Bolivien: Waffenstillstand im Altiplano

traductora 29.09.2003 03:42 Themen: Weltweit
Bericht aus Econoticiasbolivia.com vom 22.9.03, 2 Tage nach dem Tod von fünf Menschen im bolivianischen Hochland
Ein regelrechter Waffenstillstand hat sich Montag bei Dämmerung im gebeutelten bolivianischen Hochland eingestellt, Schauplatz eines blutigen Aufeinandertreffens von Militär und Polizei die loyal zum Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada stehen und Bauern, die seine ökonomische Politik ablehnen.

In Warisata, Achacachi und anderen Örtlichkeiten der Provinz Omasuyos, wo diesen Samstag (20.9.2003) fünf Zivilisten und zwei Soldaten erschossen wurden, weinte die Bevölkerung um ihre Toten und verwünschten ihr Schicksal und die neoliberale Regierung. Dort, auf über 4.000 Metern Höhe, sprechen die Männer und Frauen von einem unmittelbar bevorstehenden Bürgerkrieg, obwohl nur einige von ihnen ein paar alte Mauser-Gewehre besitzen, Erbe der nationalen Revolution von 1952 die den Frondienst und den Großgrundbesitz im Westen des Landes beendete.

?Bürgerkrieg, Bürgerkrieg?, rufen sie vor den Fernsehkameras, die Wut und die Ohnmacht derer aufnehmend, die massakriert wurden, weil sie sich dem Export des Gases entgegenstellten, ein Geschäft, das dem transnationalen Konsortium Pacific LNG 1.300 Millionen Dollar einbringen würde und nur 40 ? 70 Millionen dem bolivianischen Staat.

?Wir wollen Gerechtigkeit. Mein Mann hat um 4 Uhr nachmittags das Haus verlassen und ich habe ihn seitdem nicht wiedergesehen?, klagt die Witwe eines der gefallenen Bauern. Sie spricht auch von Bürgerkrieg, glaubt, dass das der Ausweg ist, auch wenn sie vorher die Einheit fordert und dass man sie nicht alleine lässt, wie es fast immer passiert.

In den Städten, besonders in La Paz und Cochabamba, wo sich die Hauptführer der Central Obrera Boliviana (COB) (Bolivianische Arbeiter Zentrale) des Minenarbeiters Jaime Solares, der Confederación Sindical Única de Trabajadores Campesinos de Bolivia (CSUTCB) (Bauerngewerkschaft) des ?Mallku? (Aymara-Häuptling) Felipe Quispe und des Movimiento al Socialismo (MAS) (Bewegung zum Sozialismus) von Evo Morales befinden, haben die Proteste und Mobilisierungen den Worten (wenn auch drohenden) den Weg überlassen.

Evo, Chef des MAS, ist direkt: der Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada hat zwei Möglichkeiten, entweder er wechselt seine Handlungsweise und holt das Gas für die Bolivianer zurück oder er verlässt die Regierung. Es gibt keine andere Möglichkeit, sagt er.

Ein anderer der Führer des Estado Mayor del Pueblo, Oscar Olivera, der fabril (Fabrikarbeiter?) der einen quasi Volksaufstand in Cochabamba angeführt hat, beim sogenannten ?Krieg ums Wasser?, wiederholt dieselben Worte und instruiert die sozialen Organisationen sich vorzubereiten. ?Bis jetzt gibt es noch keine Mobilisierungen, wir müssen uns organisieren?, signalisiert er.

Dieser Prozeß der Organisation hat schon begonnen. Die COB, die CSUTCB, die Coordinadora del Gas und der MAS haben beschlossen, zusammenzuarbeiten um für Bolivien die natürlichen Gasvorkommen zurückzugewinnen, ein Reichtum, der mit über 80.000 Millionen Dollar beziffert wird und der den Transnationalen überlassen wurde durch ein illegales und geheimes Dekret, unterschrieben von Sánchez de Lozada wenige Tage bevor er sein erstes Präsidentschaftsmandat vor sechs Jahren verließ.

Die Gewerkschafter wollen die wachsende Empörung des Volkes über die offizielle Gaspolitik und das Projekt der Transnationalen Konzerne in Organisation umwandeln. Vergangenen Freitag (19.9.2003) haben mehr als 150 Tausend Bolivianer in den wichtigsten Städten des Landes demonstriert und Sánchez de Lozada eine Frist von einem Monat gegeben um das Export-Projekt zu annulieren. Wenn er den Forderungen nicht nachkommt, haben sie damit gedroht, einen Generalstreik für unbestimmte Zeit zu beginnen, die Straßen zu blockieren und zivilen Widerstand zu leisten.

Die Bedrohung ist latent und besorgt Menschenrechtsorganisationen und die katholische Kirche. Inzwischen hat die bolivianische Regierung versucht, die Sprache des Krieges, die sie bis heute Mittag benutzt hat, beiseite zu lassen. Die Drohungen einer militärischen Intervention der Blockaden der Bauern, die an verschiedenen Orten des Hochlandes durchgeführt werden, haben einer neuen Initiative Platz gemacht, die der öffentlichen Meinung zeigen soll, dass die Regierung die Begegnung und die Befriedung sucht.

So haben heute Nachmittag die Führer von allen Parteien der Regierungskoalition einen Brief mit Vorschlägen unterzeichnet, der von der Kirche ausgearbeitet worden ist und in dem einige Teilzugeständnisse an die politische und gewerkschaftliche Opposition gemacht werden.

Nichtsdestotrotz wurde die Unterzeichnung dieses Dokumentes, das schon im Vorfeld von MAS von Evo Morales abgelehnt wurde, von derselben Katholischen Kirche als unberechtigt zurückgewiesen, die vielmehr diese Aktion der Regierung als einen plumpen Versuch einschätzt, den guten Glauben und das Image der Kirche zu benutzen um wenigstens etwas die spärliche Glaubwürdigkeit der offiziellen Koalition wiederherzustellen, welche diese nach dem ?Hochland-Massaker? hat.




Quelle: Redaccion de Econoticiasbolivia.com (22/09/2003 23:42)  http://bolivia.indymedia.org/es/2003/09/2625.shtml
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Ergänzungen

Hi traductora,

LinksRhein 29.09.2003 - 03:56
vielen Dank für die Übersetzungen! Schreib doch mal eine mail an  linksrhein@nadir.org. Wir würden gerne mit dir Kontakt aufnehmen :-)

Lieben Gruss
LinksRhein

nicht nur wir gegen die Transnationalen

suedamerikareisender 29.09.2003 - 16:06
Es ist eine (verstaendliche?) Art von Patriotismus, zu fordern, dass die Rohstoffvorraete eines Gebietes auch den Menschen zu gute kommen, die dort leben, und nicht Transnationalen Konzernen, die letztendlich nur die Taschen von sowieso schon reichen Menschen noch weiter fuellen.

In Bolivien wird der Konflikt aber auch dadurch geschuert, dass darauf hingewiesen wird, dass das Gas durch chilenisches Territorium geht. Territorium, das Chile vor rund 100 Jahren von Bolivien erobert hat (Kupfer- und Nitratvorraete und natuerlich mit konzerinteressen im Hintergrund). Es geht also nicht nur um eine Frage der Verteilung zwischen arm und reich, sondern auch um nationalistische Interessen. Die Chilenen werden von diesem Geld genausowenig sehen wie die Bolivianer.
In dem zusammenhang: kennt jemand eine fundierte Auseinanderseztung mit dem Begriff "pueblo", stosse hier immer wieder auf das Problem, dass der Begriff eben nicht nur im positiven Wir-entscheiden-selbst-ueber-uns-Sinn verwendet wird, sondern durchaus auch vaterlaendisch-voelkisch.

@mods

LinksRhein 30.09.2003 - 18:13
Ich finde der Suedamerikareisende hat auf einen wichtigen Punkt hingewiesen: der allgegenwärtige nationalistische und darum ungute Subtext dieser Proteste im "Krieg ums Gas" ist unübersehbar. Das betrifft zum einen das angesprochene Verhältnis zu Chile, ein Punkt bei dem die sozialen Bewegungen selbst Verbündete unter militärischen Eliteeinheiten finden können ( vgl.  http://bolivia.indymedia.org/es/2003/09/2702.shtml ) und zum anderen die Frage der Indigena-"Nationalitäten", ablesbar z.b. daran, dass von der "Nación de Comunidades Aymaras" ( vgl.  http://germany.indymedia.org/2003/09/62382.shtml ) oder dem "Aymara Aufstand" die Rede ist (scheint mir über Abstammung begründet zu sein nicht über ein republikanisches Konzept). Oder daran, dass die politische Analyse der Bauerngewerkschaft CSUTCB unter Felipe Quispe mit "Nosotros somos una Nación, entonces es posible la reconstitución del Kollasuyo ..." beginnt (Kollasuyo = südöstlicher Teil des Inka-Reiches, heutiges Bolivien, laut traductora) oder weiter unten erklärt wird "La lucha no es simplemente una lucha social de clases, es de nación a nación." (Der Kampf ist nicht einfach einer der sozialen Klassen (sondern) einer von Nation gegen Nation) vgl.  http://bolivia.indymedia.org/es/2003/09/2745.shtml .

Nation gegen Nation meint hier wohl in erster Linie die über 500 Jahre kolonialistische Ausbeutung der indigenen Bevölkerung, beginnend mit den spanischen Conquistadoren, und dann wohl auch den gegen die indigene Bevölkerung gerichteten Rassismus in Bolivien (Rassismus meint eben nicht das es Rassen gibt, sondern sieht den Begriff "Rasse" als eine soziale Konstruktion).

Nationalistische Argummentation, war schon oft und ist immer wieder eine Versuchung für die Unterdrückten und Widerständigen angesichts der damit zu erreichenden Mobilisierungserfolge. Nationalismus seitens der Herrschenden produzierte oft kollektive Identitäten entlang des Nationenbegriffs auf der Seite der Unterdrückten, und nationalistische Unterdrückung ging oft einher mit Selbstethnisierung der Unterdrückten (siehe die nationalen Befreiungsbewegungen in aller Welt) wobei Kritik an sozialen Ungleichheiten oder patriarchalen Strukturen innerhalb dieser "Nationen" oft hinter der "nationalen Frage" als dem "Hauptwiderspuch" zurückzutreten hatte und unter den Teppich gekehrt wurde.

Ich denke, Nationalismus ist eine manchmal verständliche aber immer gefährliche Argumentationsstrategie. Ich will Solidarität mit ausgebeuteten Menschen in Bolivien oder anderswo - egal welcher "Nationalität" - aber eben auch mit den an der Armutsgrenze lebenden bolivianischen KleinbäuerInnen, MinenarbeiterInnen und Indigenas ( vgl.  http://de.indymedia.org/2003/09/62659.shtml )