Erlebnisse eines Alternativreisenden

Roberto Greco 05.06.2003 20:54 Themen: G8 Globalisierung Repression Soziale Kämpfe
Eine ganz persönliche Wertung der Proteste um den G8 Gipfel
Prag machte mich hellhörig, dann kam der Gipfel in Genua. Das Leben hat mich immer wieder dazu getrieben, auf die Straße zu gehen. Den Blick nach draußen auf die Welt gerichtet, gab es keinen Zweifel: In rasanter Entwicklung hat sich das kapitalistische System von Ausbeutung und Unterdrückung bis in den letzten Winkel der Erde breit gemacht. Ob in Form von Kinderarbeit in den Filialen großer Konzerne oder Kriegen und Bürgerkriegen, ob in Form der doppelten Versklavung armer Bauern in ihrer Abhängigkeit vom aufgezwungenen kapitalistischen System monokultureller Landwirtschaft und als Pächter, ob in Form von Hunger und absoluter Armut: für den größten Teil der Weltbevölkerung hat sich die soziale Lage dramatisch verschlechtert.

Und wir, die wir uns als Gewerkschafter in den Betrieben mit dem täglichen Kleinkram der Arbeitsbedingungen beschäftigen, mussten mit ansehen wie Kollegen auf die Straße gesetzt wurden, dass die Brosamen, die uns bisher hingeworfen wurden, immer weniger wurden, dass viele von uns selbst schließlich den Gang zur Sozialunterstützung antreten mussten. Als ich arbeitslos wurde, dauerte es seine Zeit, bis ich verstand in welch schizophrener Situation ich mich befand. Ich ging immer noch auf die Straße, wenn auch immer seltener und demonstrierte mit meinen Kollegen, die noch "drinnen" waren, gegen die Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Mittlerweile erreicht meine Arbeitslosigkeit ein Jahrzehnt in der ich alle Konsequenzen zu durchleben hatte, die jene trifft, die der kapitalistische Produktionsprozess ausgemustert hat.

Nur eine der Konsequenzen sei an dieser Stelle erwähnt. Die mich vielleicht mehr traf als die oft genug beschriebenen sonstigen Tiefschläge, die Arbeitslose einzustecken haben: mit der sozialen Ausgrenzung ging auch der Verlust der organisatorischen Beziehungen zur gewerkschaftlichen Arbeit einher. Ein Ortssekretär geht nach Jahren seiner Tätigkeit in Pension, ein Aktivist mit seiner Entlassung direkt in die Armut. Vielleicht haben beide in ähnlicher Weise die Sensation, dass sie nicht mehr gebraucht werden. Von diesem Ausgangspunkt her näherte ich mich der neuen Bewegung. Organisatorische Distanz bringt kritische Distanz. Und so wartete ich nicht mehr darauf, bis ein schwerfälliger Apparat, dessen Bürokratie ihre kontraproduktive Dynamik entwickelt, zufälligerweise das Problem Arbeitslosigkeit entdeckt und in den Kontext der eigenen Interessen stellt, sondern machte mich auf nach Genua.

Die italienische Hafenstadt ist längst schon zur Metapher einer erstarkten sozialen Bewegung geworden, die auch den alten traditionsreichen Organisationen der Arbeiterbewegung eine Verjüngungskur in Aussicht stellt. Sie kann -wenn überhaupt- aber nur dann Früchte bringen, wenn der Patient mitarbeitet, wenn er sich eine Entziehungskur in Sachen Reformismus verordnet. Die Bürokratien der alten Arbeiterbewegung hängen am Status quo und der Reformismus ist der Stoff aus dem ihre Träume sind. Im Grunde wächst er auf den manifesten Eigenintressen, die relative Integriertheit in das kapitalistische System mit den unversöhnlichen Widersprüchen von Kapital und Arbeit in Einklang zu bringen. Allerdings drängt der Neoliberalismus immer hartnäckiger auf eine Reduzierung ihrer Rolle. Die Angriffe erfolgen auf breiter Front, als Sozialabbau und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und als Versuch, den Einfluss der gewerkschaftlichen Organisationen in der Gesellschaft weiter zurückzudrängen. Wollen sie ihr Dasein nicht auf die Rolle von Klakeuren der neoliberalen Politik reduzieren, müssen sie ihre alten theoretischen Paradigmen aufgeben. In anderen Ländern Europas ist die Botschaft der neoliberalen Globalisierung an die Gewerkschaften längst schon begriffen worden. In Genua waren die wichtigen Gewerkschaften der italienischen Arbeiterbewegung auf der Straße, um ihren Dissens gegen die Politik der reichen Staaten auszudrücken. Carlo Giuliani, der in den Julitagen sterben musste, weil es der Sicherheitsapparat der G8-Fürsten so vorsah, war Sohn des ehemaligen Generalsekretärs des Metallarbeiterverbandes FIOM von Ligurien. Der Verband selbst war mit 5000 Teilnehmer aus Nord- und Süditalien vertreten und an ihrer Spitze liefen viele seiner Sekretäre, u.a. der damalige Generalsekretär Claudio Sabattini mit.

Zwei Jahren danach, ist das soziale Klima, das den Gipfel der selbst ernannten undemokratischen Welt­regierung der G8 in Evian kennzeichnet noch dreister. Die Vorgaben für die Industrieländer sind überall die gleichen: Aufhebung des Kündigungsschutzes, Verschlechterung der Gesundheits­vorsorge, Kürzung von Renten, Arbeitlosengeld und Sozialunterstützung. Offensichtlich bleibt auch, dass der Gipfel immer mehr der Selbstdarstellung der eigenen Omnipotenz und Arroganz dient. Noch am Samstag tafelten die G8 im Petersburger Zarenpalast ebenso ausschweifend wie die untergehende Aristokratie am Vorabend der bürgerlichen Revolution, während sich in ihren Ländern die Armut immer weiter breit macht. Und am Sonntag trafen sie sich zum gut gesicherten Stelldichein, zum Posieren vor Kamera und Presse. Ihre Mentalität verkörperte der italienische Premier Berlusconi am deutlichsten, als er, von Journalisten um einen Kommentar zum neuesten Gesundheitsbericht der Bankitalia über Italien gebeten, antwortete: ?Ich habe keine Zeit gehabt ihn zu lesen.? Gleich darauf verriet er ihnen die Rezepte wie er gedenkt, sein Land aus der globalen Krise zu führen: ?Wir brauchen Strukturreformen... Jeder hat mehr Verantwortung zu mehr Produktivität... Sich nicht der Arbeit durch die Teilnahme an Streiks entziehen, die sich auf die nationale Ökonomie auswirken.?

Die Arbeiter Frankreichs sind darüber anderer Meinung, die derzeit mit ihren Streiks gegen die geplante Rentenreform Stellung beziehen. Ihre politischen und gewerkschaftliche Organisationen bildeten einen Großteil des Protestzuges, der am Sonntag von Annemasse nach Genf zog, um sich dort mit den Demonstranten aus der Schweiz zur Blockade der Autobahn zu vereinigen. Wer deutsche Verhältnisse gewohnt ist, schaute etwas neidisch auf eine starke, selbstbewusste Bewegung, deren Losungen und Forderungen so gar nichts mit dem Motto des DGB zu tun hatten: ?Mut zum Umsteuern - Für Wachstum, Beschäftigung und soziale Gerechtigkeit.? Hier wurde klar gemacht, dass dieses System des Kapitalismus und der Ausbeutung eine unerträgliche soziale Situation geschaffen hat: Wir klagen den Kapitalismus an. Hier wurde gesagt, dass die Logik des Profits, die Logik des Todes ist. Hier wurde der Konsens deutlich, dass eine andere Welt geschaffen werden muss, die nicht den Vorgaben des Reformismus folgt. Hier wurde die Forderung nach einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft laut.

Nirgendwo als im gerade vollzogenen Irak-Feldzug wurde deutlicher, dass wirtschaftliches Wachstum in der globalen Krise permanenter Krieg bedeutet, dass die Regierungen der reichen Staaten auf alte imperialistische Konzepte zurückgreifen. Nichts konnte dieses Jahr symbolischer sein für ihre Politik als der Ort, den sie sich zu ihrem Treffen aussuchten: Evian! Evian - c' èst Danone: Der Nahrungsmittelkonzern beherbergte die Lanzenträger der kapitalistischen Globalisierung und ihr Gefolge in seinen Luxushotels. Keiner von ihnen machte sich in den luxuriösen Suites Gedanken darüber, was aus den 2000 Arbeitern von Lu wurde, die Danone im Jahr 2000, aus rein spekulativen Gründen an der Börse, gekündigt hatte. Die Rotonde Suite im Hotel Royal von Evian kostet 1670 Euro oder nach üblichen Maßstäben 2 Monate Arbeitslosenhilfe. Hier lebt sich so gut, dass sich jeder Gedanke an die Welt der Armut erübrigt. Wer so lebt ist gewohnt, den Lakaien Trinkgeld zu geben und auf Bestellung alle erdenklichen Dienstleistungen zu erhalten.

Der Demonstrationszug von Annemasse sah keine dieser verschwenderischen Absteigen der Reichen. Da sie nicht gestört werden wollten, ließen sie sich ihre Völlerei durch eine ebenso aufwendige wie kostspielige Armee, verstärkt durch ein deutsches Kontingent des BGS, beschützen. Eine Zeitlang zog ich mit dem antiautoritären antikapitalistischen Block ClaaacG8 durch die ärmlichen Wohnviertel von Emigranten und Arbeitern. An ihren Fenstern wurde dessen Botschaft wohl vernommen und sie tat gut, weil sie meiner Wut, meinen Demütigungen und Entbehrungen der letzten Jahre am ehesten entsprach.

Eine einfache Rechnung:

Suitepreis: 1670 Euro x 365 Tage = 609.550 Euro
Arbeitslosenhilfe: 800 Euro x 12 Monate = 9600 Euro

Wie lange kann ich und meine Familie von 1 Jahr Royal Suite vegetieren?
609.550 Euro : 9600 Euro = 63 Jahre

Reichtum ist Diebstahl!

Kurz vor der Grenze, die an diesem Tag für das Heer der Ausgebeuteten nicht existierte, setzte ich mich erschöpft auf eine Rasenfläche in den Schatten der Sträucher. Neben mir ein algerischer Emigrant, der mich um Feuer bittet. Da die Zündhölzer nichts taugen, ist er einige Zeit damit beschäftigt, den Luxus der Armen zum glimmen zu bringen. Ich frage ihn nach seiner Heimat und er anwortet stolz, dass Algerien reich sei, so reich, dass er nach Frankreich emigrieren musste, weil Kolonialismus, Neokolonialismus und nun der Neoliberalismus verhindert, dass die Ressourcen seines Landes die reichlich vorhandenen Lebensgrundlagen der Bevölkerung sichern. Etwas weiter eine Bar mit Emigranten, die dem Protest mit Begeisterung folgen, die ärmlichen Häuser entlang der Straße sprechen Bände des sozialen Elends. Hier ist nichts zu schützen, so ist auch nichts von dem massiven Polizeiaufgebot zu sehen, das den G8-Gipfel begleitete. Selbst die Esso-Tankstelle, vom Betreiber provisorisch mit breitem Plastikband gesichert, wirkt ärmlich und hat außer Emblem und Zapfsäule wenig mit den anderorts protzigen Konsumzentren des Mineralölkonzerns gemeinsam.

Mehr als 100000 gegen die G8 in Evian vereinigen sich am frühen Nachmittag dann zur Blockade an der Autobahngrenzstation. Für die Schweiz ein einmaliges Ereignis, dass in dieser Größenordnung demonstriert wurde. Eine unübersehbare Menge verteilte sich über die Verkehrsknotenpunkte, die ansonsten den ununterbrochenen umweltbelastenden Fluss der Blechkarawanen in Richtung Frankreich und Italien lenken. An diesem Sonntag feierte die Bewegung da, wo sonst Zöllner und Grenzbeamte auf nationale Grenzen aufmerksam machen. Für einige Stunden gab es sie nicht. Stattdessen zeigten Transparente und Embleme von Personen, Gruppen und Organisationen, dass die Menschen, die hier zusammenkamen, trotz unterschiedlicher Sprachen und Kulturen für eine Welt stehen, die keine Grenzen kennt, keine soziale Ungleichheit, Hierarchien und Herrschaft duldet, die Benachteiligungen durch Geschlecht, Herkunft und Hautfarbe ablehnt. Ein unüberschaubarer Strom an Demonstranten, denen diese Welt wie sie ist nicht gefällt.

Nicht gerade einmalig, dennoch offensichtlich, war die Anwesenheit deutscher Repressionsorgane in der Schweiz und in Frankreich. Bereits zu Genua gab es emsige Bemühungen der Polizeiapparate gemeinsam gegen die Bewegung vorzugehen. Deutsche und Schweizer Polizisten versuchten nun nach einer friedlichen Demonstration, eine Neuauflage der Julitage 2001 zu inszenieren. Wenn man bedenkt, dass mehr deutsche Polizisten in der Schweiz standen als Attac an Gegnern der Neoliberalisierung in seinem Sonderzug beförderte, wundert man sich über den Geisteswandel, den die ansonsten auf ihre Neutralität pochende Schweiz durchgemacht haben muss. Und die deutschen Robocops zeigten es den ansonsten als etwas rückständig belächelten Kollegen so, dass das Genf dieser Tage sich in einer politischen Krise befindet. ?Die Deutschen haben unverhältnismäßig gewalttätig agiert.? heißt es in einem Bericht des Legal Team und sie haben nach ihrer Abreise eine Polizeiministerin zurückgelassen, die niemand verteidigen will und einen Polizeichef ad interim, der nach den Vorfällen Ende März im Stadion Cornavin (Ein Gewerkschafter wurde von einem Polizeigeschoss voll im Gesicht getroffen) nun ein zweites Mal dem Vorwurf der Unfähigkeit ausgesetzt ist.

Die wenigen Stunden meines Aufenthaltes in Genf haben die Gewalttätigkeit der Robots, das Auftauchen der legendären Black Blocks nicht tangiert. Dass es Versuche geben wird, die Aktionen zivilen Widerstandes, die Blockaden, spontanen Demonstrationen, die Aktionen des farbenprächtigen Rosa Block zu kriminalisieren wundert nicht, bei dem Anklang und der Sympathie, die von Seiten der Bevölkerung der Bewegung entgegengebracht wurde. Ich hätte mir eine entschiedenere Mobilisierung der Organisationen gewünscht, die sich in deutschen Landen als Kritiker der sozialen Kahlschlagpolitik der SPD-Grünen Regierung ausgeben. Reisen bildet und gemeinsamer Protest und Begegnung mit den unterschiedlichsten Menschen, die alle die Knute des Neoliberalismus spüren, schmiedet das Potential, das über nationale Grenzen hinweg die Stärke dieser neuen Bewegung ausmacht: Ihr Herz schlägt global und leitet ihr Agieren vor Ort.
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Ergänzungen

noch mehr fotos

05.06.2003 - 22:18

reichtum für alle!

05.06.2003 - 23:40

mit attac...

teil der bewegung 06.06.2003 - 10:48
...hat sich eine bewegung konstituiert, die nicht mehr von der bildfläche verschwindet.
merci

Wenn alle das gleiche haben ...

06.06.2003 - 11:11
hat dann jeder gleichwenig oder gleichviel?

@ alle das gleiche

luxus für alle 06.06.2003 - 12:33
die logik deines spruches versteh ich nicht: viel und wenig sind relative begriffe, d.h. sie haben nur im vergleich mit einer bezugsgrösse relevanz. ausserdem hängt es von den produktionsbedingungen ab was und wieviel produziert wird. in der kapitalistischen marktwirtschaft wird nicht für die bedürfnisse der menschen produziert, sondern für den "markt" und den profit.
denk doch mal über die zusammenhänge nach, und überlege dann ob dein "sinnspruch" eine sinnvole ergänzung zu dem text darstellt. ich denke nein.

9.48 und der letzte komm sind Provopostings

06.06.2003 - 16:00
Hier sollen künstlich Streieitereien angezettelt werden, um die Ergänzungsfunktion unbrauchbar zu machen. Bitte an die Mods: Nehmt diese Schlammschlacht-Kommentare raus oder sortiert die anders. Ist echt nervig.