Persönlicher Bericht zum Utopiecamp

Anarcha-Schlumpf 09.09.2003 01:41 Themen: Freiräume Repression Soziale Kämpfe
Das Utopiecamp in Gießen ist vorbei - trotz Verboten, absurden Polizei-Einsätzen, mehreren Räumungen und dem klaren Willen der politischen Führung, buntem Leben keinen Millimeter einzuräuumen, versuchten ein paar Wahnsinnige, zwei Wochen mit konkreten Projekten (Umsonst-Essen und -Laden z.B.), direkten Aktionen und buntem Drumherum (Video-Abend, Lesung, spontane Musik-Einlagen) die Normalität von Ausgrenzung, Law and Order und Einbindung in Zwänge zu durchbrechen. Ziel war unter anderem, Debatten über herrschaftsfreie Visionen auszulösen. Ob es gelungen ist, in der Stadt mehr als Polizei-Hysterie und Aufregung ausgelöst zu haben, ist unklar. Zeit also für Nachbetrachtungen, Auswertung und Blicke in die Zukunft ... aus meiner individuellen Brille (ich hoffem, dass noch weitere Berichte folgen!).
Kurzes Intro vorweg: Was ging ab?
Nach Langem Hinhalten hagelte es kurz vor Beginn ein schmuckes Verbot seitens des Ordnungsamtes, an dem die politische Führung in Gießen sicher nicht unbeteiligt war ( http://de.indymedia.org/2003/08/60207.shtml). Trotz Verbot und Mega-Polizeiaufgebot für eine überschaubare Anzahl UtopiecamperInnen wurde einfach losgelegt (Die ersten Tage:  http://www.de.indymedia.org/2003/08/60391.shtml). Skurile Pavillon-Umzüge, durchgeknallte Polizei-Aktionen, Antiwahlaktionen und eine NachtTanzDemo prägten die nächsten Tage ... ach ja, und ein Verwaltungsgerichtsurteil hob das Verbot wieder auf (Aufhebung des Verbots und weitere berichte:  http://www.de.indymedia.org/2003/08/60509.shtml)! Auch Ordnungsamt und Polit-Elite blieben am Ball: Am 01.09 folgte eine erneute Räumung ( http://de.indymedia.org//2003/09/60698.shtml). Ein zweiter Zug vor's Verwaltungsgericht führte nochmal zur Aufhebung der Räumung und der Legalisierung von Umsonst-Laden, -Essen, Lernort - und so ging es dann wieder weiter ( http://www.de.indymedia.org/2003/09/60895.shtml). Alle Berichte, Auswertungen und so sind erreichbar über die Utopiecamp-Sonderseite:  http://www.projektwerkstatt.de/gav/texte/uto_zelt01.html

Nachwirkungen

Meine Wahrnehmung ist, dass das Zelt mit den einzelnen Umsonst-Elementen und dem Gesamt-Ambiente, die witzigen Pavillon-Aktionen zu Beginn und die tatkräftige "Unterstützung" durch den absurden Polizeieinsatzes und viele Einzelaktionen der Cops (Räumung inklusive Essen und Umsonstladen), die auch BürgerInnen zum Kopfschütteln brachten, das Klima (wenn es überhaupt ein einheitliches Klima gibt) eher zum positiven für kreativ-utopischen Widerstand gewandelt hat. Nach der Medien-Kampagne um den Gülle-Schlag ( http://www.de.indymedia.org/2003/08/60237.shtml) waren Jubel-Rufe über kassierte Prügel ja beim Auftakt des Camps relativ häufig.
Leider konnte das eigentliche Camp ja nur zweieinhalb Tage auf dem Kirchplatz stehen und wahrscheinlich nur ansatzweise die Wirkung und Kontinuität ausstrahlen, die ich mir gewünscht hätte. Gerade deshalb finde ich es erstaunlich, dass es in kurzer Zeit auf einige Menschen nachhaltigen Eindruck gemacht hat, darunter wenige AnwohnerInnen, PassantInnen, aber vor allem bei einigen BerberInnen, denen das Camp nach eigenen Aussagen viel Kraft und Mut gegeben hat: Ein spürbar bewegter Berber führte as Utopiecamp mit Umsonstessen symbolisch zwei Tage fort. Inzwischen hat er die drei Schwätzer Skulptur leicht verändert und dort einen Mini-Umsonstladen aufgebaut. Seit Tagen wird er morgens von PolizistInnen geweckt, da er ganz offensiv in der Stadtmitte schläft ... wow. Beteiligte des Camps berichten davon, immer wieder in der Stadt auf das Utopie-Zelt angesprochen zu werden. Das darf nicht darüber hinweg täuschen, dass das Utopiecamp insgesamt sicher wenig bewirkt hat bzw. all das kaum "überprüfbar" ist.
Aber nicht nur mir scheint das Lust zu machen auf weitere konkret-utopische Aktionen und Projekte und neue Versuche, nächstes Jahr wieder so etwas wie ein Utopie-Zelt umzusetzen, das mehr Wellen schlagen könnte. Nun, als ich heute Nacht über den Kirchplatz fuhr, fand ich ihn irgendwie leer, es fehlte was ...

Lichtblicke

Schöne Erinnerungen verbinde ich mit Phasen, wo viele, unterschiedliche Leute (von berberInnen über Arbeitlose, AnwohnerInnen, Jugendliche usw.) das Camp aufsuchten, herum standen, sich mit dem Umsonstladen und -Essen beschäftigten und es viele kleine, intensive Gespräche über die Ideen gab, die sich dahinter verbergen. Es gibt da wenig zu beschönigen oder zu verklären, aber ein Flair von Offenheit war da schon spürbar, den ich gerne ausbauen würde. Also Ideen und konkrete Schritte, um Abgrenzungsgehabe und identitäre Grüppchen aufzubrechen, mit denen Menschen entzweit und in Konkurrenz miteinander gesetzt werden.
Gefallen hat mir, dass es trotz der Menge an zivilen und normalen Einsatzkräften plus einer streckenweise sehr hohen Polizeifrequenz offenbar einige freche Aktionen gab (Copyarts an Bushaltestellen, bunte Schulen mit schulkritischen Grafittis, Enzäunungsaktion, nächtliche Pavillon-Karawanen und veränderte Wahlplakate).

Bauchschmerzen
Frust und Desillusionierung gehörten auch zu meinen Camp-Erfahrungen, verursacht durch einiges, was auch in anderen Berichten schon genannt wurde und was ich daher nur kurz anfügen möchte ...

Über das Verhalten von linken Gruppen in Gießen ist ja schon geschrieben worden. Das ziemlich komplette Wegbleiben von Menschen aus anliegenden Städten, wo es ja bereits ähnliche Projekte oder Diskussionen gab (z.B. die Wahnmache gegen Normalität in Frankfurt) ... das macht mich verbittert, soll aber gar nicht als Vorwurf verstanden sein sondern als Frage, warum regionale Kooperation, gegenseitige Unterstützung und Bezugnahme nicht funktioniert, die ich mir schon gewünscht hätte. Auch insgesamt kamen nur sehr wenige Menschen von außerhalb (Dankeschön an alle!) ... die Gründe?

Genervt hat mich der allgemeine Trend hin zu identitären Gruppen, die sich nur noch auf sich beziehen, als geschlossene Runde auftreten (mit eigenen Witzen und Verhaltenscodes) und damit Offenheit torpedieren. Das war bei dem engeren Utopie-CamperInnen nicht immer so, aber einige Tage schon sehr prägend. Das würde ich gerne mehr reflektieren und aufbrechen, weil ein Miteinander gleichberechtigter Menschen und bunte Projekte für mich nicht auf subkulturellen Mief und Cliquenbildung aufsetzen kann.

Informelle Hierarchien und Gleichgültigkeit: Es waren immer sehr wenige, die den Blick für den Gesamt-Rahmen behielten und sich in viel Orgakram verstrickten, der auch anders hätte verteilt sein können oder oft nur das Desinteresse anderer entstand. Die Gleichgültigkeit einiger Beteiligter trieb mich und andere noch mehr teilweise in Wut, Mega-Frust und Enttäuschung. Leute, die mehr als andere auf aktive Wahrnehmung und Hilfe angewiesen sind, zogen sich u.a. deshalb zurück.

Intransparenz: Auf jeden Fall habe ich und andere es trotz vieler Ankündigungen nicht hinbekommen, entsprechende Infosysteme zur Transparenz (Pinn- und Plakatwände etc.) aufzubauen, die eine Voraussetzung dafür wären, das gleichberechtigte Prozesse ohne Steuerung oder Plena ermöglicht werden (allerdings natürlich keine Garantie bilden). Durch den ersatzlosen Wegfall von Plena (die das nicht gelöst hätten) und die Infrastruktur-Probleme (weit weg liegende "Privat"-Räume, die eh nur von CheckerInnen aufgesucht wurden) wurde das Gefälle zusätzlich verschärft. Allerdings war auch nie spürbar, dass der Umgang und Abbauch von Dominanzen als gemeinsame Aufgabe oder gar Problem betrachtet wurde.

Kontakt zu dern BerberInnen, StattPolitk und Wiederaneignung des öffentlichen Raumes

Eine der wichtigsten und mitunter persönlich tiefgehenden Erfahrungen war und ist der Kontakt zu den BerberInnen in Gießen - also dass, was eigentlich schon seit langer Zeit immer wieder in Plena zerlabert wurde (als es los ging mit der Abwehr-der-Ordnung) und erst jetzt in die Gänge kommt. Den will ich nicht abbrechen lassen. Wichtig wäre mir dabei, Formen zu finden bzw. darauf hinzuarbeiten, dass dabei nicht so was wie nicht-staatliche, aber dennoch hierarchische Sozialarbeit entsteht, d.h. "wir" Umsonstessen für die BerberInnen organisieren. Sondern dass solche Projekte eben auch von den BerberInnen und Ausgegrenzten getragen werden bzw. sie selbst darin gestärkt und unterstützt werden, eigene Ideen umzusetzen.

Das Ganze hat für mich auch neue Ansatzpunkte offen gelegt, wo Widerstand gegen die Stadtpoltik möglich ist, und auch einige Ideen und Lust, den Reigen von Innenstadtaktionen im letzten Jahr nicht versiegen zu lassen. Die Entzäunung bzw. Öffnung des Löbau-Hofes (Abgesperrter BerberInnen-Treffpunkt, siehe:  http://www.de.indymedia.org/2003/09/60895.shtml) fand ich vor diesem Hintergrund sehr cool.

Aneignung des öffentlichen Raums, z.B. Kunst-Lesungen oder Straßenmusik-Konzerte auf Gerichtsgelände oder anderen, öffentlichen Plätzen, Street Parties, Sleep-Ins im Seltersweg oder in der Betten-Abteilung ... Grafitti und Copyart, Veränderungen von Zebra-Streifen oder Schildern ... "Hausdurchsuchungen" und Sit-Ins beim Ordnungsamt, Polizei usw. "UmsonstessenStattAusgrenzung" auf dem Kirchplatz und anderswo ...

things to come

In verschiedenen Runden gab es inzwischen mehrere Gespräche über das Utopiecamp und zukünftige Entwicklungen, wo auch einige neue Ideen aufkamen bzw. bestehende vertieft wurden ...

Eigentlich gab es kaum eine Runde, wo Menschen nicht Lust darauf hatten, eine Wiederholung des Utopie-Camps in Gießen und anderen Städten zu versuchen, allerdings frühzeitig angemeldet und möglichst mit den ursprünglichen Ideen (offene Bühne usw.) und neuen Elementen ... platte Wiederholung wäre nicht mein Ding.

Verschiedene Leute haben wohl recht viel Lust, einzelne Elemente sofort weiter zu führen, z.B. Umsonstessen. Dazu gab es die Idee, die Diensags-Infoladen-Volxküche auf Mittwoch zu verlegen, um Markt-Reste mitverwenden zu können und immer die Option zu haben, direkt auf den Kirchplatz zu gehen. Das fände ich sehr cool ... ist ja langweilig, immer unter "uns" im Infoladen zu bleiben. Wichtig dafür wäre aber für mich, dass die Rahmenbedingungen stimmen und nicht jedes Mal ein riesiger Infrastruktur-Aufriss entsteht, d.h. es einen Kirchplatz-nahen Raum zum Kochen gibt usw. Ideal wäre natürlich ein selbstbestimmter Anlaufpunkt, was ja immer wieder andiskutiert wurde (Umsonstladen, Hausbesetzung, Plattform-Häuschen)

Eine Idee von mir war, in absehbarer Zeit ein offenes Wochenende bzw. Seminar zu intensiverer Auswertung des widerständigen (Halb-)Jahrs in Gießen mit entspannter Atmossphäre zu machen ... Themen: Auswertung der Innenstadtproteste gegen Gefahrenabwehrverordnung usw., Zukunftsperspektiven, Direct Action und Wderstand im Alltag, Formen der Selbstorganisation, Abbau von Hierarchien. Außerdem erhoffe ich mir ein intensiveres Kennenlernen jenseits von Orga-Stress und Aktionsvorbereitungen

Gewünscht wurde eine Mailingliste für Mittelhessen zum Austausch und Debatte zwischen möglichst vielen, unterschiedlichen Leuten und Projekten. Wobei ich persönlich skeptisch bin, da immer wieder ähnliche Probleme dabei auftauchen (Einbahnstraßenkommunikation der "CheckerInnen", Wegbleiben von vielen Gruppen aus politischen Gründen usw.).

Geredet wurde auch über die Öffnung bestehender Strukturen ... also einen "wirklich" offenen Treffpunkt zu schaffen, wo Menschen sich für konkrete Projekte zusammen finden, es gar kein Zwangs-Kollektiv oder Plenum aller gibt, dafür aber Hilfsmittel, um Transparenz herzustellen (Infoboard) ond Dominanz abzubauen, also eher Open Space und bunt-vielfältig. Die Idee, mehr offene, lockere Treffpunkte zur Diskussion, Planung von Projekten usw. jenseits von starren Gruppen-Konstellationen zu schaffen, finde ich persönlich sehr spannend ... vielleicht als eine Art Cafe oder so ähnlich. Außerdem wurde überlegt, ob das Ganze nicht mit einem Infobrett für laufende Projekte gekoppelt werden könnte.

Nachtrag: Wahlquark

Ansonsten: Am Wahlsonntag gab es wieder Aktionen, Polizisten im Stadthaus, Hausverbote ... und eine Stichwahl zwischen SPD-Merzilein und CDU-Hau(-drauf-)mann - drei Wochen Zeit für Antiwahlaktionen. OB-Wahlquark Sonderseite:  http://www.projektwerkstatt.de/gav/texte/obwahl01.html

Na ... und jetzt: Nachdenken, gemeinsam auswerten und tolle real-utopische Projekte spinnen, die Stadt mit buntem Leben füllen und der ganze Rest halt. Utopie Statt Geißen ... rock on!*
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Ergänzungen

Utopie forever

Floh 09.09.2003 - 17:13
Zum ersten Mal lese ich in diesem Forum etwas über Offenheit und Toleranz. Nicht nur einstimmige Ablehnung rassistischer Gedanken als übergeordnetes Kredo selbsternannter Kapitalismusgegner, sondern unpolitisches Miteinander und Aufeinanderzugehen. Jenseits von persönlichkeitsunterdrückender Schwarz-Weiß-Malerei sozialistischer Alternativ-Eliten.
Offene Begegnungsräume nicht nur einmal, sondern überall!
Wann findet noch so ein Utopie-Camp statt?
Gruß
Florian

frühstück am samstag

frühstücker 15.09.2003 - 14:31
am samstag,den 13.9. versammelten sich menschen in der giessener innenstadt,um das utopie camp in einer idee weiterzuführen.es gab ein umsonst frühstück,richtig gemütlich und sonnig.zivibullen chekkten zwar wieder rum,die wachpolizei ließ uns in ruhe.wahrscheinlich hat die stadt erstmal genug von uns.wir haben uns vorgenommen soetwas alle wochen mal zu machen.wäre schön,wenn sich diese idee weiterentwickelt-auch in anderen städten.gruüsse an alle

keine inhaltliche Ergänzung: Rucksack über

U-Ladi 18.09.2003 - 18:14
Hallo Ex-Campis!

Grüße in die weite Welt! Es war eine Freude, mit Euch die Stadt unsicher zu machen! Leider kann ich niemanden von Euch erreichen: es blieb ein Rucksack nebst Inhalt hier stehen. Wer ihn vermisst und mir sagen kann, was drin ist, kriegt den Zuschlag: Sonst freut sich der Gießener Umsonstladen!

Bis bald wieder!
0178/2034931

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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Ui

horst tappert 09.09.2003 - 12:43
hier ist ja die geballte Intelligenz am Schreiben gewesen! Hut ab! Mal gucke wie lange das stehen bleibt!