Horst Wessel: Demontage eines Mythos

Krzysztof Wrath 11.10.2003 17:24 Themen: Antifa
Bis heute wird die Beschäftigung mit dem zum nationalsozialistischen Märtyrer verklärten SA-Sturmführers aus Berlin-Friedrichshain bestimmt von Verklärung und Propaganda verschiedener Seiten. Die Geschichte des 1930 erschossenen Nazis hat jedoch verblüffend vielschichtigere Hintergründe und zeigt uns mehr über die Zustände im Berlin der niedergehenden Weimarer Republik.
Ost-Berlin 1930

Im Wirkungskreis von Horst Wessel fristeten 340 000 Menschen ihr Leben zwischen Elend, Rotlicht, Verbrechen und verranzten Eckstampen. Im „Scheunenviertel“ hatten sogar nur 50% aller ‚Wohnungen’ eigene Toiletten. Vorherrschende politische Kraft waren die KPD und der eigentlich verbotene kommunistische Rotfrontkämpferbund (RFB), der offiziell unabhängig war und eine, als Reaktion auf die Angriffe von reaktionärem Stahlhelm und der SA gegründete, Selbstschutzgruppe darstellte.

Im Friedrichshain und Prenzlauer Berg gab es keine Haussanierungen oder städtische Maßnahmen gegen die Verelendung, Polizisten trauten sich nur in Doppelstreifen auf die Strassen. In den Hinterhöfen der Mietskasernen spielte sich das Leben des zusammengedrängten Lumpenproletariats ab. Die Unterwelt regierte die Kietze (damals noch mit ‚t’) ganz irdisch in Form von Ringvereinen, kriminellen Zünften, die nur mit den Syndikaten nordamerikanischer Großstädte später in den 30ern vergleichbar sind. Sie arbeiteten getarnt als Geselligkeits-, Sport-, Männergesangs- oder Lotterievereine. Tatsächlich besorgten sie ‚Berufsverbrechern’ Hilfe im Umgang mit der Justiz und Strafverfolgung in Form von Geld, legalen Posten und falschen Urkunden und deckten mit Einbruch, Tippgeberei, Hehlerei, Schutzgeld, Prostitution, Opium, Morphium und Kokain das gesamte Spektrum der Kriminalität ihrer Zeit ab. Heutige Yuppies könnten sagen: Sie waren die Marktführer.Der Gangster-Adel gab protzige Bälle, auf denen sich prominente Schauspieler, Anwälte, Richter und Polizeibeamte gern sehen ließen. Es war das Ende der 20er und tatsächlich gab es in Berlin weder vorher noch nach dem ‚Dritten Reich’ jemals wieder ein derart reges, wirres und teils subkulturelles Kulturleben wie in dieser Zeit. Um den Alexanderplatz, der völlig anders aussah als heute, drängten sich die Kellerlokale, Stehbierhallen und Kaschemmen. Auf den Strassen kam es täglich zu Schlägereien rivalisierender ‚Ringe’, teils Massenprügeleien mit über hundert Teilnehmern. Die Münz-, Weinmeister- und die Schönhauserstrasse waren das unangefochtene Gebiet der Kleindiebe und organisierten Hehler. In den Kneipen der Linienstrasse, der Mulack- und der Grenadierstrasse traf sich das „Milieu“, aber es gab auch noch ein paar normale Nachtlokale. U.a. in der Dragonerstrasse (heute Max-Beer-Strasse), der Stein- und der Mulackstrasse florierte die Prostitution. Das war das „rote Berlin“, auf das Goebbels zum Angriff rief. Der RFB war gerade verboten worden, existierte aber einfach weiter, nicht zuletzt, weil sich die blauen Bullen in die von ihm beherrschten Gebiete gar nicht hinein wagten. Die wirtschaftliche Krise nahm kein Ende, Arbeitslose und Eckensteher dominierten das Stadtbild. Gewalt war an der Tagesordnung und es ging um alles mögliche: die Revolution, die Nation, das Schutzgeld, die Prostitution etc. und meistens verschiedenes gleichzeitig.

In dieser herrlichen Umgebung brachte es der Nationalsozialist Horst Wessel zu etwas: einer Kugel im Gesicht.
Die stramme Jugend von Vaters Sohn

Der stocksteife StudentGeboren wurde er am 9. Oktober 1907 in Bielefeld als das erste Kind des deutschnationalen evangelischen Pfarrers Dr. Wilhelm Ludwig Georg Wessel und Luise Margarete Wessel. Der Vater wurde Pfarrer an St. Nikolai in Berlin und die Familie wohnte in der Jüdenstraße 51/52, im ehemaligen Judenghetto. Der Doktor schrieb revisionistische Kolumnen gegen den Versailler Vertrag, gegen Gebietsabtretungen und all das in de rGroßen Berliner Zeitung. Mit 42 starb der unangenehme Kauz, der nicht einsehen wollte, dass der Weltkrieg verloren war, an einem zu spät erkannten Kriegsleiden. Die Familie lebte nun von seiner Pension.

Horst lernte das Marschieren, zunächst im kaiserlichen Sinne, gleichzeitig bei der Bismarckjugend und dem Wiking-Bund, zweien jener Wehrsportverbände und Sammelbecken, mit denen die Rechte auf Verbote reagierte. Horst machte vor allem Saalschutz und gab der deutschen Jugend Jiu-Jitsu-Unterricht. Er war auch bei einigen derben Schlägereien mit RFB, Polizei und dem sozialdemokratischen Reichsbanner dabei. In sein Tagebuch schreibt er zum Thema: „Aber auch gegnerische Veranstaltungen wurden besucht [...] Eine Versammlung des Reichsbanners sprengten wir noch vor der Eröffnung [...] Unser Draufgängertum wurde rückhaltlos anerkannt. Anlässlich einer Wahl hatten wir beispielsweise[...] einen sorglosen Reichsbannerzug zum Kurfürstendamm begleitet, und in einer[...] Seitenstrasse haben wir dann die Genossen nach allen Regeln der Kunst auseinandergenommen. Tatsächlich waren wir zuletzt die einzig radikale Gruppe im Wiking.“

Schon 1924 war dem Polit-Hooligan das Wandern zu lasch, er erschien bei einer Feier der Ortsgruppe 47 der BJ im verbotenen Braunhemd und wollte sich Macht des Gummiknüppels mit den Ordnern anlegen. Horst bekam keinen Einlass, aber ein Ausschlussverfahren. Das brauchte er nicht mehr und trat 1925 aus der BJ und 1926 aus dem WB aus.

Der WB schwenkte schließlich auf einen liberaleren Kurs und löste sich, als er trotzdem verboten wurde, im extrem rechten, aber nicht umstürzlerischen ‚Stahlhelm’ auf. Langsam wird offensichtlich, wie wirkungslos die Verbote waren.
Nazis in Berlin

Die NSDAP war seit dem 15.11.1922 verboten, darauf gründete sich die „Großdeutsche Arbeiter-Partei“ mit dem selben Programm, wurde 1923 verboten und im Januar 1925 wurde das Verbot der NSDAP wieder aufgehoben. Ging ab wie beim Brezelbacken. Man gründete die Ortsgruppe Berlin, war aber zunächst so politisch einflussreich wie ein Treppenwitz. 1926 kam die SA hinzu und die Lage änderte sich. Zuerst wurde sie in Form von Sportabteilungen gegründet, die schon bald mit 450 Mann mehr Mitglieder in der Stadt hatten, als die eigentliche Parteisektion. Führungskämpfe lähmten die Spitze und Hitler schickte Goebbels als NSDAP-Gauleiter nach Berlin. Der beendete die Zankereien der lokalen Führer und organisierte die Nazi-Schlägertrupps neu. Die Aufgaben der SA waren in erster Linie Propagandasachen, wie Aufmärsche, Flugblatt- und Plakataktionen, aber auch immer mehr Straßen- und Saalschlachten.

Blitzkrieg-Karriere

Der Horst notierte begeistert: „Die Nazis[...] aber waren radikal, radikal in jeder Hinsicht.“ Er lehnte die angebotene Mitgliedschaft im Deutschbanner schwarz-weiß-rot ab und wurde am 7. Dezember 1926 NSDAP-Mitglied Nr. 48434. Er trat gleichzeitig in die SA ein. Außerdem schrieb er sich zum Jura-Studium an der Friedrich-Wilhelm-Uni (heute HU) ein. Der Horst wollte wohl das Kriegspielzeug beiseite legen und ‚fanatischen’ Einsatz als ‚politischer Soldat’ zeigen (durchaus positive Ausdrücke im Ohr eines Nationalsozialisten).

In der Standarte I im Bötzowkietz (Prenzlauer Berg) tat er was bereits konnte: Saalschutz, Ordnerdienst und Propaganda. Goebbels provozierte seit 1927 zunehmend mit Aufmärschen in klar antifaschistischen Stadtteilen, was sich als Wessels Chance erweisen sollte. Wessel war bei einigen Straßenschlachten mit den anderen politischen Paramilitärs und der Polizei beteiligt. Er begegnete Goebbels in dieser Zeit und dem schien der draufgängerische Schläger-Student zu gefallen. Vom 6.5.27 bis zum 31.3.28 war die NSDAP samt Unterorganisationen dann mal wieder verboten und man legte sich Tarnnamen zu. Horst wurde Leiter des ‚Edelweißklubs’, der sein Stammlokal in der Konditorei Hahmannn (Pasteurstr. 15) hatte. Hier dichtete der Poet das ‚Edelweißlied’.

Die Aktivitäten des umtriebigen Straßennazis blieben bei seinen Vorgesetzten und auch Goebbels natürlich nicht unbeachtet. Der Gauleiter schickte ihn nach Wien, er sollte dort die Struktur der Hitlerjugend (HJ) zu studieren, um Strategien und Methoden für den Aufbau einer Jugendorganisation in Berlin zu erlernen. Am 1. April wurde er dort Leiter der HJ Jugendgruppe Favoriten. Er hielt wöchentliche ‚Gauabende’ ab und agitierte in Kneipen und bei gegnerischen Veranstaltungen. Er hielt Briefkontakt mit seinem Gönner Goebbels und lernte einige österreichische Lieder, die er noch gebrauchen konnte.

Nachdem das Verbot wieder aufgehoben war, reorganisierten sich NSDAP und SA neu, wobei die SA unabhängig von der Parteistruktur wurde. Nach der Reorganisation im April `28 hatte die SA fünf Standarten in Berlin (ca. 800 Mann).
Sturm und Drang

Horst Wessel wollte nach seiner Rückkehr in der ‚Jugendpflege’ aktiv werden, aber die Berliner HJ war noch unbedeutend klein. Er wurde dem Sturm 1 Alexanderplatz zugeteilt, wo er für organisatorische Fragen zuständig war. Besonders begeisterte ihn der „Seelenfang“, wie er selbst es nannte. Er agitierte in allen möglichen Gasthäusern und Spelunken, auch bei Veranstaltungen der politischen Gegner, wo diese Auftritte bald zur Normalität wurden. Das machte Eindruck auf viele Kommunisten, die zackig das Lager zu den Nationalsozialisten wechselten, auch das war üblich. Er wurde zum zweit häufigst beanspruchten Redner der Stadt (nach Goebbels, versteht sich) und lehnte einige Ämter wegen Zeitmangel ab.

Er übernahm den SA-Trupp 34 Friedrichshain als Truppführer. Hier hatte er an sich schlechte Karten, da der Kietz äußerst rot und seine Einheit mit 30 Mann lächerlich war. Außerdem war die Nazi-Mannschaft des Assi-Distrikts in einem desolaten Zustand. Weil 34 auch noch scheiße klang übernahm der Trupp 34 die Nummer 5, als ein Trupp 5 aufgelöst wurde. Beim ersten Sturmabend des Trupp 5 am 7. Mai 1929 hielt der Horst eine Rede, die sehr begeisternd gewirkt haben muss, denn 38 neue Mitglieder schrieben sich sofort ein. Schon im Mai wurde Trupp 5 mit 83 Mitgliedern zu Sturm 5 befördert. Bald darauf waren es 100 Mitglieder und damit konnte sich der Horst im Berliner Vergleich sehen lassen. Bei seinem Tod am 23. Februar 1930 hatte der Sturm 250 zahlende Mitglieder.

Da die unteren Stufen der SA-Hierarchie in dieser Phase (später als ‚Kampfzeit’ glorifiziert) die Drecksarbeit zu tun hatten, kam den Sturmführern besondere Bedeutung zu. Sie bekamen Befehle für bestimmte Aktionen, z.B. Flugblattaktionen, hatten aber bei der Durchführung und der Wahl ihrer Mittel freie Hand. Sie entschieden, ob uniformiert oder in Zivil vorgegangen wurde, verteilten Aufgaben etc. Dabei waren sie sehr abhängig von der Akzeptanz ihrer Untergebenen, was das Gruppengefühl der Braunhemden stärkte. Während die höheren Grade hauptsächlich untereinander verkehrten, mussten Sturmführer den Kontakt zur Basis behalten, sonst waren sie weg vom Fenster.
Horst in allen Gassen

Die Sturmabende im „Keglerheim“ in der Petersburger 86, später in der „Möwe“ (Große Frankfurter Straße 84) waren gut besuchte Events und boten mit Schulung und Liedermachersound alles, wovon auch heutige Nazis feuchte Sturmhosen bekommen. Horst stand auf den Brettern, die heute Deutschland und morgen die ganze Welt bedeuten sollten. Er trug ‚selbst gedichtete’ Lieder vor wie „Kameraden, lasst erschallen ein sturmgewaltig Lied’, das Plagiat des „Kaiserjägermarsches“ aus Wien, bei dem er nur einzelne Worte austauschte, oder „Wer will mit uns zum Kampfe ziehen“, das Plagiat eines RFB-Kampfliedes mit dem selben Titel. Dann folgte eine knappe Rede und politischer Unterricht, für den er sich auf keinerlei Material von der Partei stützen konnte. Lehrmittel hatte man nicht, aber viele Vorschriften und Dienstbestimmungen. Vielleicht ist es ja möglich zu ahnen, auf welchem Niveau sich dieser Unterricht über das Wesen der Rassen und die Weltpolitik hier im Friedrichshainer Kietz bewegt haben dürfte... (so in Höhe Bodensatz etwa).

Wessel brachte neuen Wind in den propagierten ‚permanenten Wahlkampf’ durch Agitation in gegnerischen Sturmlokalen. Dabei umstellte die SA die kommunistische, sozialdemokratische oder sonst welche Stammkneipe und Horst hielt im Innern eine kurze Rede. Er stellte, nach Vorbild des RFB, Stoßtrupps auf, kleine Einheiten erfahrener Schläger für Störaktionen und Übergriffe. In dieser Zeit wurde er nur zweimal von der Polizei vernommen. Ein besonderer Propagandacoup war die von ihm ins Leben gerufene Schalmeienkapelle. Schalmeien waren bei den Nazis als Kommunisteninstrumente untersagt, aber Horst durfte das und stellte eine ganze SA-Kapelle auf. Schließlich wussten die Friedrichshainer nicht mehr, ob jetzt RFB oder SA um die Ecke kamen, wenn die Schalmeien anrückten. Außerdem waren Schalmeien billiger als Fanfaren und leicht zu erlernen. Viele der neuen Nationalsozialisten konnten es bereits, da sie vorher als Kommunisten marschiert waren.

Der Sturm 5 traute sich mit seinen Aufmärschen immer weiter in einst rote Gebiete vor. Sogar zu den gefürchteten Alt-Stralauer Fischern. Auf Propagandafahrten fuhren die schalmeispielenden Kommunistenhasser in umliegende Dörfer, um zu agitieren, Musik zu machen und Spenden und Naturalien von den Bauern abzufassen.

Horst Wessel hatte zweifelsohne eine Sonderstellung, zumal sein Sturm keiner Standarte unterstellt war, er somit nur Goebbels als Vorgesetzten hatte. Mit dem diskutierte er hin und wieder und der spätere Propagandaminister notierte wohlwollend in sein Tagebuch: „braver Junge, der mit einem fabelhaften Idealismus spricht“. Wessels Sturm hatte den Ruf einer draufgängerischen Bande, die durch viel Aktion, Hektik und Spannung mitreißend wirkte. Er schrieb in sein Tagebuch: „Ich versuchte, jede politische Richtung zu verstehen, und dabei kam ich dahinter, dass es im roten Lager ebensoviel, vielleicht noch mehr fanatische, opferbereite Idealisten gibt, als auf der Gegenseite.“
Der Anfang vom Ende heißt Erna

Auf einer Propagandatour um den Alex traf er sie in der Mexiko-Diele, ungefähr da wo heute das Forum-Hotel ist: die unregistrierte Gelegenheitsprostituierte Erna Jaenichen. Die Dirne und der Faschist verliebten sich. Da beschloss der Führer des SA-Sturms 5, endlich bei seiner Mutter auszuziehen, um mit Erna in ihrer Wohnung in der Palisadenstraße zu wohnen. Bald arbeitete er beim U-Bahnbau als Schipper, als Taxifahrer und Bauarbeiter, was dagegen spricht, dass sie weiterhin auf den Strich ging. Die Nazis erklärten diese Jobs damit, dass er ‚bei seinen Kameraden’ sein wollte, es lag aber eher daran, dass die Mutter dem Studenten kein Geld mehr zukommen ließ – wegen Erna, die sie scheinbar nicht leiden konnte. Schon am Jahresende wohnte der Sturmführer wieder bei Mutti.

Zum Wintersemester 1929/30 brach er das Studium ab, zog wieder aus und wurde nun vollends ‚politischer Soldat’ in Geldnöten.
Trautes Heim

Im Oktober `29 wurde er Untermieter im Mansardenzimmer von Elisabeth Salm in deren Wohnung in der Großen Frankfurter Straße 62 (der heutigen Karl-Marx-Allee). Die beiden schienen sich gut zu verstehen, sie überließ ihm bereitwillig die ganze Wohnung für den Herbst, weil sie ins Rheinland, ihre Heimat, fahren wollte und er bezahlte für ein Jahr im Voraus. Kaum war Elisabeth weg, zog Erna ein. Dummerweise kam Elisabeth jedoch zurück, weil sie befürchten musste, ihren Aufenthaltsstatus in Berlin zu verlieren, wenn sie zu lange fortblieb. So war das damals. Die Wirtin war nicht sehr begeistert von dem leichten Mädchen. Sie wollte sie zunächst rausschmeißen, später zusätzliche Miete. Das sah der selbsternannte Herrenmensch aber tatsächliche Untermieter nicht ein.

Horst Wessel musste sich in der Zwischenzeit persönlich verändert haben, in wenigen Wochen war er vom smarten Studenten zum Alphamännchen eines ständig wachsenden Haufens aus Straßenschlägern, Kleinkriminellen und allen möglichen Rabauken geworden. Ein anderer Untermieter hätte vielleicht mal die „Kein Damenbesuch nach 22 Uhr“ - Regel gebrochen, Horst hingegen hatte jeden Abend Besuch bis in die Nacht – von trinkfesten Faschisten. Und die Dame, na ja die Erna wohnte bereits dort. Besonders die Jaenichen war der Salm ein Dorn im Auge, aber Horst sagte nur lapidar, da sie ja verlobt wären, ginge das schon klar.

Elisabeth Salm versuchte, ihn bei der Polizei abzumelden und aus der Wohnung werfen zu lassen. Sie wurde mit der üblichen Floskel „In ihrer Wohnung sind Sie Schutzmann.“ wieder nach Hause geschickt. Wie sollte sie den lästigen SA-Mann loswerden?

Der Bruder Horst Wessels starb am 22.12.1929 auf einem Skiurlaub, zu dem er ihm geraten hatte. Horst verfiel in Depressionen und zog sich kurz aus dem politischen Alltag zurück. Dieser politische Alltag bestand zunächst vor allem aus Saalschlachten mit Stuhlbeinen, man ging dann dazu über sich aufzulauern, einzeln und in Gruppen Gegner auf der Straße abzufangen und zu vermöbeln. Zunehmend wurde gezielter Straßenterror versucht, z.B. durch Steckbriefaktionen. Dabei wohnten die Rivalen teilweise im selben Mietshaus. Außerdem übte man sich in Sabotage, Feuerüberfällen und immer mehr Schießereien. Agents provocateurs der Polizei zettelten Straßenschlachten an und sogar im Reichstag wurden dieser Tage Kampflieder gegrölt und Schläge ausgeteilt.

KPD-Führer Heinz Neumann gab die Parole aus: „Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft!“. Obwohl die KPD-Zentrale keinen individuellen Terror erlaubte, zeigte ein RFB-Flugblatt ein gemaltes Bild von Horst Wessel mit der Überschrift: „Wie lange noch?“ und „Roter Arbeiter, merk Dir das Gesicht!“. Zu blöd, dass die darauf angegebene Adresse nicht stimmte (Kleine Frankfurter Straße 62).

Horst Wessels Strategie war typisch, seine Taktiken aber atypisch. Er schaffte es, auch viele seiner Gegner zu beeindrucken.

Erst hatten die ständigen Märsche der Nazis zu andauernden Zusammenstößen von RFB, Reichsbanner, SA, Stahlhelm und Polizei geführt. Nach dem ‚Blutmai’, dem 1. & 2. Mai 1929, bei dem rote Barrikaden in Neukölln, Moabit und Wedding standen war der RFB nun vom Sozialdemokraten Zörgiebel, der auch den Schießbefehl erteilt hatte, verboten worden, SA und Stahlhelm aber nicht. Die Lage eskalierte zunehmend.
Baers Kneipe
Kommunistischer SteckbriefDer Dienstagabend des 14. Januar 1930, gegen 20 Uhr 30. Elisabeth Salm machte sich mit ihrer Stiefschwiegermutter auf den Weg in Baers Kneipe in der Dragonerstraße 48 (heute Max-Beer-Straße). Dieses war das Sturmlokal der 2.Bereitschaft des Rotfrontkämpferbundes. Dank großflächigen Bombenvolltreffern im 2. Weltkrieg sieht auch diese Gegend heute völlig anders aus. Es tagten dort die Führer der kommunistischen Sturmabteilung Mitte (klingt alles etwas ähnlich...) und das wusste die Wirtin des unbequemen Nazis. Ich weiß nicht, ob die parteilose Witwe Ahnung von Politik hatte, am Hut hatte sie damit aber nur insofern etwas, als dass ihr verstorbener Mann aktiver Rotfrontkämpfer gewesen war.

Um 21 Uhr tauchten die beiden Frauen bei Baer auf und fragten nach Max Jambrowski, dem Kumpel des verstorbenen Mannes. Der war im Saal bei der Funktionärsversammlung und man wollte sie zuerst nicht hineinlassen. Sie klagte nun, dass ihr Untermieter, der SA-Führer, seine Miete nicht zahlen wollte, was ja nicht ganz stimmte, schließlich hatte er bezahlt – nur nicht für Erna. Eigentlich nahmen die roten Atheisten ihr noch übel, dass sie ihren Mann kirchlich beerdigt hatte, aber der Name Horst Wessel ließ die Straßenkämpfer schnell aufmerksam werden. Nun muss man wohl auch sagen, dass Elisabeth Salm zu alledem noch eine recht gut aussehende junge Witwe war, der anscheinend nicht so leicht widersprochen werden konnte. Auf jeden Fall ließ die Revolution sie ein, obwohl sie kein Tagesordnungspunkt war. Und sie berichtete dasselbe noch einmal, erzählte aber auch noch von RFB-Mitgliederlisten, die ihr Untermieter in einem verschließbaren Schrank aufbewahre, zu dem sie aber einen Schlüssel hätte. Außerdem hätte er Waffen und hätte sie auch schon damit bedroht.
Proletarische Abreibung

Das ging der kommunistischen Sturmabteilung zu weit! Erst die Schalmeienkapelle und dann noch die gute Frau Salm bedrohen. Schnell rief man den Stoßtrupp zusammen. Da die einzige Zeugin aber von Waffen gesprochen hatte, schickte Max Jambrowski den Junek noch mal los in die Mulackstraße, in das Lokal von Galsk, Sturmlokal der 3. Bereitschaft. Der holte von dort Erwin Rückert und Albrecht (Ali) Höhler, beides kietzbekannte, mehrfach vorbestrafte Gelegenheitskriminelle. Rückert war Vorsitzender, Ali sein Vize; beide hatten Pistolen. Ali, nebenbei Unterkassierer des RFB, holte seine noch schnell und dann los. In der Dragonerstraße trafen sie sich bei Baer und gingen in Kleingruppen zu Salms und Wessels Adresse. Elisabeth war bereits vorgegangen und hatte Max Jambrowski den Schlüssel für besagten Schrank gegeben.

Es war ein milder Abend und nach ca. 20 Minuten Spaziergang waren sie alle dort, bis auf die Stiefschwiegermutter, die hatte genug und war nach Hause gegangen. Max Jambrowski stellte Posten auf, hielt sich aber im Hintergrund. Walter Jambrowski (der Bruder von Max), Höhler und Rückert gingen ins Haus. Sie liefen im Hinterhaus und Seitenflügel die Treppenhäuser rauf, kamen keuchend wieder raus und fragten, wo der Nazi denn nun sei. Elisabeth Salms Wohnung war im Vorderhaus. Also ging jetzt Else Cohn vor und fand die Wohnung, wo die Wirtin die Tür offen hielt. Cohn, Höhler, Rückert und Walter Jambrowski traten in die Wohnung. Der Genosse Josef Kadulski tauchte auch noch auf noch auf und sie berieten sich in der Küche. Nun standen sie dort, während Horst und seine Verlobte nebenan im Zimmer Besuch von Klara Rehfeld, einer Freundin Ernas hatten.

Höhler und Rückert luden die Wummen durch und klopften an die Zimmertür, Jambrowski und Kaduslki warteten in der Küche. Horst öffnete die Tür, weil er mit seinem Kumpel, dem Sturmführer Fiedler, rechnete, sie waren verabredet. Höhler schrie „Hände hoch!“, hielt Wessel die Waffe vors Gesicht und feuerte.

Vor Gericht behauptete er u.a., Wessel hätte zur Waffe gegriffen, er hatte aber keine an sich. Erna und Klara kannten Höhler aus dem halbseidenen Milieu und identifizierten ihn später. Ali Höhler

Nun betraten die anderen das Zimmer und die Kommunisten suchten nach den brisanten Papieren, fanden in dem ominösen Schrank aber nur einen Gummiknüppel und eine Ortgis-Pistole Kal. 7,65 mm. Als sie die Wohnung enttäuscht verließen, meinte Ali zum röchelnden Horst noch „Du weißt ja wofür.“ So verließen sie Elisabeth Salm mit ihrem sterbenden Untermieter. Zurück im Sturmlokal verpflichtete Jambrowski die Komplizen zu Stillschweigen, sonst gäbe es ganz fix „eine Kugel durch den Kopf“. In der Großen Frankfurter Straße traf unterdessen Wessels Kamerad Richard Fiedler ein und verhinderte erfolgreich, dass der jüdische Arzt Dr. Selo – Hausarzt der Wirtin –Hand an den Verletzten legte, was dessen Chancen zu Überleben gen null senkte. Das Geschoss hatte die Mundhöhle durchdrungen und Gaumen und Zunge zerfetzt, Zähne ausgeschlagen und Wirbelknochen zersplittert.

Zuerst kam die Partei, um Papiere zu sichern, dann die Polizei, erst nach ca. einer Stunde wurde der Faschofetzen ins St. Joseph Krankenhaus (später Horst-Wessel-Krankenhaus, heute Krankenhaus Friedrichshain – wer’s kennt, will auch jetzt noch nicht hin) gebracht. Unbewiesen ist, ob er vorher „Achenbach-Krankenhaus“ auf einen Zettel gekrakelt hat, wie teilweise behauptet. Er kam aber nach St. Joseph, wo er am 23. Februar 1930 an Blutvergiftung starb.

Nach dem Spiel...

Elisabeth Salm wurde von der SA gezwungen, aus dem Mansardenzimmer eine Art Gedenkstätte zu machen. Sie wusste nicht, wer ihr dabei sonst helfen könnte, und ging mit ihrem Problem zu Dr. Selo, ihrem Hausarzt, dem sie scheinbar vertraute. So half der jüdische Arzt der christlichen Frau, eine Gedenkstätte für den Antisemiten Wessel zu bauen.

Höhler und Rückert konnten bei Hermann Schmidt, Funktionär der „Roten Hilfe“ untertauchen. Ali wurde von einem weiteren Funktionär nach Prag gebracht und bei einer kommunistischen Familie versteckt. Dieser ‚Vertrauensmann’ legte dem 16fach Vorbestraften nahe, er hätte Horst Wessel wegen einer Privatfehde unter Zuhältern erschossen. Die beiden hätten sich um Erna gestritten. Ali hätte auch noch 250 Reichsmark kriegen sollen, womit er gut über die Runden gekommen wäre, aber die unterschlug sein ‚Vertrauensmann’ lieber. So saß er dort, allein und ohne Geld inmitten einer Prager Großfamilie, die nur Tschechisch sprach. Ali konnte ohne seinen Kietz nicht leben und fuhr zurück nach Berlin. Inzwischen wurde er freilich von der Polizei gesucht und am 4. Februar verhaftet.

Elisabeth Salm erhielt eine Aufforderung, im Karl-Liebknecht-Haus zu erscheinen. Ein KPD-Funktionär machte auch ihr dort klar, dass auch sie aussagen sollte, es hätte sich um einen Streit zwischen zwei Zuhältern gehandelt. Es gibt aber weder Beweise dafür, dass Ali und Erna irgendeine Verbindung hatten, sie kannten sich nur flüchtig. Auch war Horst Wessel kein Zuhälter. Warum auch immer Ali schoss, es hatte nichts mit Erna zu tun. Es ist auch möglich, dass die RFBler auf der Versammlung annahmen, Wessel wäre an einem Streit vor dem KPD-Verkehrslokal „Frey“ (Linien-/Joachimstraße) um 20.30 Uhr beteiligt gewesen, bei dem der 17jährige Kommunist Camillo Roß von Nazis angeschossen worden war.

...ist vor dem Spiel

Horst Wessel wurde unter Auflagen beerdigt: Uniformverbot für die SA, keine Fahnen, keine Abzeichen. Geschützt wurde der Leichenwagen durch LKWs der Polizei, auf deren Pritschen Schutzmänner saßen. Aber die Strecke war provokativ genug, führte sie doch in Sichtweite am Karl-Liebknecht-Haus vorbei. Nicht viele Berliner wussten, was da abging, Filmmaterial zeigt nicht die trauernden Massen, de Goebbels zu sehen glaubte. Horst Wessel war noch nicht über seinen Kietz hinaus bekannt. Der Zug endete auf dem Friedhof von St. Nikolai. Spaßvögel hatten an die Friedhofsmauer geschrieben: „Dem Zuhälter Horst Wessel ein letztes: Heil Hitler!“. An Straßensperren entwickelten sich Tumulte, die berittene Polizei setzte Schusswaffen gegen die zahlreichen Gegendemonstranten ein. Bildmaterial, dass Kommunisten zeigt, die versuchen, den Sarg umzuwerfen, entstammt aber einem Nazifilm des ‚Dritten Reichs’ und ist nicht authentisch. Man sieht das auch daran, dass die ‚Kommunisten’ Sommerkleidung tragen – im Februar.

Auf dem Friedhof waren die Uniformen dann wieder erlaubt, der Sarg wurde mit einer Hakenkreuzfahne bedeckt und Goebbels hielt eine Rede.

KPD-Zeitschriften verbreiteten weiter die Zuhälterlegende und NSDAP-Zeitungen die Mähr vom politischen Attentat.

Ich glaube eher an die Unschuld von Erna Jaenichen...

Alle Beteiligten wurden gefasst und vor Gericht gestellt. Der Prozess begann am 23. September 1930 und wurde zu einem allgemein beachteten Schauprozess. Schon nachts um fünf bildeten sich Warteschlangen vor den Gerichten, alle wollten dabei sein. Rückert sagte dort aus, sie hätten Wessel nur eine ‚proletarische Abreibung’ geben wollen, um der ehrenwerten Frau Salm „nach dem schönen Brauch der armen Leute beizustehen“. Interessanter für den Stoßtrupp waren aber sicher die angeblich belastenden Papiere im Schrank, die gar nicht existierten. Jambrowski hatte bei der Versammlung nach anfänglichem Desinteresse am Nazi-Schuldenbaron beim Namen aufgehorcht und gerufen: „Ach, das ist ja der langgesuchte Wessel!“. Nachbarschaftshilfe?!

Die Angeklagten werden als Täter verurteilt, niemand als Gehilfe. In der Urteilsbegründung heißt es, dass Auseinandersetzungen zwischen politischen Gegnern „wie es Kommunisten und Nationalsozialisten nun einmal sind, heutzutage ohne Schusswaffe überhaupt nicht unternommen zu werden pflegen“.

Elisabeth Salm erzählte dem Gericht nicht die Geschichte vom Ludenstreit, sondern sagte aus, dass ihr Untermieter niemals Zuhälter war (sie hätte es dann ja auch geduldet). Nicht zuletzt deshalb brach die Geschichte vor Gericht zusammen, sie hatte ohnehin eher der Partei, als den Angeklagten genützt.

Es gibt aber keinerlei Hinweise in den polizeilichen Akten aus der Zeit, dass Horst Wessel mit der Unterwelt zu tun hatte.

...als an die Gerechtigkeit der deutschen Justiz

Höhler und Rückert erhielten je sechs Jahre und einem Monat Zuchthaus, Kadulski fünf Jahre und ein Monat Zuchthaus. Jambrowski war nicht direkt beteiligt, wurde aber als ‚Anführer’ verurteilt und bekam zwei Jahre Gefängnis. Elisabeth Salm erhielt anderthalb Jahre , Else Cohn ein Jahr. Der rechten Hetzpresse war das Urteil selbstverständlich zu lasch. Sie sprach von einem Mordplan der KPD. Hätte es den gegeben, wäre er sicher nicht so ungeschickt durchgeführt worden.

Die KPD hielt weiter an der Zuhälterversion fest und leugnete Höhlers Mitgliedschaft, man fürchtete das Verbot und wollte nichts mit der Assigeschichte zu tun haben. Peinlich genug war schon, dass die komplette 3. Bereitschaft der Mulackstraße einst aus dem kriminellen Ring-Verein übergetreten war und auch unter den Genossen einen zweifelhaften Ruf hatte.
Waldstrafe oder KZ

Am 30. Januar 1933 musste Ali Höhler klar sein, dass er nicht mehr allzu viele Chancen hatte. Schließlich hatte er erst die Hälfte der Strafe im damaligen Wöhlau (in der Nähe von Wroclaw/Polen) verbüßt. Nun wurde er nach Berlin überstellt, erst ins Justizgefängnis, dann ins Gestapo-Gefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße. Rudolf Diel, der Gestapo-Chef, lud Höhler persönlich vor und fragte den Knastologen, was er denn davon halte, dass sein Verfahren neu ‚aufgerollt’ würde. Ali antwortete: „Det mir ma’ eene jeballert wird, dit is amtlich.“ .

Höhler wollte wieder nach Wöhlau überstellt werden. Am 20. September fuhr ein Kriminalbeamter mit ihm im PKW los. Das Auto wurde von bewaffneter SA gestoppt und Höhler rausgezerrt, in einem Wagen ohne Nummernschilder fuhren ihn einige SA-Männer davon, andere hielten den Polizeiwagen fest. Der Jagdhund eines Revierförsters schließlich fand Höhlers durchlöcherten Körper in einem Wald östlich von Berlin.Unbewiesen aber möglich ist, dass Diel bei der Exekution dabei war. Er wusste von dem Plan, sonst wäre es so leicht nicht möglich gewesen.

Die anderen Urteile wurden neu verhandelt: Rückert und Kadulski kamen als ‚Berufsverbrecher’ ins KZ Mauthausen. Beide sterben 1943 in Gusen, einem Außenlager. Jambrowski starb in Buchenwald.
Wo ist denn nun der Jude?

Durch die neuen Verfahren wurden auch Sally Epstein, Ziegler und Stoll aufgestöbert. Die neuen antisemitischen Gesetze mussten durchgesetzt werden und man brauchte Schauprozesse. Da Epstein und Ziegler geborene Juden waren, verurteilte man die Mitläufer wegen Mordes (die anderen hatten Totschlag bekommen) zum Tode. Stoll kam für siebeneinhalb Jahre ins Zuchthaus. Noch heute berufen sich rechte Spinner darauf, dass die jüdischen Beteiligten (auch Else Cohn) die Drahtzieher gewesen wären, wie es in ihr Weltbild passen würde. Sie waren aber nur Randfiguren einer stumpfen Spontanaktion.
Zwei Frauen

Elisabeth Salm, die nur ihr Zimmer vermieten wollte, starb in Bergen-Belsen im März 1945 an Typhus. Schon 1934 war sie laut einer Mitgefangen, die sie im Polizeipräsidium Alexanderplatz traf, vollkommen „weichgeklopft“. Die früh verwitwete Frau, die ohne die Tragweite ihrer Handlung zu überblicken, Hilfe bei politischen Männern gesucht hatte und so zwischen die Fronten von Kommunismus und Faschismus geraten war, hat das gesamte ‚Dritte Reich’ im KZ verbracht.

Erna Jaenichen tauchte nach dem Prozess unter und heiratete einen Verwaltungsangestellten. Dann klagte sie noch einmal gegen ihre Darstellung in einem schnulzigen Liebesroman über Horst Wessel, bekam Recht und verschwand wieder. Dank ihres neuem Namens fanden sie die Behörden in den wirren Jahren und auch später nicht mehr wieder. Angeblich wurde sie bis 1933 auch von einigen Kommunisten unterstützt.
Der Zuhälter-Christus

Die Informationen über den Fall sind bestimmt von politischer Propaganda verschiedener Seiten. Keiner der Beteiligten hatte ein wirkliches Interesse an der Aufklärung der Details. Die Faschisten hatten ihren Märtyrer. Goebbels besuchte Wessel einmal im Krankenhaus, aber erst nach seinem Tod machte er ihn zu einer vollkommen verklärten Idealfigur des ‚unbekannten SA-Mannes’. Natürlich erkannten die Kommunisten diese Absicht, hatten andererseits Angst vor Parteiverbot wegen terroristischer Aktivität. Das Karl-Liebknecht-Haus wollte sich sauber halten, verleugnete Ali Höhler, als es ihn nicht mehr verstecken konnte. In KPD-Blättern wurde er als Polizeispitzel beschimpft, was eine glatte Lüge war. Die Zuhälterlegende sollte den Mythos beschädigen und die Partei raushalten.

Tatsächlich finden wir hinter all dem eine Geschichte, wie sie typisch war für diese raue Zeit, die später bei den Nazis als ‚Kampfzeit’ und bei den Kommunisten als Klassenkampf glorifiziert wurde, obwohl dieser Kampf geführt wurde von obskuren Figuren, wie den hier Beteiligten.
Wie lange noch?

Horst Wessels Grab wurde von den Sowjets mit allen anderen Gräbern von Nazi-Funktionären geschliffen. In der DDR gab es natürlich kein offenes Gedenken, dennoch fanden sich hin und wieder heimlich abgelegte Kränze. Die DEFA drehte noch in den 80ern einen Film, der die offizielle Zuhälter-Geschichte vertrat.

2000 buddelten Spaßvögel, die sich ‚Autonome Totengräber’ nannten, auf dem Friedhof, erwischten jedoch das Grab des Vaters. Angeblich haben sie dessen Schädel in der Spree versenkt, die Polizei hingegen behauptete die Grabungen wären nur oberflächlich gewesen. Natürlich waren die Neonazis erbost, zumal es am Tag vor dem 70. Todestag ihres Helden geschah.

An dem Haus in der heutigen Karl-Marx-Allee (zwischendurch auch Stalinallee), in dem Wessel starb, hängte der Bezirk eine Mahntafel auf. Auf dieser waren geschickter Weise nur ein Propagandafoto und ein undeutlicher Text zu sehen. Die Mahntafel wurde für eine Gedenktafel gehalten und fortan von Verblendeten mit Blumen geschmückt, woraufhin sie erst mal wieder abgehangen wurde. Nun sammelt ein Förderverein Geld für ein neues Schild, da nach den Sparmaßnahmen solche Späße nicht mehr drin sind.


1a Quellen zum Thema u.a.:

Thomas Oertel, Horst Wessel – Untersuchung einer Legende

Heinz Knobloch, Der arme Epstein

George Broderick (Uni Mannheim), Die Fahnen hoch (Internet)
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Ergänzungen

schon lustig ....

sonneschein 11.10.2003 - 21:00
... wie sich generationen von neofaschisten auf Wessel beziehen. Obwohl der ja gar nicht ihrem kleinbürgerlichen weltbild entspricht! Kühnen [Friede seiner asche]war ja auch Wesselfan.
Aber das zeigt ja voll, daß sie nicht mal in der lage sind ein in sich geschlossenes "weltbild" zu basteln.
Asterix würde sagen "die spinnen ... die Römer"

Guter Artikel

ich 12.10.2003 - 13:38
Guter Artikel; gerade in den letzten Jahren taucht im Osten mehr und mehr Propaganda zu Wessels Todestag auf, da ist es wichtig, den mal näher zu beleuchten. Vielleicht können ein paar gescheite Köpfe da ja auch mal was in Papierform machen, zum Rummel um Rudi Hess gibts schließlich auch die gute Broschüre aus dem Unrast Verlag.

Mal ne Frage an den Schreiber ...

Raskild 12.10.2003 - 19:31
Warum hast du gerade jetzt diesen ewig langen Artikel über Horst Wessel und seine Zeit gerade jetzt veröffentlicht? Steht irgendwas an von dem ich nichts weiß?

Für Aufklärung wäre ich dankbar!

MfG


Raskild

Knobloch

leser 17.10.2003 - 17:17
@Krzysztof
danke für den Artikel, er hat mich direkt in die Bibliothek getrieben. Was ich allerdings nicht nachvollziehen kann ist der Titel "Demontage eines Mythos". Ich hielt Wessel zuvor für den propagierten Zuhälter, was schlieslich zum heutigen Nazitreiben gut passt.
Knoblochs Wessel Darstellung deutet auf einen durchaus integren Mann. Ein mutiger Politaktivist der 30iger, kein bornierter Standardnazi. Eher ein intelligenter, aktiver Mann mit Sinn für Bodenständiges. Sein Engagement für Erna ist absolut korrekt.
Letzendlich ist er ja auch durch den RFB umgebracht worden, zwar in einer unkoordinierten Aktion - aber durchaus mit passendem Hintergrund.


@kritik

ich glaube nicht das "spiesig" das richtige wort ist. knobloch versucht sich im stil des "kleinen mannes", welcher mit einer gewissen arroganz auf die politler und störenfriede (hierbei setzt er RFB gleich SA und KPD gleich NSDAP). anfangs hielt ich das fuer ein (sagen wir mal) literarisches mittel, inzwischen denke ich das er an die unschuld der unpolitischen glaubt.

etwas krass finde ich so seine darstellung zu sally eppstein, mehrfach betont knobloch das sally weder ein reicher noch ein orthodoxer jude gewesen sei und entwickelt daraus eine besondere tragik - sally sei ein besonders unschuldiger mitmensch gewesen. bei dieser darstellung sagt er implizit - ein orthodoxer jude wäre ja als naziopfer nur verständlich gewesen.



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Ali Höhler — xxx

langweilig... — HW

Horst Wessel - ein Zuchälter? — Boguslaw Trzeciak