UtopieCamp: Aktionen bis zum Schluß

AbwehrspielerIn der Ordnung 04.09.2003 02:18 Themen: Soziale Kämpfe
Gericht macht Weg wieder frei: 2. ungestörter Tag!
Die Räumung am 1. September mittags beendete das ohne reduzierte UtopieCamp weitgehend. Krass, daß selbst gefüllte Suppentöpfe, Brot, Kochmaterial, Schlafsäcke, Musikinstrumente usw. sichergestellt wurden ... offensichtlich wird, was hier verhindert werden soll: Ein Leben jenseits von Markt und Staat. Vor allem nachmittags und abends war der Kirchenplatz zum Treffpunkt von ausgegrenzten Menschen und immer auch einigen anderen, die alternative Lebensstile probieren oder akzeptieren, geworden. Das geschah auch während der verbotenen Tage, denn für Kochen (in der Nähe auf einem Grundstück geduldet) und Essensausgabe waren Zelte und Pavillons nicht nötig. Die Sicherstellung vom 1.9. traf nun den Kern – Umsonstladen (nicht nur die Tische, sondern auch Schuhe, Kleidung, Geschirr usw.) und das Essen samt Töpfe usw. wurde von der Polizei eingeräumt. Während der Räumung fand eine Spontandemonstration durch die Innenstadt statt, bereits eine Stunde danach ging ein Eilantrag beim Verwaltungsgericht Gießen ein. Das lud die KontrahentInnen zu sich ein und organisierte einen Vergleich. Die Stadt mußte die Stände wieder zulassen – allerdings trickste sie eklig und rückte so das sichergestellte Material erst am nächsten Tag raus. Dann aber wurde es ein schöner Tag ... die Sonne kam endlich wieder und den ganzen Dienstag über war Umsonstleben pur auf dem Kirchenplatz.
1.September

Kurzer Auftakt, dann Räumung
Nach der ersten Nacht, die mehrere Menschen am UtopieStand verbrachten und den ersten Stunden des Morgens rückte plötzlich die Polizei mit starken Kräften an ... von beiden Seiten. Neben die UtopieStände stellten sich LKWs vom Fuhramt der Stadt Gießen. Wie das Ganze dann ablief, soll hier mal auf andere Art und Weise dargestellt werden, um den Lesegenuss zu erhöhen:

Wiese und Mayer
Der Moritat soundsovielter Teil

Wiese und Mayer,
die bösen Buben,
konnten's nicht lassen,
mussten ihr Amt ausüben:
rückten mit einem Dutzend an,
machten sich an's Utopie-Camp ran.
Versuchten's erst "im Guten"
voll gnädiger Herablassung,
wollten's Zelt sonst fluten (1)
für Gesetzesübertretung.
Dabei ging's nur um ein Zelt zuviel,
was die Bullenbande stört.
„Weil's der Gerichtsbeschluss so will,
dass es nicht zu 2 Infoständen gehört,“
sagt das Ordnungsamt, „Dabei,“
spricht's Münchner Gericht,
„steht so etwas Demonstrierenden frei,
damit sie dadurch frieren nicht.“
Das interessiert die Bullen wenig,
ihr Einsatzplan ist klar formuliert,
Vernunft und Einsicht zählt da eh nich,
und so wird Demokratie praktiziert.
„Ein Infostand ist ein Infostand,“
erklärt die Stadt mit vermeintlichem Witz,
d.h. dass all der andre „Tand“,
wie Schlafsäcke und Isomatten als Sitz',
warme Jacken und Kleidung auch
aus dem anrainigen Umsonstladen,
und die Lebensmittel für den eignen Bauch
(es war'n aber auch alle Andern geladen, zur
abendlichen VoKü nämlich,
umsonst und draußen natürlich, versteht sich),
alles, was eben nicht Papier
und erkennbaren Infowert enthielt,
wurde Opfer der rigorosen Manier,
deren Amtsschimmel kleinkariert entschied.
Alles Reden und Erklären,
30 Sympathiesanten drumherum
konnten die Bullenherde nicht abwehren,
sie setzten ihren Befehl gedankenlos um.
Manch Teil ging dabei zu Bruch,
wie schon zuvor bei solch Anlässen.
Die Gewalt schlägt eben da zu Buch,
wo Mensch sich wehrt gegen die Fesseln.
Zum Beispiel, wenn mensch mit physischer Präsenz
sich zwischen randaliernde Bullen setzt,
dann wird diese direkte Renitenz
mit Zeltstange am Rücken verletzt.
Ganz abgesehn von der Unmöglichkeit
für die Campis aus allen Regionen,
die Nacht ohne wärmendes Geleit
im Zelt oder auf dem Boden zu wohnen.
Auch die Lebens-Mittel all,
gesammelt für Campis, Berber und Co,
mussten neu beschafft werden Knall auf Fall,
so war die ganze Planung für's Klo.
Anscheinend war des Camps vordringlicher Zweck,
Schlachten zu schlagen gegen den Bullendreck,
und das ganze S-O-Gesox (2):
scheint als hätten wir sie abgezockt!

Doch vorerst wollten wir an unsern Kram,
nachdem das Gericht uns den Wiederaufbau bescherte,(3)
doch O-Amt und Bullen konnten das nicht gut hab'n,
und schickten uns von ein'm Lager ins verkehrte.
Doch hat uns das Wetter eh angepisst,
und wir zogen uns zurück zur Beratung,
am nächsten Morgen alles gut gelaufen ist,
eine echte Camp-Atmo-Entartung!
Doch ob ihr's glaubt oder nicht:
heut ist's tatsächlich so geblieben!
Das war die Utopiegeschicht,
und neue Kapitel werden geschrieben!

1 Natürlich wollten sie das Zelt nicht unter Wasser setzen. Die Poesie hat sich hier die Freiheit genommen, eine Metapher für „räumen“ zu kreieren... ;-)
2 Sicherheit und Ordnung
3: s. Text „Erneuter Gang vor's Verwaltungsgericht“


Erneuter Gang vors Verwaltungsgericht – mit Erfolg
Bereits eine Stunde nach der Räumung war ein neuer Eilantrag an das Verwaltungsgericht Gießen geschrieben. Kurz darauf meldete sich das Gericht und ordnete einen Anhörungstermin an. Drei Menschen vom UtopieCamp gingen hin, die Stadt Gießen war mit ihrem Rechtsberater und Frau Salzmann vom Ordnungsamt vertreten und das Gericht in Form des Präsidenten des Verwaltungsgerichtes Herrn Prof. Dr. Fritz und dem Richter Herrn Kniest.
Im wesentlichen wurden die Auflagen für eine Mahnwache verhandelt, die unter dem Motto stand „Gegen Krieg, Hunger und Herrschaft immer und überall“. Diese konkretisierten Auflagen sollten dann in die Form eines Vergleiches gegossen werden.
Als erstes wurde die Anzahl der Zelte und deren Bauart verhandelt. Die Stadtvertreter meinten, daß für einen Infostand gar keine Zelte notwendig seien, da jemand, der unter freiem Himel eine Demonstration sprich Mahnwache betreibt, sich auch den Widrigkeiten des Wetters aussetzen müsse. Dabei wurde bezug genommen auf ein Urteil eines Berliner Gerichtes. Herr Fritz war allerdings anderer Meinung und hielt einen Wetterschutz durchaus für legitim, berief sich auf das berühmte Brockdorf-Urteil und versuchte ein Einlenken der Stadtvertreter zu erreichen. Schlußendlich wurde konkretisiert, daß zwei Zelte auf dem gleichen Gelände stehen dürfen, auf dem vorher schon 3 Zelte standen und von denen eins von der Polizei geräumt wurde.
Dann wurde über die Aktionen verhandelt, die in diesem Bereich stattfinden dürfen. Unstrittig waren der Infostand und der Lernort. Die erste Unstimmigkeit wurde von den Stadtvertretern bezüglich des Umsonstladens geäußert, da dies ja nichts mit dem Demonstrationsrecht zu tun habe. Diese Meinung teilte Herr Dr. Fritz nicht und zitierte aus einem Urteil, daß es Sache der Demonstrationsteilnehmer sei, die Art und Weise einer Demonstration zu bestimmen, solange keine anderen Gesetze tangiert werden. Nach widerwilliger Zustimmung der Stadtvertreter wurde der Umsonstladen dann doch als Aktion akzeptiert. Ein wirklicher Streitpunkt war dann das Umsonst-Essen. Frau Salzmann brachte ein, daß wir keine sanitären Einrichtungen zur Verfügung stellten. Dem wurde allerdings gleich entgegengehalten, daß es in der Nähe einen Trinkwasserbrunnen und Toiletten der Stadt gibt. Weiterhin meinte Frau Salzmann, daß sich aufgrund der kostenlosen Mahlzeit vor Ort eine „Klientel“ aufhielt, die dort nicht erwünscht sei, und legte damit genau die Missstände auf, gegen die sich das Camp richtet. Und des weiteren werden für eine Essensausgabe viele weitere Vorordnungen und Gesetze berührt, deren Entsprechungen erst noch zu prüfen seien. Vom Gericht wurde angemerkt, daß solche Gesetze allerdings schon sehr in Veränderung begriffen sind und z.B. die Vorschrift, daß ein Imbissbudenbesitzer auf jeden Fall eine Toilette vorzuhalten hat, wenn er Sitzgelegenheiten anbietet, schon abgeschafft werden soll. Herr Dr. Fritz wiederholte gegenüber Frau Salzmann die Aussage, daß die Art und Weise einer Demonstration von den Demonstranten zu bestimmen ist. Und daß eine Essensausgabe ebenfalls eine Form von Demonstration sein kann. Ungläubig stimmte Sie daraufhin der Forderung nach Umsonstessen zu.
Als nächstes wurde sich unstrittig darauf geeinigt, daß die Mahnwache am Mittwoch, dem 3.9.2003 um 24.00 Uhr zu enden hat. Allerdings bemerkte Herr Dr. Fritz, daß die Aktivisten sich an diese Auflagen halten mögen, da sonst der Spielraum bei zukünftigen Verhandlungen kleiner werden würde.
Da noch eine Verbotsverfügung bestand, die sich auf eine Sondernutzung von Flächen bezog, wurde sich geeinigt, daß diese Verfügung nicht der Mahnwache also politischen Demonstration entgegensteht. Zu befürchten war von seiten der Aktivisten, daß nur aufgrund dieser Verfügung die Mahnwache geräumt werden könnte.
Einer der Aktivisten gab dann weiterhin in die Runde, daß auch noch zu klären sei, wie die Materialien (Zelt, Essen, Luftmatratze, Schlafsäcke, Töpfe) wieder beschafft werden können, die die Polizei ein paar Stunden zuvor hat abtransportieren zu lassen. Die Richter sagten, daß dies nicht in Ihrem Verantwortungsbereich liege und die Stadtvertreter lehnten sich zurück und meinten, sie könnten der Polizei nicht sagen, was diese tun soll. Die Richter konstruierten dann ein Formulierung, daß die Stadt nicht dagegen hat, wenn die Polizei die beschlagnahmten Sachen wieder heraus gibt.
Während dieser ganze Verhandlungen tickte für die Richter und die Stadtvertreter die Feierabenduhr. Die Richter ermahnten beide Parteien, es nicht noch einmal zu einer Gerichtsverhandlung kommen zu lassen. Frau Salzmann beschwerte sich, daß Sie durch uns so lange zu tun hätte und die Richter verwiesen auf die armen Polizisten, die doch auch gerne Feierabend hätten und nicht provoziert werden wollten. Dazu gab es nur noch den Kommentar von einem Aktivisten, daß die Polizisten auch ruhig gehen könnten.


Tricksereien der Stadt – kein Rankommen ans Material
Wie schon erwartet, blieb die Stadt auf Konfrontationskurs und log weiter das Blaue vom Himmel herunter (folglich begann es auch zu regnen und zu wehen, so daß die Menschen am Kirchenplatz entschieden, auch die kümmerlichen Reste fürs erste abzubauen ... die Polizei hatte wieder das Regiment über den Platz übernommen). Vor Gericht sagte die Ordnungs(amts)wütige Salzmann, daß die Polizei die Zelte, das Essen, den Umsonstladen usw. sichergestellt hätte. Als aber einige im Polizeipräsidium Ferniestrasse alles abholen wollten, erklärte Oberbulle Wiese, daß die Polizei nur Amtshilfe geleistet hätte und die Sicherstellung Sache der Stadt gewesen sei. Das deckte sich mit der Beobachtung, daß Fuhramtsmitarbeiter den LKW steuerten. Beim Ordnungsamt war aber natürlich niemand mehr, der Rechtsberater wurde mit einigem Nachdruck aber noch dazu gebracht, seine Tür zu öffnen. Polizei und Stadt schoben sich das Ganze hin und her, schließlich einigten sie sich darauf, daß alles beim Fuhramt abgeholt werden sollte. Das sei rund um die Uhr offen. Zwei Versuche, beim Fuhramt jemanden zu finden, schlugen aber fehl. So geschah am 1.9. nix mehr ... jedenfalls nicht am Kirchenplatz. Nach einigen technischen Pannen aber lief immerhin die geplante Filmnacht im Ali-Cafe mit den Filmen „Was tun, wenn´s brennt“ und „Raus aus Amal“.


2.September

Ein voller Tag auf dem Kirchenplatz (ein persönlicher Bericht)
Aufstehen und losfahren zum Fuhramt. Wir hatten uns vorgenommen, es kurz im Guten zu versuchen und sonst eine „Hausdurchsuchung“ vorzunehmen. Entschlossen betraten wir das Gelände ... aber alles verlief harmlos. Eher nett der Kontakt mit den Mitarbeitern dort – die sind wohl auch näher am Geschehen in der Stadt als die widerlichen Stadtoberen, deren Befehle sie umzusetzen haben (wie sie auch deutlich formulierten – leicht mit den Achseln zuckend). Nach wenigen Minuten hatten wir ein Auto bis oben hin gefüllt und hopsten über einen Zaun. Als Mini-Demo mit dem Transparent „Die Stadt gehört uns allen“ gings zum Kirchenplatz. Das Wetter war richtig nett, wir bauten Stück für Stück alles auf. Musik, Kochen und etliche nette Kontakte prägten den Tag. Mehrere AnwohnerInnen kamen, brachten Stühle, Kaffee, Brot usw. Immer wieder wiesen Obdachlose darauf hin, wie glücklich sie das ganze Geschehen machte, weil sie sich endlich an einem Platz in der Stadt nicht nur als unnütz oder gar ausgegrenzt vorkamen bzw. so angeguckt wurden, sondern hier am Kirchenplatz Teil des Lebens waren. Während der Apfelbrei kochte, wurde es langsam dunkel und kälter ... die letzte Nacht der UtopieTage und hoffentlich die zweite ohne Bullenbesetzung des Kirchenplatzes. Auf den Wegen und Straßen rundherum würden sie ohnehin wieder mit ihren vier blauen BMWs und Streifenwagen patroullieren – immer im Kreis herum durch immer dieselben Straßen ...

Abends: Workshop und Lesung - Eindrücke zur „intergalaktischen Chaos-Lesung“
Am Dienstag kam die Idee auf, einen offenen KünstlerInnen-Abend bzw. Lesung zu machen. Unter den Campteilis waren ja eh einige, die Musik machen, Gedichte oder Texte schreiben – ein paar wurden kurzerhand eingeladen. Und so gab es am Abend ab 21h eine schöne Runde, in der alle, die Lust dazu hatten, etwas vortragen konnten. Darunter waren einige Lieder, dadaistisch angehauchte Gedichte und Kurzgeschichten zu ganz unterschiedlichen Themen (von Betonklötzen über Tod bis hin zum KünstlerInnen-Dasein). Allerdings war es auch auf anderen Ebenen keine gewöhnliche Lesung: So wurde nach manchen Texten oder Liedern auch noch darüber geredet ... dazu gab es oft sehr witzige Überleitungen, Bezüge aufeinander und Performances, die dem Ganzen sehr viel Leben einhauchten. Die Beteiligten befanden: Das machen wir wieder ... vielleicht in ganz anderer Form. Eine Idee war z.B. eine Lesung nach Reclaim The Street Manier irgendwo in der Stadt oder auf Gerichtsgeländen zu machen und das Auftauchen der Polizei direkt miteinzuplanen ... z.B. sich vor diese zu stellen und einfach weiter zu lesen oder die BeamtInnen aufzufordern, ihre Befehle in Versform umzuformulieren, sich anzustellen usw.
Einige der vorgetragenen Texte finden sich unter  http://www.free.de/schwarze-katze/grrr


Die Nacht ... (vermutlich :-)

Von konsequenten Vandalismus-AnhängerInnen und schwimmenden Wahlplakaten
Ein abendlicher Spaziergang durch die Weststadt machte mich auf einen besonders heimtückischen Vandalismus aufmerksam: Einige dutzend abgerissene und teilweise zerstörte Wahlplakate pflastern den Weg. Beim Schlendern über die Lahn-Brücke fielen mir einige schwimmende Wahlplakate auf. Möglicherweise wurden diese ebenfalls von den anonymen Vandalen „versenkt“. Möglicherweise kennen Parteien inzwischen aber auch keine Tabus mehr - wenn es um den Stimmfang geht, wird selbst in den trüben Gewässern der Lahn gefischt. Bleibt zu hoffen, dass die hiesigen Gewässer durch die Parteien-Werbung keinen irreversiblen ökologischen Schaden nehmen. Und dass die sichtlich überforderte Polizei dieses Verbrechen schon bald aufzuklären vermag.

Sprüh-Schablonen in der Innenstadt gesichtet
„Rassismus und Polizei becamp(f)en.“ Dieser Spruch wurde offenbar in den letzten Nächten mit Sprühschablonen an Wände, Pfeiler und Schaufenster von Geschäften gesprüht. Dahinter könnten sich durchaus mehrere Bedeutungen verbergen, z.B. wurde ja nicht vor allzu langer Zeit das antirassistische Grenzcamp in Köln von einem unglaublichen Polizeiaufgebot umringt, für Stunden gekesselt und ca. 300 Leute eingefahren. Und auch das Utopiecamp hatte ja so seine Probleme mit der Polizei (die allerdings „nur“ ausführt, was Ordnungsamt, Stadtregierung und der hessische Innenminister Volker Bouffier persönlich verfügt hatten.): Vom fetten Aufgebot zur Bewachung des Kirchplatzes in der ersten Woche, einer Räumung (Umsonstladen, Umsonstküche usw. sichergestellt) bis hin zu Zivilstreifen, die manche Nacht im Drei-Minuten-Takt um den Kirchplatz kurvten, ohne jedoch verhindern zu können, dass Schulen ganz in der Nähe angemalt oder ein BerberInnen-Treff befreit werden konnte.

Umzäunter BerberInnen-Treffpunkt von Gittern „befreit“
Gießen (gemeint: Stadtregierung, Ordungsamt, Polizei usw.) tut einiges, um in der Rieger der Vorzeige-Städte in puncto Law and order und sozialer Ausgrenzung aufzusteigen. Gefahrenabwehrverordnung, Rundumkamera am Marktplatz und HilfspolizistInnen sind dabei eher die Spitzen des Eisbergs. Die Durchsetzung einer glatt gebügelten, auf Kosum ausgerichteten Normalität prägt den Alltag von BerberInnen, die in Gießen nirgendwo sicher sind vor einer Politik, die alles verdrängen wollen, was nicht in das Bild der modernen Hochglanz-Kosumwelt passt. Dabei kennen die Ausgrenzungs-Phantasien der Herrschenden keine Grenzen: Zwei Treffpunkte von BerberInnen sind inzwischen mit Absperrgittern umzäunt worden (kein Witz!) - Räume, die den Menschen entzogen worden und nicht mehr nutzbar sind. Absurd, wie viel Energie und Ressourcen eine Gesellschaft dafür aufwendet, Menschen sozial auszulöschen und immer weiter zu vertreiben, die zudem oftmals eh schon „ganz unten“ sind.
Heute morgen berichteten PassantInnen, dass eine Fläche hinter dem Löberhof (einer der beiden Orte) offenbar in einer Nacht-Aktion wieder geöffnet wurde. Naja, ist ja nicht weit weg vom Kirchplatz ... und so konnten wir uns beim Frühstück selbst davon überzeugen, was geschehen war: An drei Stellen waren große Gitterstücke irgendwie heraus „operiert“ worden. Außerdem waren auf der Erde und anliegenden Gebäuden Sprüche gegen Vertreibung und Ausgrenzung zu lesen. So schön kann ein Tag beginnen ... allerdings ist auch das „nur“ eine symbolische Aktion gegen die Ausgrenzungs-Politik in Gießen. Wenn sich daran grundsätzlich was ändern soll ist ein breiter, bunter Widerstand (z.B. eine öffentliche Demontage der Gitter) notwendig sowie die Stimmen und Taten vieler, die ein Ende der Vertreibung wollen ... und vielleicht sogar ein anderes Gießen, wo das Neben- und Miteinander verschiedenster Menschen völlig normal ist und alle ein schönes Leben haben können.


3.September

Der letzte Tag ... vorerst!
Superwetter, ein schöner Stand, aber dennoch (oder deshalb?) ein eher ereignisloser Tag. Menschen fragten nach, Gespräche entstanden, aber der Umsonstladen war eher weniger besucht als gestern. Vielleicht lag es daran, daß die UtopieCamperInnen einen eher müden Eindruck machten – die zehn Tage hatten manche Kraft gekostet. Der Nebel von THC wehte früh über den Tag, Essensschnibbeln setzte schon um 14 Uhr ein, als die Gruppe, die über den Wochenmarkt gezogen war, mit ihren Schätzen an gespendeten Gemüseresten wiederkam (wie immer blieb der „Grüne“ unter den MarktbeschickerInnen hart und spendete nix). Entsprechend war das Essen aber auch üppig mit Gemüsesuppe, Obstsalat und sogar später nachts noch einem zweiten Essen.
Ein Workshop zu Chiapas lief, der Umsonst-Frisörsalon verteilte Style und Farbe auf die Köpfe. Diskutiert wurde die Idee, daß solche UtopieTage doch häufiger stattfinden könnten und es vielleicht immer verschiedene Gruppen sind, die es anleiern und dann andere einladen – Standort, Dauer und Rahmen könnten ja dann durchaus verschieden sein. Immer wieder gingen Einzelne zum Sightseeing in die FußgängerInnenzone, um die Sprayereien der letzten Nacht und die durchgeknipsten Zäune zu begutachten. Die Genugtuung, daß es Menschen gelungen war, sogar entlang der ständigen Observationsstrecken Aktionen durchzuführen, war deutlich spürbar.
Ein glühender Anhänger der Schillpartei verkündete am Stand: „Wenn wir die Regierung übernehmen, haben alle Arbeit“ - was aber schon deshalb wenig begeisterte, weil Arbeit im gemeinten Sinne der Lohnarbeit auf dem UtopieCamp wenig FreundInnen hatte.
Ein Blick in die Presse: Null Bericht über die erneute Räumung und den Verwaltungsgerichtsbeschluss. Dafür wieder ein Bericht über die Verhaftung eines Aktivistis beim Transport des Pavillons – garniert mit dem Hinweis, daß ständig 50 PolizeibeamtInnen das UtopieCamp und die CamperInnen überwachen. Hoffentlich hat sich das wenigstens woanders bemerkbar gemacht, in dem dort die Ordnungsarmada fehlte ...
Und so fand das UtopieCamp, durchgeführt nur in einer minimierten Form, ein unspektakuläres Ende. Es werden einige Auswertungen folgen (hoffentlich) und dann wird sich klären, ob es eine Eintagsfliege war. Zu den positiven Erfahrungen hinsichtlich Aktionen, Kontakten zu Menschen, Kennenlernen untereinander, Diskussionen usw. kommen Enttäuschungen z.B. über den weiterhin schwierigen Umgang mit freien Vereinbarungen als Ersatz von Beschluss, Plenum, Hierarchie, Regel usw. - oft entstand Gleichgültigkeit. Vereinbarte Dinge wurden vergessen, Projekte einfach versandet. Schade auch, daß das UtopieCamp nicht zu einem bunten Projekt wurde, wo sehr viele Gießener Gruppen und Menschen ihre Ideen verwirklicht haben. Ganz im Gegenteil zeigte sich, daß auch in dieser Stadt die meisten Gruppen lieber unter sich bleiben, ihren Stil fahren, Kooperationen nicht lieben und ihre identitären Kisten fahren. Das bremst Dynamik und Kreativität ständig ab. Ob das UtopieCamp ein sinnvoller Ansatz sein kann, ist offen. Daß aber überhaupt endlich wieder radikale Politik aus den Hinterzimmern der eigenen identitär organisierten Treffpunkte herausgeholt und in die Mitte der Stadt verlagert wurde, ist wichtig und perspektivisch. Aber es kostet Kraft, die wiederum nur dann frei wird, wenn Politik nicht nur aus Wiederholungen, Langeweile, Cliquen bzw. identitärem oder verbal und optisch radikalem Gehabe besteht. Bunt statt Norm gilt auch für politischen Protest.


Das Ende ...
Die Nacht bis 24 Uhr am Mittwoch war nicht nur Abbau. In drei Gruppen saßen Menschen auf dem Kirchenplatz mit Musik, Essen und heißen Tschai-Getränk. Viele Obdachlose waren gekommen. Es gab intensive Gespräche und am Ende sehr herzliche, intensive Verabschiedungen. „Ihr habt gewonnen“, formulierte ein Anwohner und meinte damit, daß hier die kalte Bürokratie und eine visionär ausgerichtete Gruppe stritten um den Raum – und am Ende zwei Tage wenigstens ein Teil verwirklicht wurde. Ein Obdachloser sagte, daß das Ganze in ihm viel ausgelöst hätte, vor allem auch an Mut, daß nicht alles so bleiben müsse, wie es ist.


Wie weiter?
Dazu entstehen vielleicht Ideen. Und, bei etwas Glück, stehen die auf den Internetseiten wie:
Stadtpolitik, Überwachungswahn usw. in Gießen sowie Utopien dagegen:  http://www.abwehr-der-ordnung.de.vu
Termine in Gießen, Infoladen, Umsonstladen ...:  http://www.ak44.de.vu
Projektwerkstatt: Radikal leben, Projekte, Termine, Aktionen, Werkstätten, Archive und vieles mehr:  http://www.projektwerkstatt.de/saasen
Direct-Action:  http://www.direct-action.de.vu
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Ergänzungen

Das Camp geht weiter

Utopist 04.09.2003 - 23:35
Als ich heute (eher gesagt vor ein paar minuten)am Kirchplatz vorbeikam, fand ich ein erfreuliches Bild vor: Einer der Obdachlosen führte das Utopiecamp weiter. Er erzählte mir, was dort angefangen wurde, hätte ihn so bewegt und nicht mehr losgelassen, dass er weitermache. Er hatte die Nacht auf dem Kirchplatz verbracht und war unsanft von der Polizei geweckt worden. Heute Abend hatte er seine spärlichen Vorräte zusammengekratzt und daraus ein Umsonstessen bereitet. Wie lange er das durchziehen will weiß ich nicht (er auch nicht), aber eines ist sicher: Das Camp hat was bewirkt. Allermindestens in ihm.

klasse

bunt 08.09.2003 - 17:29
Ich wollt euch nochmal loben, soviel Durchhaltevermögen und Kreativität ist selten und einfach klasse.
Ich habe neulich auch den besagten Obdachlosen getroffen,er stürmte gleich auf uns zu und erzählte wie scheisse er diese ganze Geschichte von der Stadt etc. fand...am besten war der Satz"Die nehmen euch alles, lassen euch kein Raum zum Leben"...schade nur, dass er sich selbst immer noch als Aussenstehenden sah...
Danke an Euch!