ESF: Seminar "Leben nach dem Kapitalismus"

Yossarian 13.11.2003 17:30 Themen: Globalisierung Soziale Kämpfe
Bericht vom Seminar "Leben nach dem Kapitalismus", das heute morgen beim Europäischen Sozialforum (ESF) in Ivry sur Seine stattfand.
Die Anreise (wörtlich zu nehmen) zum ESF-Standort im Pariser Vorort Ivry sur Seine spiegelt ganz deutlich ein Problem des ESF wieder: Die Veranstaltungsorte sind sehr weit voneinander entfernt und die Beschilderung ist dürftig. Ivry liegt an der Endstation der U-Bahnlinie 7, die Veranstaltungen sind über den ganzen Ort verteilt, verbunden durch recht selten fahrende Busse. Auf dem Weg zum Seminar, das in einem Multiplexkino am Rande Ivrys stattfand, treffe ich auf mehrere versprengte Gruppen von ESF-TeilnehmerInnen aus Polen, Frankreich und Deutschland. Gemeinsam versuchen wir zum Kino zu finden, was letzendlich unter Benutzung zweier Busse und der ESF-Stadtpläne gelingt. Über eine Stunde zu spät, aber immerhin.

Es sprechen Jonathan Neal und George Monbiot aus Grossbritannien und Michael Albert aus den USA. Monbiot verpasste ich leider. Als ich ankam, sprach Neal gerade zum Thema Demokratie und Kapitalismus. Seiner Einschätzung nach sind sich die sozialen Bewegungen darin einig, dass sie eine demokratische Gesellschaftsstruktur anstreben, allerdings mit den real existierenden repräsentativen Demokratien höchst unzufrieden sind. Das Problem bestehe darin, dass zwar Parlamente gewählt werden dürfen, aber die überwiegende Lebensrealität der Menschen aus Arbeit bestehe. Im Kapitalismus bedeute das eine diktatorische Struktur. Ein wichtiges Ziel ist daher die Demokratisierung der Arbeitsverhältnisse, in Kollektive mit gewählten Strukturen und gleicher Bezahlung. Aus eigener Erfahrung berichtend klagte Neal die Martkwirtschaft als zerstörerische Kraft an, die progressive Projekte durch den Wettbewerbsdruck immer wieder in die Logik des Kapitalismus zurückdränge.

Danach ging Neal auf einen grundlegenden psychologischen Aspekt des Kapitalismus ein, der ständigen Angst, der ArbeitnehmerInnen ausgesetzt sind: vor Arbeitslosigkeit, Armut, staatlicher Repression, Krieg, Obdachlosigkeit, Einsamkeit. Michael Albert erläuterte wie die Struktur und die Institutionen des Kapitalismus die negativen Eigenschaften der Menschen fördere: "In capitalism, trash rises". Ellenbogenmentalität, Ungleichheit, Egozentrik. Dem entgegenzusetzen seien Solidarität, Verteilungsgerechtigkeit und die Demokratisierung aller Gesellschaftsbereiche, eben insbesondere der Arbeitsverhältnisse. JedeR solle Einfluss auf Entscheidungen in dem Maße haben, die sie sie/ihn betreffen. Dann stellte Alberts skizzenhaft seine alternative Wirtschaftstheorie Parecon* vor.

Zum Thema Strategie sozialer Bewegungen wies Albert darauf hin, dass die meisten Menschen mittlerweile von der negativen Macht des Kapitalismus überzeugt sind: Sie sind höchst unzufrieden, sehen sich gegenüber dem System aber machtlos bzw. verfallen in einen Zynismus, der sich aus der Hoffnungslosigkeit alternativer Strukturen angesichts des marktwirtschaftlichen Anpassungsdrucks nährt. Daher ist die Kommunikation konkreter Gegenvisionen nötig, die diesen Menschen eine andere Welt aufzeigen, die auch wirklich möglich ist.

Die anschliessenden Diskussionsbeiträge vieler ZuhörerInnen wurden aus Zeitgründen leider stark verkürzt. Dabei tauchte immer wieder das Thema der Revolution und konkreter Strategien auf. Wie ist eine gewaltfreie Enteignung der Kapitalisten möglich, wenn diese doch das staatliche Gewaltmonopol kontrollierten? Wenn ein bewaffneter Kampf nötig sei, wäre dies nicht den Idealen der Bewegungen diametral entgegengesetzt und würde eben die negativen menschlichen Eigenschaften befördern, gegen die angegangen werden soll? Löst Demokratie an sich das Hierachieproblem: "gewählte Diktatur"? Es wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass revolutionäre Bewegungen wie zur Zeit vor allen Dingen in Lateinamerika zu beobachten für die Menschen eine sehr positive und ermächtigende Erfahrung seien.



*) Participatory Economics:  http://www.parecon.org/
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Ergänzungen

Wirtschaftsinteressen der Kriegsgegner

Wolle wir das? 13.11.2003 - 22:42
Die Zustimmung der „Kriegsgegner“ beruht auf eigenen Wirtschaftsinteressen und der Hoffnung auf amerikanisches Entgegenkommen. Die französische TotalFinaElf hat eine Erdölkonzession über 4 Milliarden Dollar im Irak offen (zudem schuldet Bagdad Frankreich insgesamt 8 Milliarden Dollar), und die russischen Firmen Lukoil und Zarubneft unterzeichneten mit der baathistischen Regierung Verträge über Ausbau und Modernisierung des irakischen Ölsektors mit einem Gesamtvolumen von bis zu 40 Milliarden Dollar. Bagdad schuldet Moskau darüber hinaus aus Krediten und Waffenlieferungen bis zu 16 Milliarden Dollar. Beachtlich sind auch die Interessen der neoimperialistischen BRD. Zwar liegt der bundesdeutsch-irakische Direkthandel nur bei jährlich 350 Millionen Dollar, aber hinzu kommt ein Betrag von rund 1 Milliarde Dollar aus dem Handel über Drittländer. Kurz vor der Verschärfung der Irak-Krise waren BRD-Firmen im Begriff, Marktführer in den Bereichen Klimaanlagen, Elektrizitätswirtschaft, Transport, Kosmetik und Textilien zu werden – auf den Sektoren Ersatzteilnachschub und Industrieanlagen war sie es bereits. Sehr wahrscheinlich sind auch noch bundesdeutsche Milliardenforderungen aus den ehrgeizigen irakischen Infrastrukturprojekten der 80er Jahre offen. Vor allem Baukonzerne wie Hochtief und Strabag gingen hier bei Brückenbauten, Straßennetz, Bewässerungsanlagen etc. in Vorleistung. Insgesamt steht der Irak bei der BRD bzw. bundesdeutschen Firmen mit 4,4 Milliarden Dollar in der Kreide. An die Adresse der friedensbewegten Demonstranten des Frühjahres sei gesagt: Jeglicher Widerstand gegen den amerikanischen Imperialismus kann nur in Opposition zu der ebenso imperialistischen BRD-Regierung entwickelt werden, nicht etwa in einer unheiligen Allianz mit dieser oder dem um keinen Deut besseren „Alten Europa“.


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ENDLICH!!

merken sie's 13.11.2003 - 18:37
Natürlich bin ich mit eurem Zukunftsentwurf nicht ganz einverstanden, und doch muß ich euch zubilligen, daß ihr etwas ganz ganz wichtiges begriffen habt:
Man braucht das Bild einer positiven Alternative.
Wer den "Kapitalismus abschaffen" will, muß sagen können, was an seine Stelle treten soll.
Ich wünsche euch viel Beachtung und Diskussion...

naja

ich 13.11.2003 - 21:30
also das mit "euer entwurf" macht keinen sinn. dort treffen sich ja nicht die borg oder eine kommie-partei. es gibt verschiedene ideen und drüber wurde geredet. mehr nicht.