Genf: Durch "Markierungsprojektil" der Polizei schwer verletzt

PigBrother 02.04.2003 23:59 Themen: Globalisierung Repression
Am 29.3.03 wollten in Genf im Anschluss an die bewilligte, friedlich verlaufene Anti-WTO-Demo ca. 150 TeilnehmerInnen im Banhof Cornavin den Zug nach Hause nehmen. Ohne offensichtlichen Grund kam es dabei zu einem Polizeieinsatz von 30-50 Grenadieren mit z.T. massiven Übergriffen. (1)
--> Eine Gewerkschafterin und ehemalige Freiburger Grossrätin wurde dabei durch eine neuartige Polizeiwaffe "irrtümlich" im Gesicht schwer verletzt. O-Ton Polizei: «Dieses Geschoss stammt nicht von uns. [...] Diese Dame wurde aus dem eigenen Lager getroffen. Sie wurde ein Opfer von "friendly fire" ... wie im Irak.» Nun kam aber die Wahrheit doch noch ans Licht ...
Bilder oben: Links: Denise Chervet / Rechts: Aus der Wunde entfernte Geschossfragmente Photos: Laurent Crottet / Le Matin (4) (5)
Unten Links: Polizeiprügel  http://ch.indymedia.org/fr/2003/03/6903.shtml
Unten rechts: Blutspuren an Bahnhofswand  http://ch.indymedia.org/fr/2003/03/6885.shtml

Nach verschiedenen Berichten wurde dabei die DemoteilnehmerInnen, die friedlich auf dem Perron auf den 17:30 Zug nach Lausanne/Bern/Zürich warteten, von der Polizeieinheit eingekreist. Als der Zug einfuhr, griffen die BeamtInnen die Wartenden unter den Augen entsetzter TouristInnen grundlos an, drängten einen Teil in den Zug und einen anderen vom Zug weg, um sie einzukesseln. Dabei wurden unter anderem eine Frau brutal niedergeknüppelt und beschimpft, andere Personen erlitten das gleiche Schicksal, so dass sie sich anschliessend in Spitalpflege begeben mussten. Leute in den Zügen darauf aus Solidarität die Türen besetzt hielten, wurden nach anfänglichen Verhandlungen brutal zurückgedrängt und die Türen von der Polizei geschlossen. Nachdem darauf im Zug die Notbremse gezogen und die Türblockierung gelöst wurde, enterten ca. 5 BeamtInnen den Zug und starteten auch dort eine Knüppelorgie. Später wurden die Reisenden durch eine Durchsage des Bahnpersonals in den Zug auf dem gegnüberliegenden Bahnsteig gewiesen, dabei kam es zu weiteren Verhaftungen und Misshandlungen. (2) (1)

Als die 45-jährige Zentralsekretärin der CH-Mediengewerkschaft comedia und ehemalige Freiburger Grossrätin Denise Chervet zusehen musste, wie ihr 16-jähriger Sohn mit Knüppelschlägen auf den Schädel zusammengeschlagen wurde (die resultierende Kopfverletzung musste später mit 4 Stichen genäht werden), protestierte sie. Darauf richtete ein weiter oben auf der Treppe stehender Beamter eine Waffe auf sie und traf sie aus aus einer Distanz von 5-6 Metern am Kopf. (2) (3) (4)

Im Spital stellten die ÄrztInnen fest, dass neben einem Bruch des Wangenknochens die Wunde nebst mit Plastikfragmenten auch mit vielen kleinen Metallteilen gespickt war, von denen Denise Chevret die meisten künftig für den Rest ihres Lebens mit sich herumtragen wird. Die ÄrztInnen standen vor einem Rätsel, so ein Projektil hatten sie noch nie gesehen. (4)

Auf die Frage eine Journalisten der Zeitung "Le Matin", ob die Polizei eventuell ein neuartiges Geschoss verwendet habe, log der Polizeisprecher tags darauf unverfroren (und wie in der Ausbildung gelernt): «Absolut nicht. [...] Dieses Geschoss stammt nicht von uns. [...] Diese Dame wurde aus dem eigenen Lager getroffen. Sie wurde ein Opfer von "friendly fire" ... wie im Irak.» (3) (4)

Nun kam die Wahrheit aber doch noch ans Licht: Die Denise Chervet aus der Wunde entfernten Geschossfragmente (siehe Bild) belegen eindutig, dass es sich eben doch um eine neue Polizeiwaffe handelt, wie mittlerweile auch die Genfer Polizei zugeben musste:

«Es handelt sich um eine Art hochentwickeltes Paintball [...]. Das Gerät schiesst eine Farbkapsel aus Plastik und bröckeligem Metall. Durch das System sollen in einer Menschenmenge Unruhestifter und friedliche Demonstrierende unterschieden werden können. Die Polizisten zielen auf die Körper der betroffenen Personen. Wenn diese einmal mit Farbe markiert seien, könnten sie innert Minuten festgenommen werden[...]. Bei der am Samstag getroffenen Demonstrantin sei keinesfalls auf den Kopf gezielt worden, sagte er. Durch die Bewegung in der Menge sei es aber schwierig, den anvisierten Punkt zu treffen. Das neue Material sei in der Versuchsphase durch und an Polizisten getestet worden [...]. Diese Tests hätten ergeben, dass die Kapseln Blutergüsse verursachen könnten. » (5) (6)

Da es sich um eine neue experimentelle Waffe handelt, konnte ausnahmsweise sogar eruiert werden, wer den verhängnisvollen Schuss abgab. Der Beamte würde nun «befragt». Dass dieser «Fehlschuss» für ihn ernsthafte Konsequenzen haben wird, ist allerdings nicht zu erwarten.

Denise Chervet hat inzwischen Strafanzeige gegen die Polizei eingereicht. Auf Freitag ist in Genf eine Pressekonferenz angesetzt. (3) (5) (6)

In den deutschschweizer Medien wurde der Vorfall (wie auch die übrigen Gewaltexzesse in Cornavin) wie üblich totgeschwiegen. Erst nach der Bestätigung dirch die Genfer Polizei, es handle sich doch um ein Polizeiprojektil, gan es eine kleine Agenturmeldung. Selbstverständlich wurde darin verschwiegen, dass die Polizei genau diese Tatsache zuvor explizit abgestritten hat. (5)

Durch den Einsatz dieser neuen Polizeiwaffe sind weitere schwere Verletzungen und insbesondere auch Augenverluste klar vorprogrammiert. Ganz nach dem Motto "Hoppla, das Ziel hat sich leider bewegt bzw. ist im letzten Moment zur Seite getreten, weshalb es leider die unbeteiligte Person dahinter erwischte" -- auch wenn unsere mutigen BeamtInnen das natürlich nie so zugeben werden, schliesslich treffen sie immer nur die Richtigen (wenn auch ab und zu an der "falschen" Stelle, ups, Sorry).

Wie üblich kann künftig, ist die neue Waffe erstmal etabliert und mehrfach abgegeben, künftig auch der/die SchützIn in der Regel nachträglich sowieso nicht mehr eruiert werden (wozu auch):

--> Siehe z.B. den Augenverlust ebenfalls eines comedia-Mitglieds in Zürich vom WEF 01, wo die Bezirksanwältin den/die TäterIn auch nach über 2 Jahren immer noch nicht finden will ...
siehe Dossier "Gummigeschosse":  http://www.ssi-media.com/pigbrother/Gummi.htm

--> oder den Fall der am WEF 02 in Zürich mit einem "Wasserwerfer" mutwillig und vorschriftswidrig übel verätzten 2 Personen; auch hier konnte die BAZ die Schuldigen bisher nicht eruieren (und will und wird es auch künftig nicht) ...
siehe "Tränengas"-Folter 1980-WEF 02:  http://www.ssi-media.com/pigbrother/Veraetzung1.2.02.htm

--> Bereits am 1. Mai 96 wurde bekanntlich der Wasserwerfer Nr. 12 auf TeleZüri gesendet, wie er Unschuldige plus den Kinderspielplatz "beharkte", selbstverständlich ohne Konsequenzen für die verantwortlichen Beamten, welche Trotz Bilder und ZeigInnen vor der Untersuchungskommission unverfrohren und ungestraft behaupteten, niemals "Tränengas" beigemischt zu haben und auch "nie in das Areal hineingeschossen" zu haben ...
siehe "Tränengas"-Exzesse in Polizeikesseln 1980-2003:  http://www.ssi-media.com/pigbrother/Dokgas.htm#praxis

--> Undundundundundundund ....

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Quellen:

1) Bericht und Kommentare auf ch.indymedia:  http://ch.indymedia.org/de/2003/03/6852.shtml

2) Communiqué Anti WTO-Koordination Lausanne und Kommentare (französisch):  http://ch.indymedia.org/fr/2003/03/6909.shtml

3) Le Matin 31.3.03 Artikel 1 (französisch):  http://www.matin.ch/nwmatinhome/nwmatinheadactu/actu_suisse/_un_policier_m_a_tire.html

4) Le Matin 31.3.03 Artikel 2 (französisch):  http://www.matin.ch/nwmatinhome/nwmatinheadactu/actu_suisse/munition_en_caoutchouc.html

5) sda-Meldung vom 1.4.03 u.a. auf indymedia und Kommentare:  http://www.matin.ch/nwmatinhome/nwmatinheadactu/actu_suisse/munition_en_caoutchouc.html

6) Le Matin 31.3.03 Artikel 3 (französisch):  http://matin.ch/nwmatinhome/nwmatinheadactu/actu_suisse/blessee_par_la_police.html
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Ergänzungen

das kann ja heiter werden

. 03.04.2003 - 01:39
das kann ja heiter werden beim G8 gipfel anfang juni.

Danke

danke 03.04.2003 - 08:44
fuer diesen so detailliert geschriebenen und gruendlich belegten Artikel. - Davon koennten sich viele mal ne Scheibe abschneiden.

Für G(

Kojak 03.04.2003 - 11:13
Da beginnt schon das Training für den G8. Auch für uns muß das heißen, neue Startegien zu entwicklen. Frontalkurs ist dumm, lieber den Ort und den Zeitpunkt von aktiver Meinúngsäußerung selber bestimmen, Bullen in die Leere der Wüste laufen lassen, dann nützen ihnen auch ihr neuen Megawaffen nix. Wo der Feind übermächtig ist, sollte man ausweichen, am besten in kleinen, mobilen Protestgruppen...search, dest.. and run.

03.04.2003 - 19:18
Brökeliges Metall hört sich für mich eher nach Dum-Dum-Geschossen an, als nach Farbgeschossen.

Ups, falsche Quellenangabe ...

PigB. 03.04.2003 - 20:33
der Link für

5) sda-Meldung vom 1.4.03 u.a. auf indymedia und Kommentare:

muss natürlich heissen  http://ch.indymedia.org/de/2003/04/7074.shtml

Sorgen

Rizzo 03.04.2003 - 20:46
Ich bin wirklich einer der friedlichsten Demonstranten und Altpunk den man sich vorstellen kann.
Aber bei solchen Handlungen der Polizei ist eine Gewalteskalation vorprogrammiert.
Wenn der erste Demonstrant sein Auge verloren hat, wird der Block nicht mehr zu stoppen sein.
Möglicherweise ist das aber auch gewollt, denn dadurch kann der Staat weitere Gewalt und weitere Grundrechtseinschränkungen problemlos durchboxen.

Carlo Giuliani war wohl nur der Anfang...

Wie heißt es doch aus alter Zeit: Wer Wind säät wird Sturm ernten.
Aber leider scheinen manche Politiker eher nach dem Motto zu verfahren: Demokratie muß gelegentlich in Blut gebadet werden.

Sie sind G8 - Wir sind 5'600

anti-g8-soldat 05.04.2003 - 15:09
Für den Schutz von des G8-Gipfels in Evian wurden in der Schweiz bisher mindestens 5'600 Milizsoldaten aufgeboten.

Wir werden jedoch Bush, Blair, Putin, Berlusconi, Schröder und Chirac nicht beschützen, wenn sie die Förderrechte im Irak neu unter sich aufteilen!

An alle Soldaten, welche für die Mächtigen der Welt nicht ihren Kopf hinhalten wollen:

- Verweigert den Dienst!
- Schreibt Verschiebungsgesuche!
- Holt Arztzeugnisse ein!
- Meldet Euch zum Zivildienst!

Tipps, wie Ihr vorgehen könnt findet Ihr auf

Genfer Polizeikommandant tritt zurück

geschockter 07.04.2003 - 19:16
Als folge dieses Vorfalls trat der Genfer Polizeikommandant (wohl kaum ganz freiwillig) zurück. Auf Indymedia hats hier Infos dazu:

 http://www.indymedia.ch/de/2003/04/7253.shtml