Was Marx am Sowjetsystem kritisiert hätte - Folge 1

Wal Buchenberg 05.04.2003 10:48
Kritik am Sowjetsystem hat eine lange Tradition. Linke Kritiker versuchten meist das Sowjetsystem in die Histomat-Zwangsjacke der "historisch erlaubten" Produktionsweisen Sklaverei - Feudalismus - Kapitalismus - Sozialismus zu pressen. Meine Kritik, die sich auf die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie stützt, passt nicht in diese Zwangsjacke.Falls die Indy-Moderatoren es gestatten, werde ich diese neu bearbeitete und erarbeitete Kritik des Sowjetsystems in Folge jeweils als Erstbeitrag in Indymedia einstellen - anschließend auch in das Karl Marx-Forum und andere Foren.
Vorwort
Die Geschichte der Sowjetunion ist in allen Lagern als Fehlentwicklung anerkannt. Wer jedoch meinte, der eigene politische Standpunkt würde durch den Zusammenbruch des Sowjetsystems gestärkt, war bald enttäuscht. Weder wurde das „Ende der Geschichte“ erreicht, noch wurden „Friedensdividenden“ verteilt und spätestens seit der krisenhaften Verfassung der Weltwirtschaft und dem offen ausgebrochenen Streit zwischen der Noch-Supermacht USA und einer Bald-Weltmacht Europa wünschen sich immer mehr Leute die Zeiten des Kalten Krieges zurück, als die Welt übersichtlich in Gut und Böse aufgeteilt war.
Auf der anderen Seite bewiesen der Verlustschmerz und die Marginalisierung der sozialistischen und kommunistischen Traditionsparteien nach dem Ende der UdSSR, dass alle diese Parteien und Parteiansätze trotz gegenteiliger Beteuerungen und trotz aller Kritik an der Sowjetunion doch nur Kinder und Enkel des Roten Oktober von 1917 waren.
Die sozialistische und kommunistische Parteilinke im Westen brauchte die Sowjetunion als Vorbild. Aber selten wurde ihr sozialistisches Modell von der zeitgenössischen Geschichte und nie von der ganzen Geschichte der Sowjetunion verkörpert.
Jede marxistische Strömung, Gruppe oder Partei im Westen wählte sich einen besonderen historischen Abschnitt der Sowjetunion, der von einer einzelnen marxistischen Strömung zum sozialistischen Modell verklärt wurde. Oder anders: Jede Geschichtsepoche der Sowjetunion fand im Westen einen politischen Resonanzboden, auf dem eine eigenständige marxistische Richtung erwuchs. Auf diese Weise wurde die Sowjetunion von allen marxistischen Linken im Westen gleichzeitig idealisiert und kritisiert.
- Die Erinnerung an den nachrevolutionären Kriegskommunismus in Russland nährt den Trotzkismus bis heute;
- die „Neue Ökonomische Politik“ von 1921 bis 1928 mit ihrer Mischung von Staat und Markt blieb die heimliche Utopie von linken Sozialdemokraten;
- der „Stalinismus“ von 1930 bis 1952 wurde zum Vorbild aller Marxisten-Leninisten;
- die Reformversuche unter Chruschtschow wie unter Gorbatschow machten linken Intellektuellen Hoffnungen auf einen „menschlichen Sozialismus“;
- die Erstarrung und Vergreisung der nachstalinistischen Sowjetunion schlug mit ihrer beeindruckenden militärischen Macht noch alle westlichen „Realsozialisten“ in den Bann.
Indem jede dieser politischen Strömungen einen einzigen historischen Abschnitt aus der Gesamtentwicklung der Sowjetunion herausgriff und idealisierte, wurde anhand dieses Teilstücks die ganze restliche Geschichte der UdSSR kritisiert und verworfen:
- Trotzkisten gehen davon aus, dass die sowjetische Bürokratie nach dem Tod Lenins eine Konterrevolution durchführte.
- Für demokratische Sozialisten und linke Sozialdemokraten ist Stalin der große Konterrevolutionär.
- Die Marxisten-Leninisten glauben, dass mit Chruschtschow eine Konterrevolution gegen die Anhänger Stalins siegte.
- Die heutige russische KP und die chinesische KP meinen, dass erst Gorbatschow eine Konterrevolution gegen den Sozialismus anführte.
Indem jede marxistische Linke auf einen historischen Einzelabschnitt schaute, suchte und fand sie in der Sowjetunion politische Unterstützung für ihre politische Doktrin. Die ganze Geschichte der Sowjetunion erscheint jedoch erst recht als ein Wirrwarr von sich gegeneinander ausschließenden politischen Standpunkten, die sich gegenseitig widerlegen.
Die Rätsel, die die Moskauer Sphinx aufgab, haben ihre politische Brisanz verloren. Es macht keinen Sinn mehr, die Debatten zwischen Stalin und Trotzki, Stalin und Tito oder zwischen Chruschtschow und Mao usw. zum x-ten Male zu deklamieren. Vielleicht ist jetzt endlich die Zeit gekommen, die ganze Geschichte der Sowjetunion zu begreifen.
Ein wirkliches Begreifen muss handfestere Belege liefern als öffentliche Erklärungen von Staats- und Parteichefs. Den Schlüssel zum Verständnis des Sowjetsystems findet man nicht in den Verlautbarungen sowjetischer Führer, sondern in den Daten und Fakten der sowjetischen Wirtschaftsgeschichte. Karl Marx hatte in seiner Analyse und Kritik des Kapitalismus im „Kapital“ Äußerungen politischer Persönlichkeiten allenfalls zur Illustration und nie zur wissenschaftlichen Beweisführung benutzt.
Diese Kritik der politischen Ökonomie der Sowjetunion stützt sich jedoch – in der wissenschaftlichen Tradition eines Karl Marx – keineswegs auf abstrakte ökonomische Kategorien, sondern analysiert den Gang der sowjetischen Wirtschaftsgeschichte , um zu verstehen, warum kommen musste, was gekommen ist.
Wal Buchenberg, 31.03.2003

1. Arbeitskraft und Produktionsmittel in der Sowjetwirtschaft
Die Meinung ist verbreitet, dass die russische Oktoberrevolution 1917 in einem rückständigen Land ohne Entwicklungsdynamik stattgefunden habe. So schrieb z.B. Iring Fetscher: „Ökonomisch war Russland ein weithin rückständiges Land. Es gab lediglich Anfänge eigener Industrien (vor allem in der Nähe von St. Petersburg), die allerdings in modernen und stark konzentrierten Großbetrieben bestanden. Ein großer Teil dieser industriellen Anlagen gehörte ausländischen ‚Kapitalisten’. Grundlage der Volkswirtschaft war die landwirtschaftliche Produktion...
Das DDR-Schulbuch sah es nicht anders: „In den Jahren nach 1907 stieg zwar die industrielle Erzeugung Russlands rasch an. ... Doch im Tempo der industriellen Entwicklung blieb Russland noch immer hinter den anderen (sic!) kapitalistischen Großmächten zurück. Der Anteil der Industrie an der Gesamtproduktion betrug 1913 nur 42,5 Prozent, während der Anteil der Landwirtschaft 57,5 Prozent ausmachte. Russland war ein Agrarland geblieben, in dem 76 Prozent der Bevölkerung von der Landwirtschaft lebten.
Tatsächlich war das zaristische Russland zwar sehr ungleich entwickelt, aber seine Wachstumszahlen lagen – anders als es das DDR-Schulbuch behauptet - mindestens seit 1900 über den Vergleichszahlen der westeuropäischen Länder. Trotz des schweren Krisenjahres 1905 erreicht die russische Volkswirtschaft von 1900 bis 1913 ein durchschnittliches Jahreswachstum von fast 5 Prozent gegenüber 2 Prozent der meisten kapitalistischen Länder. An seiner Wirtschaftskraft gemessen lag Russland 1910 an 10. Stelle in der Welt , ein Rang, den heute (2002) Spanien einnimmt. Niemand käme auf die Idee, Spanien als ein „weithin rückständiges Land” zu bezeichnen.
Die russische Industrie war vor der Revolution 1917 für damalige Verhältnisse hochmodern, weil sie zum großen Teil importiert war. Im Jahr 1912 stammten 57 Prozent aller Anlagen aus dem Ausland. In ausländischem Besitz waren 1915 noch rund 33 Prozent. Vor allem die Ölindustrie gehörte vorwiegend zu ausländischem Kapital.
Abgesehen von der Ölindustrie konzentrierten sich die Großbetriebe – oft Rüstungs- und Eisenbahnbetriebe - auf den Raum von St. Petersburg, Moskau, das russische Polen und die Ukraine. Das sonstige Land war beherrscht vom kleinen Handwerk und der Landwirtschaft. Kleine Handwerksbetriebe beschäftigten im Jahr 1915 rund 67 Prozent aller Arbeiter oder 5,2 Millionen von insgesamt 7,76 Millionen Arbeitern bei einer Gesamtbevölkerung von rund 165 Millionen.
Wird fortgesetzt. Wal Buchenberg, 05.04.2003.
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Ergänzungen

Indy-Trittbrettfahrer!

Wal Buchenberg 05.04.2003 - 12:09

Wal du bist der Tritbrettfahrer!

Jeff 05.04.2003 - 12:20

Wal wozu braucht man bei indy Marx Konserven?

Wendolin 05.04.2003 - 12:35
Wenn solche Konserven und deren Derivate, in Herkömmlichen Aufzeichnungen Tonnen an Papier, Zelluloid, Magnetband, CD HD und Silizium und sonstigen Speicherplatz belegen!

Wer oder was ist hier Konserve?

05.04.2003 - 12:49
Bei der bloßen Erwähnung des Namens Marx schon ausflippen, das ist Konserve!

Marx im Munde führen, aber nix gelesen haben als ein paar zerstreute Zitate, das ist Konserve!

Kriegt euch ein, und schaut auf den Inhalt, nicht aufs Etikett!

Gruß Wal Buchenberg


Ideologie-Quark

05.04.2003 - 12:58
Bereits Marx war autoritär und ideologisch eingeengt. Die Marxisten selbst sind dagegen nur noch religiös zu nennen! Sie versuchen die ganze Welt mit dem "Buch der Wahrheit" zu erklären, wer das kritisiert wird niedergemacht. Marxismus ist eine irrationale Ideologie.

Kommentar an Wal Buchenberg

Leser 05.04.2003 - 13:08
Mir ist es eigentlich egal, wer was schreibt, aber:
Indy wird eigentlich von den Leuten hier zum Nachrichten-Lesen genutzt. Wenn Du jetzt regelmässig "Bibelstunde" veranstalten willst, dann wird das sicher eine Menge Leute abschrecken. Ich wäre dafür, daß die Mods solche ideologischen Pamphlete nicht auf die Startseite stellen. In der Themenrubrik ist das meinetwegen ok. Aber im Newswire (warum heisst der denn Newwire????) passt sowas wirklich nicht rein!

Ist aber meine persönliche Meinung und bitte nicht böse sein, wenns etwas direkt formuliert ist. Bin nicht so der Diplomat.

Lieber Wal

Weg mit der Zensur auf marx-forum 05.04.2003 - 13:44
Ich keine kein Forum, daß straffer zensiert wird als das von Wal Buchenberg "moderierte" marx-forum.
Da werden auch Leute und Meldungen rausgekickt, einfach weil sie mal den Nick ändern oder weil Wal deren Meinung nicht paßt. Die Botschaft ist klar: Ich bin hier der Hausherr, wer nicht spurt, fliegt.
Während Moderator Wal sich die Freiheit nimmt, andere Autoren ohne jede Argumentation abzuqualifizieren, sieht er in jeder ironischen Replik einen Anlaß, sie herauszuschmeißen; denn das Marx-forum, so seine Begründung, dient ja nur der "Diskussion" und nicht der "Polemik". Auch der Diskussion dient es natürlich nur, solange diese im Sinne von Wal verläuft. An der Oberfläche darf man widersprechen, im Grundsatz nicht.

Kurz gesagt, das "marx-forum" funktioniert nach den gleichen Grundsätzen wie der Staatsbürgerkundeunterricht in der DDR.

Weil unter diesen Bedingungen kaum ein Besucher das marx-forum öfter aufsucht, muß Wal jetzt eben hierherkommen, weil hier die Nutzer sind.

Natürlich, das kann er machen, nur will ich die Leute gewarnt haben.

Zum Beitrag selbst ist nur zu sagen, daß er ebenso wirr ist wie überflüssig.

"WAs Marx kritisiert hätte"
So, als ob Wal das wüßte. So, als ob es darauf überhaupt ankäme.
In der Sowjetunion starben zig Millionen Menschen infolge politischer Repression. Nachdem wir dies wissen, kann es herzlich egal sein, ob Marx das auch "kritisiert" hätte oder nicht. Wir brauchen Marx nicht, um die Sowjetunion abzulehnen.

"Die Zwangsjacke des Histomat"

Hat die nicht Marx selbst erfunden? Wal will die UdSSR auf der Grundlage von Marxens "politischer Ökonomie" kritisieren. Wie langweilig, wie überflüssig. Das hat Michail Voslensky in seinem Buch "Nomenklatura. Die herrschende Klasse der Sowjetunion" schon vor dreißig Jahren getan. Wenn ihr euch für die SU interessiert, dann lest einfach das Buch von Voslensky (in allen guten Bibliotheken) und vergeßt Wals Geschreibsel.

Wal sollte lieber einmal die Sowjetunion im Sinne des "historischen Materialismus" kritisieren (oder umgekehrt), da würde viel mehr dabei herauskommen -- zumindest für ihn selbst.

Im Übrigen bin ich ziemlich angewidert davon, daß Marx ein weiteres Mal als der "Prophet" und die "Offenbarung" hingestellt wurde, der bislang nur "falsch verstanden" worden sei.

Viel interessanter wäre ein anderes Buch: "Was Adam Smith an der Globalisierung kritisiert hätte".


An den mit den vielen Nicks

Wal Buchenberg 05.04.2003 - 15:30
Du hast ganz recht, das Karl Marx-Forum dient der sachlichen Diskussion und nicht der poltischen Anmache und nur deshalb existiert es auch ununterbrochen seit drei Jahren und wird hoffentlich auch noch drei Jahre und länger weiterlaufen.

Die Forumsregeln des Karl Marx-Forums stehen hier:  http://www.marx-forum.de/politik/politik_m/Ineigener_sache.html

Gruß Wal

@ Leser

saul 05.04.2003 - 15:36
Indy ist zum Nachrichtenlesen? Nur was für Nachrichten? Propaganda die schon daran zu erkennen ist, das sie auf allen Imc Seiten reingesetzt wird? Indy ist (oder sollte) für Nachrichten von unten da sein, also für Leut die keinen Zugang zu den Medien haben, die Demobilder gemacht haben und sonst nicht wüssten wohin damit. Was die Profis ablichten und schreiben kann ich im Spiegel lesen, hier will ich was von Leuten sehen, die im Spiegel nichtmal n Leserbrief unterbringen würden. Denn die haben möglicherweise auch was zu sagen.

An Wal

Mehrfach-Nick 05.04.2003 - 18:53
Mit den Regeln des Gremiums hat das nichts zu tun. Da steht auch nichts davon, daß Mehrfach-Nicks verboten seien.
Da steht was vom Marxismus, über den diskutiert werden soll. Nichts anderes habe ich getan.

Du kannst einfach nicht damit leben, daß dir jemand auf deinem Forum widerspricht, das ist alles.
Daß jemand eine andere Sicht auf Marx hat als du.

Da kann man sich ja vorstellen, wie die kommunistische Anarchie aussehen wird. ...

@Multi-Nick mit der Mehrfach-Persönlichkeit

Wal Buchenberg 05.04.2003 - 19:48
Liebe Mehrfach-Persönlichkeit,
wenn du doch wenigstens verstehend lesen könntest!

Von "Marxismus" steht nirgends ein Wort in den Foren-Regeln des Karl Marx-Forums. Es ist immer die Rede von Karl Marx und seinen Analysen, von nichts anderem.

Du möchtest offenbar überall und mit jedem über "Marxismus" diskutieren. Da bist du im Karl Marx-Forum etwas verkehrt.
Marx hat ausdrücklich verneint, ein "Marxist" zu sein.
Das Karl Marx-Forum befasst sich mit dem den originalen Gedanken und Analysen von Marx. Punkt.

Der Marxismus mag ja ganz interessant sein, aber da befassen sich genug andere damit. Ich habe vielleicht nicht genug Ahnung vom Marxismus, um darüber zu diskutieren.

Gruß Wal