit meinen ganz eigenen "Clichees" zu kämpfen. Zuletzt war ich '68 in dieser Stadt, nicht in Ivry, im Quartier Latin. Es war die Zeit, da die bürgerlich konservative Regierung De Gaulle die Koffer packte und sich aus Paris zurückzog. Es war die Zeit als eine PCF (Kommunistische Partei Frankreich) den Widerstand der Studenten, Arbeiter und Bauern bremste und sabotierte und sich der Bourgeoisie als staatserhaltende Kraft anbot.

22.3.1968 - Erste Aktionen der Studenten an der Universität Nanterre. 3.5.1968 - Enragés der Universität Nanterre besetzen die Sorbonne. Höhepunkt der Studentenrevolte und Beginn der Maiereignisse. 13.5.1968 - Generalstreik. 27.5.1968 - Unterzeichnung des Abkommens von Grenelle zwischen Regierung und Gewerkschaften. 29. Mai 1968 - die Regierung De Caulle packt die Koffer und flieht heimlich nach Baden-Baden.


14.11.2003./// Ivry sur Seine./// Am gleichen Ort, an dem im Mai 1968 die Arbeiter gegen die Kompromisse von Gewerkschaftsführung und KPF mit der bürgerlichen Regierung demonstrierten, nur etwas mehr zugebaut mit Beton, begrüßt uns das Hotel de Ville, das Bürgermeisteramt, ganz offiziell. Ein gegenüberliegendes Gebäude dient der Akkreditierung der ESF-Delegierten, die in Ivry untergebracht sind. Bienvenue, heißt es in der ESF-Broschüre mit einem Vorwort des kommunistischen Bürgermeisters Pierre Gosnat. Der Leser erfährt in der Broschüre: "Zur Bekämpfung der Krise der Politik und der Bürgerbeteiligung entwickelt die Stadtverwaltung partizipative Demokratie und eröffnet Entscheidungsräume für die gesamte Bürgerschaft. Die Beherbergung des Europäische Sozialforums ordnet sich in dieses allgemeine Vorgehen ein." (Ivry sur Seine acueille l'ESF, S.22). Übersetzungsfehler? Freudsche Fehlleistung? Realität? Ist partizipative Demokratie eine Sache der Stadtverwaltung? Die französische Version ist ebenso zweideutig. Was die Gemeindeverwaltung Ivry unter partizipativer Demokratie versteht, ist dann auf Seit 24 nachzulesen: "Zu allen wichtigen Themen, die das Leben der Bewohner beeinflussen, organisiert der Gemeinderat Debatten und Bürgerbegegnungen auf Bezirksebene." Und weiter: "Mitbestimmung ist Voraussetzung bei jedem städtischen Gestaltungsprojekt!" Die Bilder zu diesem Teil der Broschüre sind jedoch eindeutig: von dem durch kulturelle Verschiedenheit mit Gesichtern aus der ganzen Welt geprägten Stadtteil, ist dort nichts zu sehen.
Im Vorwort des Bürgermeisters selbst heißt es: "Unsere Stadt ist eine Friedensbotin. Unsere Bevölkerung ist von dieser Geschichte gezeichnet. Gezeichnet auch durch die Kolonialzeit und die Entkolonialisierung, was dieser Stadt ein Gesicht der Rassenvermischung, des Reichtums an der weltweiten Kulturvielfalt verleiht..." Hier zeigt die deutsche Fassung ganz eindeutige und recht prekäre Übersetzungsfehler (ce la donne un visage metisée, riche des differences, des cultures du monde entier...). Beim Lesen der Lektüre dieser Broschüre, die vor Geradlinigkeit kommunistischer Politik nur so strotzt, bleibt ein Unbehagen. Im Geschichtsteil wird das heikle Thema Mai 1968 ausgeklammert, mit keinem Wort erwähnt.

Zur Sozialpolitik heißt es: "Allen Bürgern, ungeachtet Ihres Einkommens den Zugang zu einer Wohnung, zur ärztlichen Versorgung, zur Kultur und zur Bildung ermöglichen. Dies ist die Grundlage zur städtischen Sozialpolitik in einem Umfeld zunehmend sozialer Schwierigkeiten..." Und weiter: "Wie könnte man eine Politik des Kampfes gegen die Ungleichheit führen, ohne gleichzeitig die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen? Darum unterstützt die Gemeindepolitik auch die Niederlassung von verschiedenartigen Arbeitsplätzen und Mehrwert schaffenden Wirtschaftsunternehmen."

Um zu verstehen, was Parteien der "Linken" sagen, wie ehrlich sie denken, was sie in Wirklichkeit meinen, ist es nötig, ihre Geschichte zu kennen. Um zu verstehen, welchen Gefahren die neue Bewegung ausgesetzt ist, ist es nötig, die Kräfte einschätzen zu können, die versuchen als Trittbrettfahrer aufzuspringen. Sie kommen alle aus einer Linken, die mit dieser Gesellschaft von Krieg und sozialem Elend ihren Frieden geschlossen haben. Für sie ist Neoliberalismus ein Fremdwort, die Geschichte der sozialrevolutionären Ideen ein Pool aus dem man schöpft, um die eigene Geschichte zurecht zu kleistern. Es ist nicht nötig, weit in die Geschichte zurückzugehen. Das Beispiel der KPF der letzten 5 Jahre zeigt sehr klar, wohin sich ein Partei unter dem Etikett "fortschrittlich" manövrieren kann.

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Hammer und Sichel in Frankreich
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Vom 3. bis 6. April 2003 zog die Kommunistische Partei Frankreich ihren 36. Nationalkongress durch. Dies fast ein Jahr nach den Präsidentschafts- und Wahlen zur Nationalversammlung, bei denen die Partei das niederste Wahlergebnis ihrer Geschichte erzielte: 3,4%. Zum ersten Mal auch in der Geschichte dieser Partei geschah es, dass das vom Parteigremium vorbereitete Dokument zum Parteitag nur 55% der Stimmen erhielt und lediglich 35% eingeschriebenen Mitglieder darüber abstimmten. Seit Ende der 90iger Jahre versuchte die Leitung der PCF die Verantwortung für ihren reformistischen Kurs der sozialistischen Partei anzuhängen, mit der sie eine Koalition eingegangen ist. Doch dieser Mechanismus funktioniert heute nicht mehr und die militanten Kommunisten verschließen nicht mehr ihre Augen. Zwei Dokumente, welche die ausscheidende Parteileitung von links kritisierten, erhielten auf dem Parteitag 45% Zustimmung. Angesichts der fast starren Situationen unserer "Parlamentslinken" fast schon ein Wunder. Was ist geschehen?

Die PCF galt in der Nachkriegsära als eine der unflexibelsten Parteien im kommunistischen Spektrum der westlichen Länder. Beim Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten, 1968 in die CSSR, war sie eine der ersten, die ihr Placet gab, und das Niederwalzen des Prager Frühlings durch die sowjetische Nomenklatura guthieß. Im gleichen Jahr würgte sie im eigenen Land die revolutionäre Bewegung von Studenten und Arbeitern ab, und sie war weder Willens noch in der Lage, die Schwäche der herrschenden Klasse Frankreichs für eine grundlegende Änderung der sozialen Lage zu nutzen. Seither dümpelte sie vor sich hin, versuchte ihr Heil als Wahlpartei immer wieder im Bündnis mit den Sozialisten, wobei sie nicht davor zurückschreckte ausländerfeindliche Stimmungen in der Arbeiterschaft Frankreichs im Wahlkampf zu nutzen. In der zweiten Hälfte der Neunziger (1997-2002) war sie dann an den beiden Regierungen Jospin beteiligt, was ihr endgültig das Genick brach. Sie unterstützte die imperialistischen Abenteuer der westeuropäischen Bourgeoisie auf dem Balkan und in ihrer Sozialpolitik das Gesetz Aubry mit der Einführung der 35 Stundenwoche ohne Lohnausgleich und mit Jahreskonto über die Arbeitszeit. Diese Politik im Dienst der Bourgeoisie hat die Krise der Partei verschärft. 1996 hatte sie noch 275000 Mitglieder, 2001 gerade noch die Hälfte. Die PCF korrigierte ihre Politik auch nicht nach der Wahlniederlage 2002 mit dem Sieg der Rechten. Sie kapitulierte in allen Bereichen gegenüber Chirac, gab sich als "demokratisch" oder schmückte sich mit dem Etikett der Friedensfreunde.

Momentan macht sich die kommunistische und sozialistische, grüne Parteienlandschaft Frankreichs daran, ein Wahlbündnis zu den bevorstehenden Regional- und Europawahlen aufzustellen. So sehr die Überwindung der Zersplitterung einer diffusen linken Szene in Frankreich zu begrüßen ist und die Formel der "pluralistische Linken" gut im Ohr klingt, hat sie wenig mit einem Neubeginn oder einer Rückbesinnung auf die Notwendigkeiten der sich entwickelnden sozialen Kämpfe in Frankreich zu tun. Das Spektrum der sozialen Kämpfe ist ebenso wie in Deutschland zersplittert, kaum organisiert, die Bewegung von Seattle, Porto Alegre und Genua über Paris hinaus kaum im Land präsent, organisatorische Strukturen wie in Italien, die sozialen Zentren oder lokalen Sozialforen gibt es nicht und Orthodoxie wie Reformismus lasten auf den neuen Bewegungen, die sich entwickeln.

Bei der Vorbereitung des Europäischen Sozialforums machte sich diese Schwäche auch deutlich bemerkbar. Bei mehr als 600 französischen Organisationen, die zum ESF aufriefen, war Attac- Frankreich ganz entgegen der Charta der Prinzipien von Porto Alegre, in Zusammenarbeit mit einigen Komponenten der PCF, die hegemonisierende Kraft bei der inhaltlichen und organisatorischen Gestaltung des europäischen Treffens sozialer Bewegungen. Attac-Frankreich besetzte vornehmlich die Schlüsselpositionen des Forums und erwies sich als spaltende Kraft bei dem Versuch die gewerkschaftlichen Basisbewegungen zu begrenzen und gegen die traditionellen Gewerkschaften auszuspielen. Die Dezentralisierung des ESF in der Metropole Paris widerspiegelte die mangelnde Bereitschaft dieser Organisation, den Basisbewegungen alternative Freiräume zu schaffen und die Kommunikation unter ihnen zu vertiefen. Auf den Plätzen des ESF, den Weiten von La Vilette und der Dichte von Ivry und Saint Denis verlief sich die Bewegung anstatt zu treffen, hier zeigte sich nicht die Vielfalt und Breite einer Bewegung, die sich in den letzten 5 Jahren entwickelt hat.

Wird fortgesetzt: Saint Denis - La Confederation Paysanne
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Ergänzungen