Dreiviertelstreik mit finsterer Garnitur

passenger 24.10.2003 21:05 Themen: Repression Soziale Kämpfe
Zum Generalstreik in Italien und anderen Geschichten nebenher
Halbstreik mit finsterer Garnitur

Bislang ist von 1,5 Millionen Menschen die Rede, die heute in Italien am Generalstreik der institutionellen historischen Gewerkschaften, der Basisgewerkschaftsgruppen Cobas und der Initiativen des Prekariats, also der Arbeiter ohne gesichertem Arbeitsverhältnis teilgenommen haben und ihren Protest gegen die Reformen der Wirtschaft, des Steuerrechts und des Sozialsystems auf die Straße getragen haben. Der Streik wird von vielen, die erst am 7. November streiken wollen "Halbstreik" genannt, weil er eben von den selben Gewerkschaften einberufen wurde, die in der Vergangenheit etliche unsoziale Reformen auf der Haut der Arbeiter und der Arbeitslosen zugelassen haben, weil die historischen Gewerkschaften wie schon 1994 mehr als alles andere die bloße Anerkennung der Gewerkschaften als solche im Sinne des Teilnahmerechts bei den Verhandlungen mit Arbeitgebern und Regierung Priorität zu geben scheinen und weil der Streik angesichts der Schärfe der Systemumwälzungen bei einer Dauer von vier Stunden für unzureichend gehalten wird.

Das Fehlen einer konkreten Oppositionsplattform gegen die Reformen hat viele veranlasst, von einer Teilnahme am heutigen Tag zugunsten des 7. November abzusehen. Die schärfste Kritik wird der Gewerkschaft UIL entgegengebracht, aber auch CISL und CGIL kommen nicht ungeschoren davon. Der CGIL wird vor allem vorgeworfen, in Sachen Renten- und Gesundheitsreform neoliberale Ansätze zu tolerieren und auch, dass sie die Metaller der FIOM zur Zeit des Abschlusses des "Sozialpakts" und bei Tarifkämpfen allein gelassen haben. Eine dritte Position wurde von Personen und Gruppen eingenommen, die zwar nicht die großen Gewerkschaften der Mitte anerkennen, aber meinen, dass Einheit im Moment die höchste Priorität hat, zum einen wegen der Schärfe der Angriffe auf die soziale Gerechtigkeit und die Bedrohung der Demokratie, zum anderen wegen der ebenso scharfen Repressionspraktiken der letzten Wochen, die weite Teile der sozialen und politischen Bewegungen betroffen haben. Diese Gruppen und Personen waren heute auf der Straße und werden es auch in vierzehn Tagen sein. Neben den Basisgewerkschaften werden am 7. November die Metallarbeiter der FIOM streiken.

Die Cobas-Gruppen, die heute beschlossen hatten, Teil zu nehmen, streikten im Gegensatz zu den Gewerkschaften der Mitte ganztags und mit einer anderen Plattform. Ebenso ganztägig streikten die Arbeiter des Handels. Zwei Verbraucherorganisationen und weitere zivile Verbände haben außerdem den Streik mitgetragen. Auch Angehörige der Polizeigewerkschaft Silp-Cgil riefen zum Streik auf. Ebenso haben die Konföderation der Händler und die AN nahe Gewerkschaft UGL den Streik mitgetragen. Groß war unabhängig einer gewerkschaftlichen zugehörigkeit auch die Zahl der Rentner, der Studenten, der Prekären Lohnabhängigen und der Angehörigen sozialer Bewegungen.

Hauptforderungen des heutigen Tages waren in der Hauptsache Löhne nach europäischem Standard, ein garantiertes Mindesteinkommen für Arbeitslose und Prekäre Arbeiter, Angleichung der Löhne und der Renten statt weiterer Kürzungen und lautstarke Opposition gegen die Rentenreform. Wie schon am 4. Oktober geschehen, gab es keine Übertragung der Proteste durch die nationalen Sender. Heftig das Klima, in dem der Streik durch eine groß angelegte polizeiliche Aktion in den frühen Morgenstunden seinen Lauf nahm: Bei 101 Durchsuchungen in Mittelitalien und auf Sardinien wurden massenhaft Datenträger, Unterlagen und weitere Gegenstände beschlagnahmt und sechs Personen verhaftet, zwei Frauen und vier Männer, denen Beteiligung an der Ermordung des Beraters des Arbeitsministers Bassolino Massimo D´Antona vorgeworfen wird.

Wesentliche Ermittlungsansätze lieferten die Handys von Nadia Desdemona Lioce und Mario Galesi, die im März bei einer Kontrolle im fahrenden Zug in einen Schusswechsel mit zwei Bahnpolizisten verwickelt wurden. Galesi und der Bahnpolizist Emanuele Petri ließen ihr leben, Lioce hat sich als Rotbrigadistin zu erkennen gegeben, und sich als politische Gefangene erklärt. Sie wird verdächtigt, an der Tötung D´Antonas sowie an der Tötung von Marco Biagi beteiligt gewesen zu sein. Hier schließt sich der makabre Kreis: der Tag des Generalstreiks ist zugleich der Tag des Inkrafttretens der kompletten Flexibilisierung des Arbeitsrechts eben nach Marco Biagi, seines Zeichens Berater eines Arbeitsministers wie D´Antona.

Sowohl das Inkrafttreten des Gesetzes als auch die Verhaftungs- und Durchsuchungswelle haben den italienischen Behörden nach rein zufällig zeitgleich mit dem Generalstreik stattgefunden. Das bezweifeln allerdings viele und selbst die Witwe D´Antonas erklärte, dass sie diese Konstellation sehr beeindruckt. Vielfach wurde heute vermutet, dass hinter dem Aufsehen erregenden Aufeinandertreffen von Ereignissen mindestens der Versuch stecken könnte, den Generalstreik hinter dem polizeilichen Coup verblassen zu lassen. Hinzu kommt, dass in den vergangenen Wochen bereits eine sehr harte Gangart gegen Aktivisten aus dem linken und anarchistischen außerparlamentarischen Spektrum festzustellen war, mit Dutzenden Durchsuchungen, etlichen Verhaftungen und sehr harten Verurteilungen mehrerer Personen. Deutlich war innerhalb der linken, anarchistischen und sozialen Bewegungen in den letzten Wochen zu spüren, wie Ratlosigkeit und große Besorgnis anfingen, um sich zu greifen. Obwohl auf einer vor wenigen Stunden statt gefundenen Pressekonferenz ein weiteres mal geleugnet wurde, dass soziale Zentren, Anarchisten und sogar Gewerkschaftsaktivisten zum Gegenstand drastischer polizeilicher Maßnahmen werden, die Teile der außerparlamentarischen Bewegungen als terroristisch handelnde Gruppen klassifizieren, ist genau das der Eindruck, der bei zahlreichen Beobachtern des Geschehens der letzten Wochen auf immer schärfere Weise entstanden ist.

Ein sehr scharfer Angriff auf das Streikrecht steht darüber hinaus den Metallern bevor, die am 7. November in den Generalstreik treten werden. Der Innenminister wurde von seinem Kollegen Giovanardi aufgefordert, zum Schutz der Unternehmen, die durch die Streikmaßnahmen in angeblich unzumutbare Not gelangen würden, die Polizei gegen die Streikenden einzusetzen, um die Streiks zu unterbinden. Grundsätzlich wurde in dieser und in der vergangenen Woche starker Druck gegen die Arbeiter ausgeübt. Wie schon in den Vorjahren mehrmals geschehen, suchten Carabinieri mehrfach die zu bestreikenden Fabriken auf, um "Kontrollen" durchzuführen, bei denen teilweise auch Personalien festgestellt wurden. Während der Arbeitskämpfe zur Verteidigung des Kündigungsschutzes war es bereits so weit gekommen, dass die Namenslisten der Streikwilligen eingeholt wurden. Jetzt wurde der Vorstoß gemacht, polizeilich das Streikrecht zu brechen.

Ob der "Antiterrorcoup" mit 101 Durchsuchungen bei sechs Festnahmen in den frühen Morgenstunden das Klima der Einschüchterung, die skandalösen Vorstöße zu Schaden des Streikrechts und die Proteste des heutigen Tages erfolgreich und umfassend überdecken kann, scheint bislang unklar. Das Geschehen in Italien sollte in nächster Zeit jedenfalls gut beobachtet werden.
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Ergänzungen

2 Korrekturen und ein zwei Nachträge

p 25.10.2003 - 02:22
Korrektur 1: Der Satz: "Obwohl auf einer vor wenigen Stunden statt gefundenen Pressekonferenz ein weiteres mal geleugnet wurde, dass soziale Zentren, Anarchisten und sogar Gewerkschaftsaktivisten zum Gegenstand drastischer polizeilicher Maßnahmen werden, die Teile der außerparlamentarischen Bewegungen als terroristisch handelnde Gruppen klassifizieren..." muss ab dem Wort "Maßnahmen" so lauten: "...werden, DURCH die Teile der... KLASSIFIZIERT WERDEN" ´tschuldigung :))

Korrektur 2:

Korrektur : Mehr als 1,5 Millionen haben demonstrert. Gestreikt haben natürlich viele mehr!

Weiter geht´s mit Ergänzenden Nachträgen:

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Nach Angaben der Gewerkschaften haben 10.000.000 bzw. 70-80% der Arbeiter den Streik mitgetragen. Der Präsident der Confindustria, dem italienischen Industriellenverband behauptet seinerseits, lediglich 30% hätten teil genommen.

Die Gewerkschaftsführer haben sich kämpferischer gegeben, als ihre Basis sie in der Reralität kennt: Sie sollen der Regierung und den Unternehmern mit verhältnismäßig klaren Worten signalisiert haben, dass die Mobilisierung anhalten wird, wenn die Exekutive die Entscheidungen nicht revidieren wird, die im ganzen Land auf soviel Ablehnung stoßen. CGIL Chef Guglielmo Epifani sagte: Wenn die Regierung nicht die Richtung wechselt, werden wir die Mobilisierung fortsetzen. Er fügte hinzu: "Heute hat nicht das ganze Land gestreikt, das sagt viel darüber aus, wie die Regierung alle missgestimmt hat". Wenn die Regierung "den Dialog" wolle, müsse sie die Maßnahmen bezüglich der Renten zurücknehmen", sie solle "aber nicht versuchen, auf ungeschickte Weise die Gewerkschaft zu spalten". Er sprach von einer wiedergefundenen Einheit und kündigte an, dass die nächste Einheitsdemonstration den Süden Italiens betreffen wird.

Auch der sonst sehr kompromissfreuedige CISL-Chef Savino Pezzotta brachte es zu ungewöhnlich harten Aussagen: Die Beziehungen zwischen Regierung und Gewerkschaften hätten "den Tiefsten Punkt erreicht". "Von den Absprachen" mit ihr sei man "zum sozialen Dialog und neuerdings zum sozialen Monolog übergegangen",nach einer "Eskalation" nicht eingehaltener Versprechen und Zusicherungen. Es gäbe keinerlei Zustimmung zu "bereits getroffenen Entscheidungen" und keine Bereitschaft zu "falschen Diskussionen".

Der Gewerkschaftsführer, der die größten Kompromisse mit der Regierung zu machen pflegt, entlarvte sich selbst ohne Umwege: "Das reale Land steht
auf Seiten der Gewerkschaft" gab er von sich. So sahen das beispielsweise Arbeiter, die sich mit der Asbest-Problematik herumschlagen wohl nicht, die in Neapel Herrn Angeletti nicht allzu freundlich mit lauten Schreien begrüßten und ihm unmissverständlich klar machten, er sei nicht willkommen. Daraufhin entschied sich Angeletti, vom Podium aus das Thema Asbest anzusprechen. "Der Artikel, der die Renten für die jenigen streicht, die jahrzehntelang an Orten arbeiten, an denen man sein Leben riskiert ist beschämend, niederträchtig und unmoralisch" sagte er, "Die Regierung hat zuerst versprochen, den Artikel 47 zu streichen, der diese Rechte streicht, und gestern hat sie diese Entscheidung zurückgezogen. Das ist eine Schande, weil wir nicht über Privilegien sprechen, sondern über Menschen, die wegen der Arbeit die sie an gesundheitlich gefährdenden Orten gemacht haben und dem Leben, dass sie dort hatten". Erst dann bekam Angeletti Applaus von den Arbeitern auf der Kundgebung.

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Wenn auch die Proteste weitestgehend ohne Zwischenfälle verliefen, so waren die Sicherheitskräfte doch allseits präsent. An der Autobahnabfahrt nach Verona, wo eine gut besuchte Demonstration stattfand, war ein Kontrollposten, der im Kontrolleifer während einer anderen, schon laufenden Kontrolle, hastig einen Bus stoppte, der gerade anrollte. Der Bus war voller japanischer Touristen, die so Gelegenheit bekamen, die neuen Sicherheitsstandards der EU zu testen. Der Bus mit den Japanern wurde tatsächlich durchsucht.

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In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag tauchte in der Redaktion der Tageszeitung L´Unitá ein Polizist in Zivil auf. Er zeigte seinen Dienstausweis, ging in die Druckerei und nahm Fotokopien der Druckfahnen der Ausgabe mit, die in Kürze am Kiosk erhältlich gewesen wäre. Einen Durchsuchungsbefehl hatte er nicht.

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An der Pressekonferenz zu den Durchsuchungen in der Nacht vor dem Streik
nahm als Angehöriger der ermittelnden Gruppen der jetzige Ucigos-Chef Franco Gratteri teil. Gratteri ist einer der hohchrangigen Polizisten, die trotz der schweren gegen sie erhobenen Vorwürfe in Zusammenhang mit dem Überfall auf die Diaz-Schule während des g8 in Genua 2001 befördert wurde, eben zum Vize-Chef der Antiterrorpolizei Ucigos. In Genua war er chef der Einsatzgruppe Sco (Operative Zentraleinheit - Servizio centrale operativo). Er gilt als Augapfel des obersten Polizeichefs De Gennaro und als solcher als "Unberührbarer". Ihm werden schwere Verleumdung, Amtsmissbrauch und Fälschung vorgeworfen. Gratteri ist nämlich in der Affäre mit den Molotov-Flaschen verwickelt, die durch Polizeibeamte in der Schule deponiert wurden, um die blutige Durchsuchungsaktion zu rechtfertigen, bei der Dutzende schwer verletzt wurden und durch die viele Schulinsassen in die Hölle der Kaserne in Bolzaneto gelangten.

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In den Abendnachrichten war die Polizeiaktion der vorherigen Nacht zwanzig Minuten lang der Aufmacher. Die Berichterstattung zum Streik ist grundsätzlich im Medienrummel um die nächtliche Jagd auf mögliche Terroristen untergegangen

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Die Operation der Antiterroreinheiten ist offenbar von großer Brutalität gekennzeichnet gewesen und war wohl in beträchtlichen Teilen widerrechtlich. Mehrere Mitbewohner von Betroffenen Zielpersonen wurden ohne entsprechender Befugnis ebenfalls durchsucht. Die Zahl der Betroffenen insgesamt beläuft sich auf mehreren Hundert, wie einer Mitteilung der Cobas zu entnehmen ist, die die Aktion schärfstens kritisierten. Im Visier der Ermittler waren auch mehrere besetzte Häuser, wie aus eingen Interviews hervorgeht.

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Der Anwalt einer vorläufig festgenomenen Personen erklärte in einem der Interviews, die erste Einschätzung sei, dass die Aktion besorgnisseregende Züge hat. Er merkte an, dass die 101 Durchsuchungen am Tag nach der Eröffnung der Verhandlungen über die Wiederaufnahme der Verfahren, die vor einem Jahr gegen mehrere Angehörige der Rete del Sud Ribelle in Cosenza nach dem berüchtigten und umstrittenen §270 eröffnet wurden und im unmittelbaren Vorfeld des Streiks vom 24.10 stattgefunden haben. Weiterhin wies der Anwalt darauf hin, dass das Ganze nach den zahlreichen Anzeigen und Durchsuchungen die in Zusammenhang mit Demonstrationen in den letzten Wochen stattgefunden haben als ein "sehr deutliches" Zeichen der Regierung an die jenigen verstanden werden könne, die an Demonstrationen teilnehmen und im Alltag in Verbindung mit Themen Kämpfen, die auf der Tagesordnung des heutigen Protests standen. Er bezeichnete den Umstand, dass 100 Durchsuchungen zahlreiche Personen betrafen, die allseits bekannt sind und täglich an offen ausgetragenen Kämpfen teilnehmen als sehr bedenklich. In dem ihm bekanten Fall der Person, die vorläufig festgenommen wurde, war dieser auf Anordnung der Staatsanwaltschaft des römischen Gerichts erst nach seiner Vorführung vor dem Haftrichter gestattet, seinen Anwalt zu sprechen.

Fortsetzung folgt