Argentinien: Die Wahlen gehen vorüber, der Hunger bleibt

Luna, LinksRhein 15.05.2003 23:14 Themen: Globalisierung Repression Soziale Kämpfe Weltweit
Nachdem Carlos Menem nicht mehr zur Stichwahl antrat, ist der Zweitplatzierte des ersten Wahlgangs, Nestor Kirchner, nun der neue Präsident von Argentinien geworden. Zu den "Ränkespielen des Klientelismus" und den düsteren Zukunftsaussichten der argentinischen Zivilgesellschaft hier eine Übersetzung zweier Features von http://argentina.indymedia.org
Der nächste Schlag

Mittwoch, 14.5.03 Ein Bilderregen in den Fernsehnachrichten. Die Strassen sind noch immer vollgemüllt mit den Flugis der Kanidaten für den zweiten Wahlgang, aber nach der öffentlichen Erklärung Menems am Mittwoch nachmittag aus dem la Rioja, "sind die Bedingungen für einen zweiten Wahlgang nicht gegeben ...". Aus diesem Grund hat er davon Abstand genommen, sich zu präsentieren. Die derzeitigen Spekulationen über die wahren Gründe seines Rücktritts sind vielfältig: einmal gibt es die Idee, dass er Gründe sucht, die "Legitimität" der kommenden Regierung zu schwächen, um sich so eine Verhandlungsmöglichkeit für die Mehrung seiner Macht sich eröffnen. In dieser Richtung wachsen auch die Hypothesen bezüglich eines "institutionellen Staatsstreiches" mit der Unterstützung verschiedener Sektoren - natürlich inklusive der Streitkräfte, mit denen der Expräsident hervorragende Beziehungen unterhält. Was diese Auseinandersetzungen unter Kupplern klar werden läßt, ist, wie weit sich die ex-Kandidaten von den Leiden der argentinischen Gesellschaft entfernt haben. Die Armut und die Ausgrenzung quellen überall hervor, wie die Fluten, die Santa Fe dem Erdboden gleichmachten. Genau dort wurde, nun verstärkt durch die Katastrophe, die absolute Verantwortungslosigkeit und das Fehlen eines genuinen Interesses, die gravierenden Probleme zu lösen, unter denen breite Sektoren der Gesellschaft leiden, sichtbar. Jetzt, wo Nestor Kirchner Präsident von Argentinien ist, mit kärglichen 22 % der Stimmen aller Wahlbeteiligten, während des peronistische Zentrum (interna?), potenziert durch die offensichtliche Fragilität der neuen Präsidentschaft weiterhin die "zentrale Szenerie der Landespolitik" beherrscht, werden die Nöte der Bevölkerung noch ein wenig zu warten haben.

Die Wahlen gehen vorüber, der Hunger bleibt (älteres Feature)

Die sichtbare Einheit des 1. Mai, sowie die Massivität der Mobilisierungen, konnte Dank des Kampfes um die geräumte Firma Brukman erzielt werden. Ein Großteil der Menschen aus den widerständigen Sektoren der Gesellschaft waren gekommen. Es waren ArbeiterInnen der Firmen Brukman und Zanón anwesend, genauso wie die vieler anderer wieder gewonnener Fabriken; es waren die ArbeiterInnen die nicht länger akzeptierten wie Sklaven gehalten zu werden; die Volksversammlungen; Menschen, die den Piquetero-Bewegungen und linken Parteien angehören. Letztes Jahr wurde noch nicht einmal ein gemeinschaftlicher Akt vollbracht, die entgegengesetzten hegemonialen Ansprüche der verschiedenen Sektoren verschworen sich gegeneinander.

Unter den Umständen der zweiten Wahlrunde hatte der Demonstrationszug der ArbeiterInnen am Tag der Arbeit eine ganz besondere Bedeutung. Die Analyse der jüngsten Wahlen seitens der politischen Welt sowie der kommerziellen Medien betont, dass die Bewegungen des 19. und 20. Dezember [AdÜ: Aufstand in Argentinien Ende 2001, vgl. Argentinien: Bericht aus erster Hand 6.1.2002 und dessen zivilgesellschaftlichen Folgen] gestorben wären, dass die größten Verlierer dieser Wahlen die Sektoren seien, die sich im Kampf befinden. Diese Analyse basiert auf der Wahlbeteiligung, die als "massiv" beschrieben wurde und den geringen Resultaten der linken Parteien. Die Beteiligung an den Wahlen wurde reichlich von den besagten Medien vorangetrieben, indem sie zu "gültigen Stimmen" ermutigten und das Phantom Menem gegen den extrem rechten Lopez Murphy aufbauschten. Ein Szenario, das einige Journalisten mit der zweiten Wahlrunde in Frankreich vergleichen: die Stimme gegen Le Pen. Die Logik des "geringeren Übels" war für viele ausschlaggebend bei ihrer Stimmabgabe.

Der institutionelle Ausgang und die Rekonstruktion der Legitimität der demokratischen Institutionen gehen zurück auf die Zeit nach dem Massaker bei Avellaneda [AdÜ: vgl. Argentinien: Regierung versucht Aufstand mit Gewalt zu unterdrücken 28.06.2002] am 26. Juni letztes Jahr. Die massive Mobilisation und die enorme Ablehnung der Morde an Darío und Maxi führten dazu, dass die Regierung diese Wahlen ausriefen. Einerseits mordete die Regierung Duhalde mit dem Ziel, den sozialen Protest zu ersticken, andererseits trieb sie die Pläne der Firmenchefs(?) voran, die die Arbeitssklaverei auf einen neuen Höhepunkt bringen und den politischen Führern(?) einen breiten Handlungsspielraum für den Klientelismus lassen. Und so kam es, dass das "alle sollen verschwinden" [AdÜ: Parole der Bewegung gegen das gesamte politische Establishment in Argentinien] einem "alle bleiben" Platz machte, das sich bis zu den Wahlen erstreckte und bei dem die verschiedenen Ausdrucksformen, die einen sozialen Wandel suchen, keine gemeinsame Position formulieren konnten.

Die 2 Kandidaten für den zweiten Wahlgang haben ihre Wirtschaftsminister benannt: Seitens Kirchner [AdÜ. Kandidat auf Vorschlag Duhaldes] die Konituität Lavagnas gegenüber dem Hacienda y Melconian von Menems Seite. Lavanga unterstützt ein exportorientiertes Modell und ein gewisses Niveau der Reindustrialisierung, bei dem Argentinien für ausländisches Kapital attraktiv sein soll, geschuldet der durch die Entwertung [des Pesos] erreichten "Wettbewerbsfähigkeit". Der menemistische Wirtschaftsminister, Carlos Melconiam, schlägt eine Wiederöffnung für Importe und eine Konsumausweitung der mittleren und oberen Klassen vor. Präsentiert als zwei auf dem Papier vermeintlich gegensätzliche Wirtschaftsmodelle, kann oder will doch keiner erklären, wie man aus der Situation für 17 Millionen ArgentinierInnen herauskommt, die sich heute im Elend befinden. Menem tat es ... Duhalde ebenso.

Nach diesem ersten Wahlgang kann es sein, dass wir - neben anderen Überlegungen - sagen können, dass der Peronismus keineswegs tot ist; dass, wie Osvaldo Bayer in einem am Montag veröffentlichten Artikel kommentierte, "wir alle Peronisten sind, wir alle Argentinier sind" und was die Kräfte der PJ bonaerense [AdÜ: PJ =Partido Justicialista, peronistische Partei von Duhalde und Menem, bonaerense= aus dem Landkreis von Buenos Aires] auch Kirchner aufzwingen konnten. Was auch sicher ist, ist seitens der Regierung Duhalde der Wille, "das Haus für den Nachfolger zu säubern", was sich in der Räumung von Brukman und der Inhaftierung von 4 Piqueteros aus La Salta ausbuchstabiert. Und wir wissen, dass Menem bereits viele Male seine Absicht angekündigt hat, die Volksbewegungen unter Einsatz von Militär auf den Strassen zu unterdrücken.

Die kommenden Zeiten werden sehr schwer sein. Die sozialen Konflikte können nicht auf Dauer unter den Teppich der Fürsorgepolitik gekehrt werden, noch können die sozialen Proteste mit einer Verschärfung der Repression zum Schweigen gebracht werden. Wer auch immer siegen wird, wir wissen, dass das seine Politik sein wird.

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Ergänzungen

Zope in action

dopey 16.05.2003 - 19:48
Danke Kinners, super Uebersetzung, weiter so!