ESF Paris, Europa auf der Straße

Roberto Greco 18.11.2003 17:00 Themen: Globalisierung Soziale Kämpfe Weltweit
Bericht über die Abschlussdemonstration, 15. November 2003
Europa auf den Straßen und Plätzen von Paris

v. Roberto Greco

15. November 2003: Das Europa der Straßen. Vier Tage Europäisches Sozialforum gehen ihrem Ende zu. Es verabschiedet sich nicht versteckt und kläglich, sondern beweist am Nachmittag der Abschlussdemonstration noch einmal seine Stärke und Vielfalt. Mehr als zweihunderttausend Altermondialisten demonstrierte in den Straßen von 1789 und der Comune von 1871, dass sie die Zukunft bestimmen wollen. Hier an der Wiege der europäischen Demokratien zeigte sich eine selbstbewusste Bewegung, die die nationalen Grenzen überwunden hat und die entschlossen an der Überwindung ihrer erstarrten, in der sozialen, politischen und ökonomischen Agonie liegenden Gesellschaften arbeitet. Ihre Vielfalt ist ebenso anziehend wie erstaunlich. Auf dem mehr als zweistündigen Zug von der Place de la Republique zur Place de la Nation paradierten nicht nur die traditionellen Organisationen und Bewegungen, hier zeigten sich viele neue Gesichter an Widerstand, der sich die letzten Jahre entwickelte. Was Deutschland anbelangt, war es kaum beteiligt an der sowohl inhaltlichen wie organisatorischen Prägung dieser Bewegung. Die soziale Bewegung in Deutschland liegt um Jahre zurück, wobei pessimistische Stimmen meinen, dass es bereits den Anschluss an das Europa von unten verloren hat. Seine Vertreter auf den Foren und Seminaren machten zumeist einen peinlichst kläglichen Eindruck, wichtige und bedeutende Foren waren erst gar nicht mit deutschen Vertretern besetzt. Deutschland hatte nicht viel zu bieten, weder inhaltlich noch organisatorisch. Und es wurde auch immer wieder in persönlichen Diskussionen die Frage nach den Gründen gestellt. Um so mehr bestach die intellektuelle, theoretische und rhetorische Brillanz der anderen europäischen Delegationen, vornehmlich der spanischen, italienischen, französischen, englischen, griechischen und der Delegierten der nationalen und kulturellen Minderheiten in Europa.
Auf der Demonstration präsentierte sich das Europa von unten: ein Europa der Intermittents e Precaires, ein Europa der Sans Papiers, der Frauen, der radikalen Gewerkschafter, des gleichen Handels und der gerechten Ökonomie, ein Europa ohne Rassenschranken, ein Europa des Laizismus und einer freien Wissenschaft und Lehre, die sich nach den sozialen, ökologischen und ökonomischen Bedürfnissen der Menschen richtet. Schon die Spitze des Zuges signalisierte, dass die Altermondialisten in Paris nicht mit staatlicher Repression zu rechnen haben. Ein Dutzend Mannschaftswagen, ein Dutzend Flics. Die digitalen Anzeigen der Hauptverkehrsadern und Boulevards in der Innenstadt hießen das Europäische Sozial Forum willkommen. In gebührendem Abstand zu den zukünftigen Arbeitslosen einer anderen Welt, den Flics, der Beginn des Zuges.

Frei leben oder sterben! Erinnert ein kunstvoll hergestelltes Transparent an die Wurzeln dieser Bewegung. Es sind die Wurzeln die aus der französischen Revolution herrühren, die im Gedächtnis dieser Bewegung ebenso lebendig sind, wie die der Comune von 1871. Es ist die Tradition des republikanischen Europa, die Tradition des politischen Pluralismus einer sozialen und politischen Bewegung, die gegen das herrschende System von Ausbeutung und Unterdrückung gerichtet ist. Nicht weit von der Demonstrationsroute liegt die Bastille, der Anfang einer revolutionären Bewegung, die ganz Europa und die Welt der Neuzeit veränderte. Die Bastille erinnert daran, dass die Herrschenden in ihrer Ignoranz die Zeichen der Zeit nicht verstehen wollten. Vor den Augen des darbenden französischen Volkes gingen sie ihrem luxuriösen Leben nach, während die Kinder der Arbeiter und Bauern verhungerten, die Frauen sich prostituieren mussten, um ihre Familie zu ernähren, die Männer in den Gefängnissen siechten, wenn sie beim Diebstahl überrascht wurden. Der heutige Adel, der hohe aus den gläsernen Palästen der Konzerne, aus der Regierung, den vordersten Sitzen der ständischen Parlamente, ist ebenso ignorant wie dumm. Ihre Rezepte sind auf Erhalt ihrer Privilegien, ihres unverschämten Reichtums auf Kosten der einfachen Menschen ausgelegt. Die sizilianischen Könige sind wie Flöhe, sagt ein altes italienisches Sprichwort, sie saugen dem Volk das Blut aus. Die Bewegung hat nichts davon aus ihrem Gedächtnis gestrichen und hat an diesem Tag den Königen in den Konzernpalästen und ihren Kanzlern und Ministern in den Regierungen bereits die zweite europäische Abmahnung geschickt.

Les Intermittents e Precaires. Blair, Schröder, Chirac, Aznar und Konsorten werden sie weiterhin ignorieren. Sie meinen mit Lügen, Repression und Intrigen auf ihren gut gepolsterten Sitzen und satten "Diäten" überleben zu können. Obwohl sie seit Seattle überall in der Welt von den Altermondialisten verfolgt werden, haben sie die Zeichen der Zeit nicht verstanden. Eigentlich sind sie es, die recht prekären Situationen entgegengehen. Das Jonglieren der Prekären aus der Kunst- und Unterhaltungsszene Frankreichs glich einer Metapher, die den Versuchen der Herrschenden, die Macht ihres Reichtums zu stabilisieren, Hohn spricht. Beim Jonglieren wird auch daneben gegriffen, die Keulen fallen zu Boden. Mit den französischen Künstlern hat das Publikum am Straßenrand ein Nachsehen. Jeder in Frankreich weiß, in welchen Verhältnissen sie zu leben haben. Taglöhnerarbeiten an der Bühne, beim Fernsehen, Film, ohne soziale Absicherung, hat sie auf die Straßen getrieben. Jetzt haben sie sich, trotz aller Schwierigkeiten in diesem Bereich (Individualisierung, starker Konkurrenzdruck), organisiert und ihre Bewegung verzeichnet enormen Zulauf und erfreut sich immer größerer Popularität. Die Herrschenden werden auch in Zukunft mit ihnen zu rechnen zu haben. Und sie haben das Beste zu bieten: den Geist einer Kultur und Kunst der Straße, die sich mit den Belangen der Bevölkerung verbindet und sich der Langweile und der Dummheit der Unterhaltungsfabriken entzieht.
Intermezzo. Bericht eines Delegue. Das Cafè am Place de la Republique bietet kurz nach Mittag noch einige Plätze. Der Wirt, ein geschäftstüchtiger Franzose, weiß hier mit seinen Gästen umzugehen. Er ist Alleinherrscher. Die Konkurrenz scheint ihn nicht zu plagen. Er ist es gewohnt, zum Ärger der Gäste, unumschränkt Anweisungen zu geben: Messieurs verrücken sie den Tisch nicht, lassen sie den Gang frei. Die Gäste gehorchen und verspeisen ihr Omelette, trinken ihren Kaffee artig eingezwängt zwischen Sitz und Table ohne zu murren. Heute gehen hier die Altermondialisten aus und ein, morgen wieder die Touristen, die mit Glanzdruckprospekten und Stadtplan, auf der Suche nach dem Muss einer Parisfahrt, am Platz der Republik in den Netzen eines kleinen Despoten hängen bleiben. Offensichtlich lässt er seine begabten dominanten Anlagen an den Gästen aus. Die Ausländer wenig geübt in Konversation verzichten auf Widerstand, die rächen sich an den Kellnern, deren Endabrechnung auf die manchmal großzügigen Trinkgelder zu verzichten hat.
Ich brauche mich nicht rächen, da mich ein österreichischer Compagno eingeladen hat. Er kennt meine Situation, hat Arbeit und Auskommen, vermutet richtig, dass ich noch nichts im Magen hatte, versteht etwas von Solidarität, bekommt es hin, dass ich mich bei einem Glas Kronenbourg und einem Omelette avec Fromage gleich besser fühle. Das schlechte Gewissen sagt mir nachher, du hast dich nicht einmal bedankt. Aber so sind wir, wir Paupers, vor so viel Bedanken, verschlägt es uns auf einmal Gedächtnis und Sprache. Eigentlich kreist meine ganze Gedankenwelt nur darum, wie diese Situation zu verändern ist. Mein Habitus ist noch passabel, dafür Gebiss und Kreditwürdigkeit nicht mehr in Takt. Banken und Krankenkassen haben mich dreißig Jahre ausgeraubt und das, was ich einzahlte, steckt heute im Beton der schillernden Glaspaläste "unserer" Genossenschaftsbanken. Dafür geben sie mir keinen Kredit mehr, die Freundlichkeit der Angestellten hinterm Tresen hat deutlich nachgelassen, ihre Gesichter geben zu verstehen, dass bei mir nichts mehr zu holen ist und die finanzielle Reputation fragwürdig wurde. Was tun? fragte Lenin. Doch ich bin kein Lenin, renne den Sklavenhändlern die Türe ein, schimpfe auf die Linken mit ihren immer gleichen Problemen, ihrer Menschlichkeit und ihren guten Ratschlägen, und dass sie hierzulande Gruppenzwangkinder sind. Doch ab und zu kann ich mir noch, dank Attac und zum verminderten Preis, wenn ich bei ihnen artig bin, das Vergnügen gönnen, den Duft neuer Bewegung zu schnuppern.
Und hier in Paris kam ich mal wieder auf meine Kosten, die Sans Papier, die algerischen Emigranten in der Kneipe, die "letzte" Französin in der Tram von Evry, die mit ihren sechzig Jahren Blumensträuße verkauft, der Mann aus Camerun, der mich lehrte, in der Metro, Zone 1-5, schwarz zu fahren. Die Lektionen außerhalb des offiziellen Programms waren zumindest genau so viel wert wie die Plenumsdiskussionen der Spezialisten über soziales Elend. Keiner von ihnen wüsste nur eine Woche in dieser überquellenden Metropole zu überleben, wäre er auf den Zustand des Bettlers oder illegalen Immigranten reduziert. Hier unten, wo nur noch das nackte Überleben das Verhalten diktiert, versagen unsere Erkenntnisse zu einer Realität, in der Begriffe wie Zivilgesellschaft und Solidarität keinen überzeugenden Klang besitzen. Ich lasse bei einem guten Essen den heutigen Vormittag Revue passieren. In der Citè des Sciences, im l'Espace Condorcet kam ich mit Verspätung an, doch gerade rechtzeitig, um noch die Gedankenwelt des Vertreters mitzubekommen, der meine Gewerkschaft repräsentierte, die vor meinem Abstieg vom Drucker zum Pauper organisatorischen Halt versprach. Hier im Saal einer protzigen bourgeoisen Architektur herrschte bei den Vertretern der Arbeiterklasse eher Totengräberstimmung und im Gegensatz zu anderen Veranstaltungen hielt sich die Besucherzahl in Grenzen. Der Typ, mir geht sein Namen nicht mehr über die Zunge, dieser Typ aus den Chefetagen der deutschen Arbeiteraristokratie behauptete allen Ernstes, dass die einzig wirksame Methode zur Bekämpfung gegen Neoliberalismus und Machtkonzentration der Konzerne in der Ausweitung der Mitbestimmung über die nationalen Grenzen hinaus bestünde. Er pries dieses deutsche Modell der Klassenharmonie zu kalten Kriegszeiten den übrigen Vertretern nationaler Gewerkschaften als nachahmenswert an. Die im Saal vertretene deutsche Gewerkschaftsbasis vernahm es und applaudierte mit gedämpften Enthusiasmus. Kein Wort natürlich über die derzeitige Rolle der Gewerkschaftsspitzen mit ihrer Stillhaltepolitik zum Sozialabbau Marke Rot-Grün, der wie in allen Ländern von den Bedürfnissen des Neoliberalismus diktiert wird. Doch wirkte der Beitrag auch so mehr als kläglich. Die österreichische Eisenbahnergewerkschaft hatte mit ihrem Generalstreik gegen die Privatisierungspläne der ÖBB deutlich mehr zu berichten. Und die Vertreter des Metallarbeiterverbandes FIOM (Italien) und der Telekommunikationsgewerkschaft Sintel (Spanien) zeigten am Beispiel ihrer Organisationen, dass es in Europa erfolgreichen gewerkschaftlichen Kampf noch gibt. Wer allerdings erwartete, dass die gewerkschaftlichen Vertreter des Proletariats über eine transnationale gemeinsame Perspektive von Organisation und Kampf reflektierten, hatte zu viel erwartet. Lediglich Adolfo Rinaldini von der FIOM verwies in einem Nebensatz auf die Dringlichkeit gemeinsamer verbindlicher Aktion und Organisierung auf europäischer Ebene.
Place de la Republique. Das zweite Europäische Sozial Forum in Paris verwies nach einem Jahr Distanz zum ESF in Florenz auf Kontinuität der europäischen sozialen Bewegung. Die Bandbreite der inhaltlichen Thematik spiegelte sich ebenso in der Vielfalt der Organsisationen wieder, die sich am Nachmittag des 15. November an der Place de la Republique einfanden, um für ein anderes Europa ohne Krieg, soziale Ungerechtigkeit, Repression und Rassismus zu demonstrieren. Besondere Aufmerksamkeit galt dieses Jahr den nationalen und kulturellen Minderheiten des Kontinents sowie den Frauen. Die Problematik der ungleichen Behandlung und Stellung der Frauen in allen Gesellschaften, wurde am Vortag des ESF in Bobigny auf mehreren Veranstaltungen diskutiert. Dennoch kritisierte die schwedische Vertreterin von Femmes sans Frontieres zurecht, dass ihre Themen nicht zum Bestandteil der offiziellen Veranstaltungstage des ESF wurden. Doch einiges war an diesem zweiten europaweiten Forum kritikwürdig, v.a. seine Dezentralisierung auf weit auseinander liegende Stadtteile in Paris. So war es unmöglich an einem Tag mehrere Veranstaltungen zum gleichen Thema an unterschiedlichen Orten aufzusuchen. Von der aus Florenz gerühmten Eigendynamik des Forums, spontanen Diskussionen, Aktionen und Demonstrationen, war deshalb auch nichts zu spüren. Wer drei Tage von Veranstaltung zu Veranstaltung reiste, sehnte sich nach derartigen Events und hoffte zumindest auf eine eindrucksvolle Abschlussdemonstration. Sie war es mit Abstrichen im Vergleich zum 9. November 2002 in Florenz, wo sich mehr als 1 Million Demonstranten zum Abschluss des ersten ESF einfanden.

Die ihr eigene Prägung erhielt sie durch die unzähligen Gruppen der Immigranten, nationalen und kulturellen Minderheiten, die mit Musik, Tanz und Artistik dem Demonstrationszug einen Charakter des Volksfestes mitgaben. Bei ihnen ertönte die Musik der algerischen Zebda aus Tolosa, ertönten die Schlaginstrumente afrikanischer Gruppen, die viele Teilnehmer zum rhythmischen Tanzen bewegte und die zuschauenden Immigranten am Straßenrand teilweise in Begeisterung versetzte. Katalanen, Basken, Kurden, Türken, Spanier, Flamen, Engländer, Österreicher, Bretonen, ganz Europa war auf der Straße "Vereint für unsere Zukunft!" Dabei fehlten nicht die angereisten außereuropäischen Delegationen, von denen besonders eine mexikanische Musikgruppe mit ihren Sombreros wie auch eine koreanische Delegation in ihren Kinomos auffiel.
Intermezzo - Die Demonstration. Seit zwei Stunden sitze ich in einem algerischen Cafè gegenüber dem Restaurant Universitaire und lasse den Zug an mir vorbeiziehen. Die Batterien der Kamera haben ihren Geist aufgegeben und ich konzentriere mich darauf, die Identitäten der einzelnen Gruppen und Organisationen, ihre Slogans und Plakate zu erfassen. Nach fast einer Stunde gemeinsamen Wegs in verschiedenen Blocks des Zuges, hat mich die feuchte Kälte vorangetrieben und hier habe ich einen Platz zum Aufwärmen gefunden. Anfänglich hat das Cafè noch überwiegend algerische Gäste. Immigranten, die bei Tee, Kaffee und arabischer Musik Karten spielen, Kellner die nichts zu tun haben und dem immer näher kommenden Lärm der Demonstration lauschen, eine Wirtin, der beim Eintreten der ersten Demonstranten die Augen aufleuchten.
Kaum hat die Spitze der Demonstration, eine Handvoll Mannschaftswagen und Flics, das Cafè passiert, werden die Kellner geschäftig, geben sich weltgewandt, flitzen hin und her zwischen dem mittlerweile internationalen Publikum. Sie sind nicht aufdringlich - ein Kaffee, ein Cognac für zwei Stunden, sie lassen mich in Ruhe meine Notizen machen. Vielleicht auch, weil sie selbst immer wieder mit der Wirtin draußen stehen, um den bunten Demonstrationszug aus der Nähe zu betrachten. Die Immigrantengruppen entlocken ihnen dann öfters mal Applaus und Begeisterung. Besonders angetan sind sie von den eindringlichen Slogans der Intermittents und Precaires, den jonglierenden Gauklern und im Trommelwirbel tanzenden afrikanischen Gruppen.

An meinem Tisch nimmt ein Mann Platz. Er ist etwa dreißig, für meine Verhältnisse dezent gekleidet und es scheint, dass er mit mir ins Gespräch kommen will. Dass ich Ausländer bin, hat er längst an meinen gebrochenen Konversationen auf französisch mit Nebentisch, an dem Katalanen sitzen, bemerkt. Stockend kommt Kommunikation in Gang. Er fragt gleich nach Klärung meiner Herkunft, wie die Situation in Deutschland sei.
Das sind immer peinliche Fragen, die darüber hinaus bei mir selbst immer Erklärungsnöte hervorrufen. Eine Aufgabe allemal als würde ein Schüler im dritten Jahr Lehrfach Französisch aufgefordert werden, ad hoc über das Leben auf dem Mond zu referieren. Da ist nichts zu berichten würde er sagen oder: ich glaube da oben "wehen" die amerikanische und sowjetische Flagge. Letzteres würde ein Diskurs über die Rolle Deutschlands im Kalten Krieg bedeuten. Ich ziehe es vor mit unserer derzeitigen politischen Landschaft zu beginnen, dass die Deutschen nach der Wende sich wieder eine Einheitspartei und Blockparteien zulegten: die Neoliberalen von Rot, Grün bis Schwarz, Gelb; dass es keine wirkliche Opposition im Parlament gibt; dass die Presse nicht wirklich frei ist, Informationen filtert, verfälscht, zurückhält; dass die Medien von morgens bis abends Ideologie verspritzen: die Ideologie des Way of Life und des Konsumismus. Ich würde gern mehr erzählen, davon, wie wir Armen unsere Armut zu verstecken haben, dass wir sie aber nicht mehr verstecken können, dass die soziale Marktwirtschaft ein Flop war und Mitbestimmung die Arbeiter politisch entmündigte, dass die Wiedervereinigung keine war, die Grenze noch steht, die Jugend des Ostens bei uns in südlichen Gefilden, unter Tariflohn und mangelnder sozialer Absicherung, ihr Auskommen sucht. Und mit etwas Neid schaue ich auf die italienischen Sektionen, die gerade vorbeiziehen: Gobal-Intifada, Cobas, Rifondazione Comunista, CUB, CGIL und ARCI.

Mit Neid schaue ich auch auf den italienischen Emigrantenzirkel der RCI in Paris und dies aus gutem Grund. Die deutsche Provinz bietet mir als Emigrant keine politischen Möglichkeiten einer Organisierung unter Landsleuten. Unsere Probleme, Sorgen, sozialen Nöte, unsere Sehnsucht nach dem Bel Paese können wir nicht austauschen. Unsere Kinder erhalten nicht mehr wie noch vor zwei Jahrzehnten qualifizierten muttersprachlichen Unterricht. Die Privatisierung hat auch bei den "Corsi di lingua e cultura italiana" Einzug gehalten: Die früher großzügig vom Konsulat und karitativen Organisationen zur Verfügung gestellten Gelder, für didaktische Hilfsmittel, für den Transport der Kinder zum Unterricht, sind nach und nach ausgefallen. Erfahrene und sozial engagierte Lehrer, die der italienische Staat einsetzte, sind heute mit Universitätsabgängern besetzt, die ständig wechseln, weil der Unterricht für für sie lediglich Übergangsjob bedeutet, bis sie etwas besseres gefunden haben.
Auch der dreißigjährige Mann an meinem Tisch, mit dem ich meine letzten Zigaretten teile, ist Emigrant. Seine Familie kommt aus Algerien und ist begeistert über die Vielzahl an Emigrantenorganisationen, die diesen Zug prägen. Die Globalisierung hat die ganze Menschheit in Bewegung gesetzt. Sie ist auf der Suche nach Existenz, Arbeit und Auskommen. Diese Demonstration war auch die Demonstration der Emigranten und ihrer berechtigten Forderungen nach Wahlrecht, sozialer Gleichbehandlung, gegen staatliche Repression und Rassismus. Am Abend, vor meiner Rückfahrt über den Rhein nach Badenia, gerate ich noch zufällig am Bahnhof von Evry in eine algerische Emigrantenkneipe. Ich esse etwas Salat mit Yoghurt und Brot und lasse nebenbei das Länderspiel Deutschland-Frankreich über mich ergehen. Als Sidan das erste Tor schießt, rufen einige Algerier "Vive la France", "Vive la France des Migrants" stimme ich ein, denn die Migranten sind das Tor zur Welt, die unseren Gesellschaften tagtäglich wie ein Spiegel ihre menschenverachtende Ökonomie und ihre Hypokrisie entgegenhalten. Sie sind der fruchtbare Bodensatz für einen neuen Spartacus, zu einem weiteren Versuch im Aufbau der Città del Sole - Eine andere Welt ist möglich!
Teil II - Das Europa der Plätze
wird fortgesetzt
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Ergänzungen

Berichtigung

The great GATSby 18.11.2003 - 20:59
Hallo Roberto!

Wie immer ein sehr guter Artikel von dir mit einer frischen und originellen Sichtweise. Allerdings hat er formale Schwächen und enthält inhaltlich Unrichtiges sowie Unreflektiertes.


- Formales

Du benutzt Fremdwörter und unbekannte Begriffe ohne sie zu erklären!
Was sind Altermondialisten, Intermittents? Dein Artikel ist an diesen Stellen höchstens für Einheimische verständlich.

Bei langen Texten sind unbedingt formale Auflockerungen und Betonungen nötig allein schon um die Augen am Bildschirm nicht ermüden zu lassen. Absätze allein reichen nicht. Zwischentitel erleichtern auch das selektive Lesen einzelener Abschnitte. Fettgedruckte Stellen zeigen wichtige Schlüsselbegriffe auf. Einrückungen können auch helfen.


- Inhaltliches

Du schreibst:
"Schon die Spitze des Zuges signalisierte, dass die Altermondialisten in Paris nicht mit staatlicher Repression zu rechnen haben". Da hast du nicht genau geschaut und auch die anderen Berichte nicht gelesen.
1. waren die Seitenstraßen entlang der Demonstration in einiger Entfernung von Polizei-Reihen abgesperrt.
2. wurde eben dieser Block an der Spitze des Zuges später von der Polizei angegriffen und die Intermittens verprügelt.
3. waren bei all den anderen Aktionen, der Blockade des Champs Elysees samt Besetzung der Air France Filiale, der Hausbesetzung am FSL und der Soli-Demo sowie der Demo gegen Gefängnisse starke Polizeikräfte sehr schnell vor Ort und diese griffen hart, entschlossen und teilweise willkürlich durch. Allein bei der Demo gegen Gefängnisse gab es ohne jedwede Rechtsgrundlage 300 Festgenommene, teilweise unbeteiligte Passanten und Medienleute.


- Unreflektiertes

Du benutzt unreflektiert Begriffe die sich auch in rechter Ideologie wiederfinden wie "darbenden französischen Volkes". So einen Ausdruck kannst du auch bei "nationelen Sozialisten" wiederfinden. Auch "Die sizilianischen Könige sind wie Flöhe, sagt ein altes italienisches Sprichwort, sie saugen dem Volk das Blut aus" ist faschistoide Untermensch-Sprache. Die Faschisten beschrieben mit solchen Sätzen die Juden.


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The great GATSby 18.11.2003 - 21:01

ach GatSby

quatsch 19.11.2003 - 07:57
was für ein logik. "daie nazis sagen das deshalbd..." die nazis sagen auch das sie "für palästina" sind bist du deshalb jetzt gegen die palästinenser

angriff der polizei

evette 20.11.2003 - 14:01
hallo GREAT Gats

du schreibst, dass es zwischen einem Demoteil der ESF-Demo und der Polzei zu heftigen Auseinandersetzungen kam. Ich war ziemlich am Anfang des Zuges. Mein Eindruck der Demo war eingentlich recht friedlich, eben wie in Florenz vor einem Jahr auch. Es überrascht mich, zu hören, dass da wohl noch ein wenig mehr gegangen ist, von dem ich nichts mitbekommen habe...Informationen!