Bolivien: Aufstand der Bauern

Kh. (Übersetzung) 30.09.2003 02:35 Themen: Freiräume Globalisierung Militarismus Repression Soziale Kämpfe Weltweit
Hier ein Hintergrundbericht über die erschreckenden Lebensbedingungen der Bauern in Bolivien, der einiges über die gegenwärtige Rebellion und explosive Situation in Bolivien auszusagen hat.
La Paz, 28. Sept. 2003

Mit ihrer ruinierten Wirtschaft, vom freien Markt aufgegeben und von Staatsmacht und Gesellschaft, die sie noch immer mit Verachtung und Arroganz betrachtet, geringschätzig behandelt, haben die bolivianischen Bauern und Indigenen Gründe im Übermaß, um zu revoltieren.

Wir sind keine Tiere, wir sind keine Wilden, wir sind menschliche Wesen (...) die Regierung sollte uns respektieren und nicht auf uns schießen, sagt einer von ihnen, der sich vor den Kameras von TV - Red Uno, mitten auf der Hauptverkehrsader des Andenhochlands aufgebaut hat, einer von denen, die in ihrem Kampf für die Wiederverstaatlichung von Erdöl und Erdgas mit den Militärs im Streit liegen.

Alles wie ein Traum für die Männer und Frauen vom Land, die noch mit Feuerzeug, Guano und Holz als Brennmaterial hantieren. Männer und Frauen, die sich mit Koka, Urin und Heilkräutern kurieren, weil es weder Gesundheitsstation noch Arzt gibt. Männer und Frauen mit vielen Kindern, denn viele sterben frühzeitig an Durchfall, Unterernährung und Verwahrlosung. Es gibt zahlreiche Familien wie die von Juan Cosme Apaza, dem 35-jährigen Bauern in Warisata, der am Sonnabend, 20. Sept. durch Soldaten von Kugeln durchsiebt wurde und der eine Witwe und neun Kinder (das älteste ist 12 Jahre alt) als Waisen zurückläßt, die bestimmt sehr bald, wie es Tausende machen, in die Elendsviertel der Stadt, oder zur Zuckerrohrernte in Argentinien abwandern, oder wie ihre Väter und Großväter den Weg der Rebellion einschlagen werden

RUINIERTE WIRTSCHAFT

Die bäuerliche Lebensweise und Wirtschaft im Andenhochland und einem großen Teil der Täler liegt in den letzten Zügen. Der freie Import ausländischer Erzeugnisse, die totale Vernachlässigung durch die Regierung, der Kleinstgrundbesitz und Landmangel verurteilen die bäuerliche Wirtschaft, in der niedrigste Produktivität vorherrscht, die Armut regiert und die Unzufriedenheit wächst, zum Ruin,

Die Probleme sind enorm und haben sich durch den Neoliberalismus noch auf das Äußerste zugespitzt. Unabhängige Studien stellen fest, daß das Durchschnittseinkommen der Bauernfamilien während der letzten fünfzehn Jahre um 50 % gesunken ist. Heute muß in der bolivianischen Landwirtschaft das Doppelte produziert werden, um gerade so das Dasein zu fristen wie früher, was außerdem sehr schwierig ist, weil die Erde nicht mehr so viel hergibt wie früher, weil mehr Münder ernährt werden müssen und es geringere Absatzmöglichkeiten gibt.

Im Durchschnitt entstehen jedes Jahr im Hochland und in den Tälern mehr als 16 000 neue Kleinst-Landwirtschaften (Minifundios), in einem derart beschleunigten Prozess der Landfragmentierung, der die Produktionsprozesse erschwert und sie binnen kürzester Zeit unrentabel macht. Vom Minifundio (Kleinstbesitz) ist man inzwischen bereits zum Surcofundio (Besitz einer Furche) übergegangen. In dieser Lage befinden sich eine Million Kleinstlandwirte (agricultores minifundiarios), die tagtäglich ärmer und elender werden, sowie weitere 250 000, die nicht einmal mehr über eine eigene Furche verfügen. Es ist deshalb kein Zufall, daß nach den offiziellen Zahlen fünf von zehn Bauern Hunger leiden und vier kaum genug haben, um sich ein bescheidenes Essen zu leisten.

TOTALE VERNACHLÄSSIGUNG

Heute hat jeder Bauer des Hochlands und der Täler wesentlich weniger Land als früher, weshalb auch ein beschleunigter Prozeß der Aufgabe traditioneller Landflächen und eine starke Migration vom Land in die Städte, und vom Westen des Landes in den Osten eingesetzt hat.

Das Ergebnis dieses Prozesses ist die Verbreiterung der Zonen der Armut und Ausgrenzung in den größten Städten und wachsende Konflikte um den Besitz von Grundstücken, besonders im Osten des Landes.

Auf dem Land verschärft sich die Situation wegen der gänzlich fehlenden Unterstützung durch die Regierung: es gibt keine Kredite, es gibt keine technische Unterstützung, die Investition in die Produktionsinfrastruktur ist dürftig und sinkt weiter. Was aber am meisten schmerzt, ist die permanente Regierungspolitik zur Öffnung der Grenzen, zur Senkung der Einfuhrzölle und Einfuhr billiger, subventionierter Erzeugnisse ins Land, die die inländischen Produzenten ruiniert.

POLITIK DER VERNICHTUNG

Das Resultat ist nur allzu klar: sie strangulieren die bäuerliche Wirtschaft, entwurzeln die Männer und Frauen vom Land, die noch 40 % der bolivianischen Bevölkerung ausmachen. Wenn sich aber dieser Rhythmus der Produktionsminderung und der verschlechterten Lebens- und Arbeitsbedingungen fortsetzt, könnte die bäuerliche Wirtschaft in einem Zeitraum von nicht mehr als 20 Jahren nur noch Erinnerung sein, warnen die mit der katholischen Kirche verbundenen Organisationen.

Gegenwärtig findet eine Strangulierung der ökonomischen Produktionstätigkeit von Bauern und Indigenen statt, vor allem bei der Produktion von Nahrungsmitteln und Verarbeitungsprodukten, da sie nicht über die materiellen Bedingungen verfügen, mit den in den Herkunftsländern subventionierten Importprodukten konkurrieren zu können, erklären sie.

Aber das interessiert die bolivianischen Regierenden nicht, die bei der Tagung der Welthandelsorganisation (WTO) in Cancún beispielsweise vorbrachten, die Einfuhrzölle ganz zu streichen und forderten, die Subventionen für landwirtschaftliche Erzeugnisse zu untersagen. Für Bolivien würde dies bedeuten, einen maximalen Anreiz für die Einfuhr ausländischer landwirtschaftlicher Produkte zu schaffen und dem inländischen Bauern null Unterstützung zu gewähren.

Die Regierung hat die Absicht, den bolivianischen Bauern auf gleicher Ebene mit den transnationalen Nahrungsmittelfirmen und den mittelständischen und großen Unternehmen der Nachbarländer konkurrieren zu lassen. Einfach ein Selbstmord, nach CIPCA-Experten, die demonstrieren, daß die landwirtschaftliche Produktivität der entwickelten Länder 500-mal höher als die bolivianische ist. Vor einem Jahrhundert war die Differenz noch das 20-fache gewesen.

DER WIDERSTAND

Aber diese Anti-Bauernpolitik der Regierung wird von der Agrarbevölkerung des Andenhochlands und der Täler mit Widerstand und Kampf beantwortet, die sich weigert zu sterben und stattdessen ihre alten Fahnen in den neuen Farben aufpflanzt.

Eine neue Agrarreform muß durchgeführt werden, die Schluß macht mit der extremen Konzentration von Ländereien, die sich im Besitz der Großgrundbesitzer befinden und die Millionen von Bauern mit genügend Land ausstattet, sagte vor kurzem der Anführer der Coca-Anbauer und Hauptführer der Bewegung zum Sozialismus (Movimiento al Socialismo - MAS), Evo Morales bei der Gedenkfeier zum 50. Jahrestag der Agrarreform Anfang August dieses Jahres.

Heute haben die Führern der Bauern- und Indigenen-Organisationen Boliviens eine neue Agrarrevolution im Sinn, um mit den Latifundien im Osten des Landes endgültig Schluß zu machen, den Kleinstgrundbesitz im Westen zu überwinden und der Landwirtschaft den Weg des Fortschritts und der Entwicklung zu öffnen. Die offiziellen Daten zeigen, daß 87 % des Landes sich in den Händen der Großgrundbesitzer und unproduktiven Neo-Latifundien befinden, während die einfachen Bauern kaum 13 % des Grund und Bodens innehaben.

Wir wollen nicht nur das Land, sondern auch das Territorium; nicht nur den Boden, auf dem wir gehen, sondern auch den Untergrund mit seinen Bodenschätzen wie Erdgas und Öl, fügte der "Mallku" Felipe Quispe hinzu, der die Andenrebellion zur Wiedereroberung (reconquista - das Wort erinnert an die jahrhundertelange spanische Reconquista, d.Ü.) des Erdgases für die Bolivianer und indigenen Völker anführt. In der Bauern- und Indigenen-Bewegung herrscht die Gewißheit, daß mit der Wiedergewinnung des Eigentums am Erdgas in Bolivien die Elektrifizierung und Industrialisierung auf dem Land in Angriff genommen und der Landwirtschaft ökonomische und finanzielle Unterstützung gegeben werden könnte. Das wäre undenkbar, wenn diese schadstoffarme Eneriequelle in den Händen der transnationalen Firmen verbliebe, die Millionen und Abermillionen einstecken und wenig oder nichts im Lande lassen.

Das Erdgasexport-Projekt in die Vereinigten Staaten über einen chilenischen Hafen wird den ausländischen Ölgesellschaften zum Beispiel einen jährlichen Gewinn von 1 300 Millionen Dollar ermöglichen, während Bolivien kaum 40 bis 70 Millionen Dollar an Steuern und Nebeneinnahmen(?) bleiben.

Das ist es, was heute umstritten ist, inmitten all der Straßenblockaden, inmitten der Steine und Schüsse. Eine Welt der Bauern und Indigenen, unterstützt von Arbeitern, Studenten und verarmten Angehörigen der Mittelschichten, die dieselben Träume und dieselbe Farbe der Erde miteinander gemein haben, im Kampf gegen die Regierung einer kleinen weißen Minderheit von Millionären, die mit den Großunternehmen und dem Finanzkapital im Bunde stehen. Der Kampf für das Recht auf ein würdiges Leben. Wir sind keine Tiere, wir sind keine Wilden, wir sind Menschen (....) die Regierung sollte uns respektieren und nicht auf uns schießen.

Quelle: Econoticiasbolivia.com (Gabriel Tabera) (28/09/2003 17:49) auf - 29/9/03 12:53

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Ergänzungen

Der Tourist

Benjamin Sello 07.10.2003 - 19:04
Seit 2 Wochen bin ich in La Paz, ein Praktikum in einer NGO auf dem Land, in Palca, wo auch blockiert wird. Hier in La Paz arbeite ich im Buero, lebe ich in einem Hostal, bin ich ein Tourist. Wirklich muss ich sagen das die Blockaden hier in der Stadt alles andere als allgegenwaertig sind. Gestern gab es eine grosse demo der Campesinos, sicher die Stimmung ist agressiv. Aber was ist das fuer ein Qutasch das es kein Fleisch gebe. Nein wirklich, die Preise im restaurant sind die gleichen und die MArktstaende sind voll von Schweinebaeuchen und Rinderhaelften. Wirklich spuert man hier in der Stadt erschreckend wenig von der in der Tat dramatischen Situation. Der Taxifahrer faehrt sein Taxi und weiss nicht auf wen er schimpfen soll: auf die Regierung,auf Goni, der Praesident der nur von Zeit zu Zeit die paar spanischen Vokabeln die er gepaukt hat irgendwo unterbringen kann, mit stolzem nordamerikanischem Akzent. oder lieber doch auf die verrueckten Bauern, die mit ihren Blockaden Reisewarnungen des Auswaertgen Amtes provozieren und die ganzen guten Touristen verscheuchen.
Immer mehr zu den grossen Suendenboecken werden im uebrigen die Bauern- bzw Gewerkschaftsfuehrer stilisiert. "Die haben einfach Lust die Regierung zu aergern, die wollen doch gar nicht verhandeln!" erklaert der Taxifahrer, die Tageszeitung mit dem grossen Bild der "randalierenden, durchgeknallten" Bauern auf der Titelseite.
Der Lehrerverband hat inzwischen einen Generalstreik ausgerufen der erst enden soll wenn der Praesident zuruecktritt. Und den Bauern geht es schlecht.
Fuer eine Revolution die wir uns alle wuenschen, fuer einen Sturz der Neoliberalen Regierung aus der breiten Masse der Bevoelkerung heraus wird es nicht reichen. eher laeuft alles auf einen sich immer weiter zuspitzenden Antagonismus zwischen Land und Satdt hinaus.

Quatsch mit Sosse!

Patrick Frei 12.10.2003 - 02:39
Hello liebe Leute,

auch ich sitze feste fest in La Paz.
Aber abgesehen davon und von Demonstrationen, die alle recht gemuetlich verlaufen sind, hat man hier im Zentrum die letzten Tage eigentlich nichts gross mitbekommen. Im Alto, dem 2. La Paz ueber La Paz, soll hingegen schon eher die Post abgehen!
Lebensmittel gibt es in Huelle und Fuelle; ja gut die Preise fuer besondere Artikel wie Avocados und so sind gestiegen.
Jedoch, dass es kein Fleisch gibt, ja vor einer Woche kein Fleisch gab, als die Lage noch wesentlich entspannter war erscheint mir als Desinformation, lieber Compañero!
Wahr ist leider, dass sich die Lage tatsaechlich immer mehr zuspitzt, die Gas- und Benzinzufuhr wurde von den Campesinos gekappt (noch fahren die Autos eigentlich normal)und die Regierung reagiert vermutlich, anstatt mit Einlenken und saunoetigen Reformen, damit den Ausnahmezustand auszurufen. Das ist noch nicht 100% klar. Fest steht die Ausgangssperre fuer die heutige Nacht! Mal sehen wie die Bevoelkerung darauf reagiert.
In La Paz wird immer wahnsinnig viel Politik auf der Strasse gemacht. Doch diesmal scheint bereits ein Punkt ueberschritten und ich vermute all die Campesinos, Mineros und Maestros werden sich von den niedertraechtigen Aktionen und Provokationen der neoliberalen Kackregierung nicht "Klein kriegen" lassen.
Sollte die Regierung, wie es scheint, auf das Mittel Gewalt setzen koennte hier ganz schoen was losbrechen. Manche reden schon von einem anstehenden Buergerkrieg!

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