Social Forum - Mission beendet, und jetzt?

. 18.11.2003 20:52 Themen: Globalisierung Soziale Kämpfe
Zwei teils analytische Texte aus Italien (hier in Deutsch) zum Zustand der Bewegung der sozialen Foren, unter Bezugnahme auf die gegenwärtige Lage des Planeten und zu den sich aus der Situation ergebenden neuen Aufgaben und Ansätzen für eine Bewegung, deren Grundmerkmal bislang der gewesen ist, dass sie aus vielfältigen Massen von (horizontal vernetzten)Fürsprechern von Alternativen hervorgegangen ist.
Anmerkung: Zum Teil kommen in den Texten für die Allermeisten recht ungewöhnliche Fremdwörter vor. Das lässt sich leider nicht ändern. Die Mühe einer Auseinandersetzung kann sich aber lohnen.

Quellen:  http://www.rekombinant.org/article.php?sid=2179 ,  http://www.rekombinant.org/article.php?sid=2192

*****

Social Forum. Mission beendet, und jetzt?

Von Bifo - 10.11.2003

Es zeichnen sich ein depressiver Herbst und ein harter Winter ab... Das Gefühl einer Motivations- und Mobilisierungskrise der Sozialen Foren und im Allgemeineren der Bewegung, die in den letzten Jahren eine weltweite öffentliche Sphäre der Diskussion und der Aktion vitalisiert hat, ist verbreitet.

Versuchen wir zu verstehen.

Was ist die Bewegung seit Seattle gewesen? Sie ist Massenkritik der kapitalistischen Globalisierung gewesen, und Erosion des ideologischen Konsens für das neoliberale und privatisierende Projekt, dass sich als Regierungspolitik des Kapitals seit Beginn der achtziger Jahre behauptet hat. Wenn wir versuchen uns anzusehen, welche die mehrheitliche Meinung in Europa ist, und sogar welche Rede derzeit in den hohen Etagen der globalen Wirtschaft für das gewinnende Pferd gehalten wird, müssen wir folgern, dass die Arbeit, die im November 1999 von der Bewegung begonnen wurde, beendet ist. Auftrag erledigt.

Der Liberalismus ist in eine irreversible ideologische Krise getreten. Nach dem dotcom-Zusammenbruch, nach der arglistigen Pleite von ENRON, nach der argentinischen Katastrophe, die von der neoliberalen Politik verursacht wurde, nach dem ununterbrochenen Zersetzungsprozess des westlichen Industriesytems ist klar, dass kein Mensch, der noch alle Tassen im Schrank hat, jenseits der Worte glaubt, dass der Neoliberalismus als Theorie sowie als ökonomische Politik noch vertretbar sei. Das ist aber noch nicht alles. Die letzten internationalen Gipfel (Das WHO-Gipfeltreffen in Cancun auf Aufsehen erregende Weise) haben gezeigt, dass die dominierende politische Schicht der westlichen Welt ohne dem Ganzen allzu sehr nachzutrauern das gesamte ideologische Gerät des Neoliberalismus und des Globalismus hinter sich gelassen hat. Die Liberalisten von gestern sind die Protektionisten von Heute, und wir können damit rechnen, dass der Protektionismus um so wilder werden wird, je mehr der Eintritt Chinas auf dem globalen Markt einschlagen wird. Und die Globalisten von gestern sind heute aggressive Nationalisten, die bis zum Hals in einem Krieg stecken, der sich als schiere Katastrophe abzeichnet, die nicht mehr aufgehalten werden kann, weil inzwischen das Kartenhaus der Weltordnung zusammengebrochen ist und die Büchse der Pandora geöffnet wurde.

Es ist das Chaos, das gegenwärtig herrscht.

Die Mission, die sich die Sozialen Foren nach der Explosion von Seattle vorgenommen hatten, ist nicht mehr auf der Höhe der Zeit, sie vermag es nicht länger eine strategisch orientierende Funktion zu haben. Ihre ursprüngliche Motivation ist auf gewisse Weise unscharf, was aber nicht bedeutet, dass die Sozialen Foren aufgegeben werden sollten. Wie die Situation in Südamerika zeigt, hat die antiglobalistische Kultur extrem wichtige Ergebnisse gezeitigt. Es gibt inzwischen Gegenden auf der Welt, in denen der kapitalistische Globalismus auf politischer Ebene geschlagen wurde und es finden Versuche einer Steuerung der Wirtschaft für einen Übergang nach offen antikapitalistischen Vorstellungen Statt. Wir können damit rechnen, dass sich diese Wirklichkeiten verstärken werden, und dass sie ihre politische und ökonomische Unabhängigkeit gegen den räuberischen Überfall der Corporations verteidigen werden. Aber wir können nicht erwarten, dass daraus ein Modell einer globalen Alternative erwachsen könnte. Jene Position, die von Attac besonders gut vertreten Wird, hat einen nicht zu unterschätzenden taktischen Wert, aber sie klammert sich an einen souveränitären Ansatz, der für die globale Bewegung strategisch unbrauchbar ist.

Für die Bewegung gibt es keine globale Alternative, während der ersten Lebensphase der Social Forums haben wir uns auf die Notwendigkeit konzentriert, das ideologische Luftschloss des liberalistischen Privatismus zu demontieren. Und wir haben außerordentliche Resultate erzielt. Aber jetzt befinden wir uns in einer neuen Phase, so dass es nicht mehr genügt, den Liberalismus anzugreifen. Der Liberalismus ist nicht länger das Bezugsmodell des Weltkapitalismus. Leider bleibt es dabei, dass er weiter das Bezugsmodell der führenden Gruppe des selbsternannten reformistischen Linken bleibt. Die Linke des 20. Jahrhunderts ist durch die historische Verantwortung für das Desaster des autoritären Kommunismus schwer belastet. Unfähig, sich autonom zu motivieren, kulturell zurückgeblieben, ist die politische Linke das übelste Hindernis dass auf dem Weg zu einem Aufbau von einer Alternative zum Liberalismus überhaupt existiert. Um sich nach der Niederlage des autoritären Kommunismus legitimieren zu können, haben die Erben dieser Tradition keinen anderen Weg gefunden, als sich dem Liberalismus unterzuordnen. Sie dachten, der Liberalismus sei bereits die Modernität, die ihnen immer wieder entglitten war, und sie widmeten sich dem neuen Glauben mit Leib und Seele. Wie D´Alema, wurden die Karimovs, Kuchmas, Putins die ?Pasdaran? der Privatisierung. Jetzt wo ihr neues Idol untergeht, können sie sich nicht damit abfinden; Unfähig, die tiefgreifenden Tendenzen innerhalb der Gesellschaft zu begreifen, krallen sie sich weiter an dem, was ihnen als die vorherrschende Macht erscheint. Sie irren sich, wie immer. Aber diesmal sollten wir ihnen nicht erlauben, sich zu wieder zu verwerten und über Wasser zu halten.

Die primäre Aufgabe in der nächsten Phase liegt in der Erarbeitung einer Alternative auf die katastrophalen Politiken der westlichen Gruppe. In der Kultur der Gruppen, welche die Macht verwalten, gibt es keinerlei Globalisierung mehr. Diese Gruppen sind unmittelbarer Ausdruck von ausgesprochen lokalisierten Interessen, die im wesentlichen krimineller und mafiöser Art sind. Es ist der Fall in USA, es ist der Fall in Russland, es ist der Fall in Italien. In diesen Gebieten der Welt haben Interessengruppen die Macht ergriffen und sie verwalten sie Im Sinne ihrer eigenen besonderen Interessen, um den Preis der Rückkehr zum archaischsten Protektionismus, um den Preis der Beugung des Produktionssystems der Ökonomie des Krieges und der Angst, um den Preis der Entwürdigung der technologischen Innovation und der Militarisierung der Forschung. Eine Umkehrung der Front, die paradox erscheinen mag, es aber nicht ist, ist schlicht augenfällig: es gibt niemanden mehr, der eine Globalisierungspolitik führt, außer die globale Bewegung, die sehr oft immer noch no-global definiert wird.

Die no global sind die einzigen Globalisten der gegenwärtigen Epoche.

Nehmen wir das auf, als eine Tatsache, als eine grundlegende Voraussetzung für unser kommunikatives Handeln und für unsere Fähigkeit, ein Projekt zu verwirklichen.

Das, was wir tun konnten, das haben wir getan. Wir haben die Zerbröckelung des Konsens für das liberalistische Projekt erwirkt. Gleichzeitig hat sich aber das liberalistische Luftschloss aufgelöst, und an seiner Stelle hat es dabei ein nationalistisches und kriegerisches Arsenal zum Vorschein kommen lassen.

Was können wir tun, um zurück zu einem wirksamen Handeln zurückzufinden?

Blicken wir in die nächste Zukunft. Gegenwärtig scheint die BBB Connection zu einem rapiden Untergang verdammt. Blair Bush und Berlusconi haben Prozesse in Gang gesetzt, die sie nicht unter Kontrolle halten können. Werden sie deswegen die Macht verlieren? Das steht noch völlig offen. In einem Artikel im Herald Tribune hat Paul Krugman seine Leser gewarnt. Erwarten wir nicht dass George Bush und Dick Cheney sich die Macht mit demokratischer Eleganz nehmen lassen werden. Wenn sie die Macht verlieren, riskieren diese Herren alles andere zu verlieren, sie werden sich dann nämlich einer ganzen Reihe von Straftaten und Betrügereien verantworten müssen. Angesichts der Vorgeschichten ? mahnt Krugman ? kann man davon ausgehen, dass sie einen dirty trick im Ärmel haben, einen phänomenalen kleinen Sensationseffekt. Krugman schließt mit beunruhigenden Worten ab: Wer glaubt, dass er nach dem 11. September grausame Dinge zu Angesicht bekam, der möge sich vorbereiten, weil das Beste noch kommen wird.

Anyway. Nehmen wir an, dass diese Herren die Macht verlieren. Es ist möglich. Selbst wenn dies geschehen sollte, fragt sich welches alternative Projekt wir am Horizont erkennen könnten. In Italien wissen wir, wie die Dinge nach Ansicht der führenden Gruppe von Mitte-links laufen sollten. Berlusconi hat die Drecksarbeit gemacht, und wenn die gegenwärtige Mitte-links-formation die Wahlen 2006 gewinnen sollte, würde sie sich dann ausschließlich darauf beschränken, den sozialen Rahmen, den Berlusconi vorbereitet hat, weniger unanständig zu verwalten. D´Alema hat gesagt, dass dieses Land keine Revolution alle 4-5 Jahre vertragen kann. Die Revolution, die hat Berlusconi gemacht, und Mittelinks wird es zur Kenntnis nehmen. Warum sollten wir für Mittelinks stimmen, wen diese die Vorzeichen sind? Nur weil auf der anderen Seite Berlusconi ist? Aus meiner Sicht, ist es kein ausreichender Grund. Beeilen wir uns, die Restablagerungen der Linken des 20. Jahrhunderts aus dem Weg zu schaffen, weil sie nichts anderes als Unheil, Unterwerfung und Niederlagen erzeugen können.

Vor uns liegen jetzt zwei Schritte. (wörtlich: Durchgänge)

Der erste Übergang ist der Zusammenbruch der BBB Connection. Wir haben alles getan, um diesen Einsturz herbeizuführen. Wir haben den Konsens für das pseudoliberalistische und kriegerische Modell zerbröseln lassen. Sowohl in Europa als auch in Amerika ist der Konsens zusammengebrochen. Jetzt hängt es nicht mehr von uns ab. Es hängt von der automatischen Kraft des Chaos ab, das sie selbst geschaffen haben und jetzt nicht steuern können.

Der zweite Übergang ist der, der Schaffung einer Alternative. Das ist die Aufgabe, der wir jetzt unsere intellektuellen, kommunikativen und organisatorischen Energien widmen sollen. Die Alternative muss die anthropologischen Grundlagen, die den Planeten in den jetzigen Zustand geführt haben, verändern. Die Vorstellung, dass Reichtum Konsum sei gehört aufgelöst, es muss die Vorstellung von Reichtum als Nutznießung, als Unentgeltlichkeit, und Teilhabe her. Das ökonomische Paradigma (Wertschöpfung, Akkumulation, Privateigentum, Kopetition, uneingeschränktes Wachstum) kann nicht länger die menschliche Rasse beherrschen. Die Alternative muss den Charakter eines programmatischen Vorschlags und um so mehr den Charakter einer Kampagne, die in der Lage ist, dem sozialen Nervensystem des Planeten Entspannung zu vermitteln aufweisen.

Und was bedeutet die Schaffung einer Alternative auf politischer Ebene? Es bedeutet, definitiv die existierende Linke aus dem Weg zu schaffen. Den endlos breiten Kreisen derer, die sich weigern, ihr ganzes Leben und ihre Intelligenz der uferlosen Herrschaft der Ökonomie zu unterwerfen eine Gestalt zu geben.

Und um abzuschließen:

In diesen Jahren hat die Bewegung die liberalistische Hegemonie über die globale öffentliche Meinung durchbrochen. Aber sie ist nicht in der Lage gewesen, eine Sprache zu finden, die der psychischen und existentiellen Beschaffenheit der ersten videodigitalen Generation gerecht werden könnte. Viele Zwanzigjährige haben seit Seattle an den Demonstrationen und an den Versammlungen der Bewegungen Teil genommen. Aber es ist keine kulturelle Welle entstanden, die in der Lage ist, sich im neo-humanen (oder post-humanen?) Imaginären mehrheitlich zu entfalten.

Darum muss man sich kümmern. Besonders darum.

*********

Könnte es anders sein?

16.11.2003

Na dann, es geht wieder los. Unsere Genossen kehren aus St. Denis zurück, wo sie an sechshundertvierzehn Workshops Teil genommen haben, auf Sesselchen, die von Chirac zur Verfügung gestellt worden waren, und sie rufen uns auf, am 22. November schön diszipliniert durch die Straßen der Stadt zu ziehen.

Ich werde da sein. Auch ich werde am Samstag, den 22. November, zwecklos mit einer Million anderen durch die Straßen der Hundert Städte ziehen, die wie ich die Niederträchtigkeit und die Verlogenheit eines mörderischen Regimes nicht tolerieren könen. Wir werden durch die Städte ziehen, ohne die bedrückten Einkäufe einer Bevölkerung aus traurigen Menschen zu stören, und die Gemeindepolizei wird uns den Weg weisen. Die Zeitungen werden darüber berichten, auf der siebten Seite. Wir sind die Klagen ausstoßende Institution in Repräsentanz der Opfer. Wir werden den Krieg nicht aufhalten, wir werden das Regime der Diktatur nicht zerschlagen, wir werden die Kette der Ausbeutung nicht zerbrechen.

Wir werden keine Alternative links der zum Liberalismus konvertierten Stalinisten schaffen. Wir sind tot, mehr oder weniger so wie sie, auch wenn wir uns regelmäßig treffen, um darüber zu reden.

Könnte es anders sein? Vielleicht sollte man einen anderen Tag wählen als den Samstag. Wir sollten die Normalität des alltäglichen Krieges von Montag bis Freitag desertieren. Wir sollten die, die wie wir sind an unseren Arbeitsstätten, in den Schulen und an den Universitäten erkennen, die Arbeit blockieren und die Aulen an ein einem Tag und am nächsten auch besetzen. Mit einem Megafon in einen Supermarkt gehen und der Menge zurufen, dass der Lohn nicht mehr langt um den Kredit abzubezahlen und dass vierzehntausend Familien pro Monat von den Banken aus ihren Wohnungen verjagt werden. Den Stalinisten, die zwischen 98 und 2001 regiert haben, ausdrücklich das Vertrauen entziehen, die den Mördern den Weg ebneten, und uns heute versprechen, dass sie nichts verändern werden, wenn wir sie an die Regierung wählen, bis auf die Namen auf den Etiketten.

Es wird keiner Gewalt bedürfen, es wird einfach genügen, alles zu blockieren, sich zurückzuziehen, sich zu entfernen, zu desertieren.

Desertieren desertieren desertieren.
Nicht nur Samstag nachmittags.

*****

Zum Autor: Bifo (Francesco Berardi) lebt in Italien, als Dozent, Schriftsteller und Medienaktivist. Er ist Experte für neue Technologien und Teil italienischer Denklabore für Alternativen.
Indymedia ist eine Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann. Eine Überprüfung der Inhalte und eine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge finden nicht statt. Bei Anregungen und Fragen zu diesem Artikel wenden sie sich bitte direkt an die Verfasserin oder den Verfasser.
(Moderationskriterien von Indymedia Deutschland)

Ergänzungen