In Kontakt mit Bagdad - Update 45

--- 02.04.2003 23:55 Themen: 3. Golfkrieg Militarismus
Sajida lebt - Sie ging ans Telefon, als Robdinz nach Bagdad anrief - Die Reporterin, die ihm Sajidas Geschichte erzählt hatte, ist heute bei der Geburtenklinik, die zerbombt wurde gewesen - Sie kannte eine Arzt, der dort arbeitete - Seit zwei Tagen versuchte man schon Schwangere und Wöchnerinnen in kleinere Sanitätsstationen zu verlegen - Es waren aber noch nicht alle weg, und die Autofahrer, die bei dem Bombardement an der Klinik vorbeifuhren sind in ihren Autos verkohlt.
In Kontakt mit Bagdad - Update 45

Stand: Wednesday April 02, 2003 at 08:09 PM

 http://italy.indymedia.org/news/2003/04/243613.php

"Baraka"

Was für ein Glück, habe ich gedacht, als ich nach bloß zwanzig Minuten Leerläufe störungsfreie Freizeichen in der Leitung hörte. Ich habe mich geschämt, dieses Wort auch nur gedacht zu haben.

Eine dünne, deutlich zu vernehmende Stimme antwortet mir, zuerst auf Arabisch, sofort danach höre ich ein klares "hello". Ich frage nach meinem Kontakt, der in wenigen Sekunden am Apparat ist. Mensch, war das Sajida? Ja, sagt mir mein Kontakt, bei dem es sich wieder um die Reporterin und Filmemacherin handelt, die mir neulich abends die Geschichte der Kindbüglerin aus dem Hotel erzählte, in dem sie seit einigen Woche lebt. Ja, es war wirklich Sajida, die bei mir im Zimmer ist, um mir zu helfen eine Hose mit kaputtem Reißverschluss zu reparieren. Zum Glück, sagt sie, hat Sajida eine wahre Fundgrube in den Koffern, die sie unter ihrem Bett aufbewahrt. Und am Schluss haben wir einen Reißverschluss, der für diese Hose angepasst werden kann gefunden. Glück.

Du wirst es schon wissen, unterbricht sie mich, während ich ihr so schnell ich kann, das Kriegsbulletin das uns in Europa zu kennen gegeben ist, durchgebe - sie haben die Geburtenklinik getroffen, auseinandergerissen. Die vom Roten Halbmond verwaltet wurde. Die von Said.

Sie war mehrere Male in dieser Klinik gewesen, sie hatte Stunden Material gedreht, unter diesen Frauen, die in Erwartung ihrer Niederkunft waren oder gerade erst ihr Kind geboren hatten. Und dort hatte sie Said kennen gelernt, der in Kairo sein Medizinstudium abgeschlossen hat und in London in Gynäkologie spezialisierte. Es waren die Tage voller Spannung und Angst vor dem Krieg. Es waren die Terrortage der ersten Bombardements.

Und immer war Said bei ihr. Nicht jung, etwa sechzig Jahre alt, die er gut wegsteckte, kräftig, graue Haare und einen riesigen Schnauzbart, der ihm beinahe die Lippen bedeckte. Said ist Junggeselle, in der arabischen Welt eine Rarität. Intelligent, brilliant, voll mit einem nüchternen Sinn für Humor. Sein fließendes Englisch, und irgendwie sein Charme, hatten die Filmemacherin dazu gebracht, einige Male eine Einladung zum Essen bei ihm zu Hause anzunehmen. Ein nicht großes, aber sehr schönes Haus in einem modernen Wohnviertel, hell, voller Bücher. Und sie hatten zusammen gelacht, als Said ihr den handgeschriebenen Zettel gezeigt und übersetzt hatte, der an seiner Haustür angebracht war, als sich die Bombardements über die ganze Stadt intensiviert hatten: Hier lebt (noch für heute, sofern es die Bomben erlauben) der Dr. Said. Im Leben bedarf es auch eine guten Portion "Baraka", (Glück) hatte er ihr gesagt.

Glück.

Und sie hatten bis zum Morgengrauen Trockenobst gegessen, Satellitenzapping gemacht und einige Gläser eines kräftigen irischen Whiskey getrunken.

Als die Reporterin heute morgen die Nachricht erhalten hat, dass die Geburtenklinik von Bomben und Raketen getroffen worden war, ist sie aus dem Hotel raus, sie hat angefangen wie verrückt zu rennen, durch Straßen und Gassen, sich zwischen Autos schlängelnd und ohne auf die Lkws zu achten. Ohne sich wegen der Papiere zu sorgen, wegen dem Fehlen der Visa, das sie zwingt, immer sehr vorsichtig zu sein. Je näher sie kam, desto besser konnte sie den Rauch sehen, der ihr den Blick auf das entstellte Bild einer Seite der Klinik verdeckte, die getroffen und zerstört war. In Stücken.

Draußen waren Autos, die von der Form her intakt waren, aber lichterloh brannten, und mit ihnen die verkohlten Insassen, die noch die Hände auf dem Lenkrad hatten. Flammen, Flammen überall, Verletzte, zu Staub gemachte Krankenhausgeräte, ein Teppich aus Glas, Betten, Kinderbetten. Decken und Laken, die aus den Trümmern vom ersten und zweiten Stockwerk hingen. Und dann diese Schreie, diese Verzweiflungsszenen, an die man sich unmöglich gewöhnen kann. Aber diesmal ist es schlimmer, hat sie gedacht. Es ist schlimmer als alles andere. Das ist die Geburtenklinik, wo nur Frauen, Kinder, Ärzte und Krankenschwestern sind. Das erste Opfer unter ihren Augen lag unter einer schweren Betonplatte, mit all diesen Eisenträgern, die verdreht aus dem Gestein ragten und die schmalen Fußgelenke berührten, und Füße, die noch diese weißen Gummipantoffeln trugen, die typisch für die Krankenschwestern auf der ganzen Welt sind.

Sie suchte Said. Der mit Sicherheit dort war, aber sie konnte ihn nicht finden. Sie bahnte sich einen Weg durch die Hektik der Helfer, sie guckte in die Autos, die wie Krankenwagen die Verletzten in irgend ein anderes Krankenhaus brachten. Sie versuchte, ihn unter der weißen Decke aus Schutt zu entdecken, die wie Mehl die Überlebenden bedeckte. Die Verletzten, fast alle Ärzte und Pflegekräfte der Klinik, wurden draußen auf den Boden gesetzt, die einen neben die anderen. Fast alles Frauen, die überwiegend von dieser Myriade Splitter getroffen waren, die dich am ganzen Körper bluten lassen. Eine, eine einzige, hatte einen riesigen Bauch, und atmete hechelnd. Einen Augenblick lang, beim Anblick diesen Bauches, ging ihr dieses Wort durch den Kopf, Glück. Vielleicht hätte sie es geschafft, und mit ihr, ihr Kind.

Glück.

Sie merkte, dass ein alter Mann mit weißem Haar und nach vorn gestreckten Armen auf der Erde kniete, neben einem alten, zerfetzten Kühlschrank, den die Bomben von wer weiß woher dort hingeschleudert hatten. Sie schaute genauer, als wolle sie dieses Bild, das etwas Vertrautes an sich hatte, fokussieren. Sie ging näher heran und fand Said. Said betete, mit einem Kleinen Koran-Buch fest in den Händen geklammert. Sie wusste nicht, dass said religiös war, so religiös, dass er den Koran bei sich trug. Nach dem sie ihn an den Schultern gerüttelt hatte, hat sich Said zu ihr umgedreht. Er weinte, Said, er schluchzte. Plötzlich war er alt geworden, die Lippen und die Zunge voller Staub und Kalk, und er weinte, Said. Was für ein Glück, hat sie gedacht, er lebt.

Glück.

Aber er fand keine Ruhe. Er konnte keine Ruhe finden. Und weinte weiter, mit den Tränen und dem Speichel, die sich mit dem Staub und dem Kalk vermischten und ihn unkenntlich machten. Sie ist einige Minuten neben ihm auf der erde sitzen geblieben. Wortlos, beim Versuch, diesen alten, erschütterten und verzweifelten Körper durch Streicheln seines Rückens zu beruhigen. Aber wie viele werden die Tote der Klinik sein? Und die Verletzten? Und alle Opfer des heutigen Tages? Wo werden sie eingeschlagen sein, wo werden sie hingegangen sein, um zu explodieren, die Raketen und die Bomben, die ohne Unterbrechung weiter fallen? Was wird es noch geben, das schlimmer sein wird, als Bomben auf einer Geburtenklinik?

Baraka, ein Glück, dass Said hier ist. Er wird sich beruhigen, ich werde ihm helfen, ich werde alles tun, für ihn. Er lebt.

Glück.

Said beruhigt sich und steht auf, als würde er wieder zu Sinnen kommen und Selbstbewusstsein wiederfinden. Er geht an ihrer Seite und schaut sich um. Er deutet mit den Händen auf die lange Zeile verletzter Männer und Frauen, die am Boden liegen, und begint, schneller zu gehen. Er ist Arzt, und er beherrscht sein Handwerk gut. Jetzt hat er zu tun, sich um die Verletzten zu kümmern, die bis vor einer Stunde seine Patientinnen waren, seine Kollegen und seine Krankenschwestern. Er sagt ihr, dass sie zum Glück in den letzten zwei Tagen viele Patientinnen in andere, kleine Sanitätsstationen verlegt hatten, um sie in Sicherheit zu bringen, und mit ihnen die Frauen, die ihre Kinderchen gerade geboren hatten.

Glück.

Aber sie hatten es nicht geschafft, alle zu verlegen. Es waren die Ärzte und die Krankenschwestern zurückgeblieben, um die Verlegungen fortzusetzen und sich um die, die noch hier waren, zu kümmern.

Und hier sind sie jetzt, sagt er, und deutet auf die Verletzten.

Weißt du, im Leben bedarf es manchmal wirklich eines Quentchens Glück, sagt er, nachdem er den Bauch dieser Frau berührt hat. Es geht ihr gut, sagt e, und ihrem Kind auch.

"Baraka".

Möge die Nacht leicht sein.

r.
Indymedia ist eine Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann. Eine Überprüfung der Inhalte und eine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge finden nicht statt. Bei Anregungen und Fragen zu diesem Artikel wenden sie sich bitte direkt an die Verfasserin oder den Verfasser.
(Moderationskriterien von Indymedia Deutschland)

Ergänzungen

Betrifft: Updates 43+44

--- 03.04.2003 - 00:21

Ich habe heute Robdinz wegen der Fehlmeldung zu den Human Shields kontaktiert. Ganz kurz zusammengefasst steht etwas dazu als Ergänzung im Update 44. Wenn es gewünscht wird, kann ich den kompletten Text übersetzen, den er dazu auf Indy.it veröffentlicht hat. Ich hatte vor, es heute hier im Anhang zu bringen, würde es jetzt aber doch gerne auf morgen vertagen, weil ich richtig krank bin und jetzt ins Bett möchte. Gruß, ---

Danke

leser 03.04.2003 - 01:37
*schluck*

ich muss schon sagen bei all der brutalität und unmeschlichkeit die man bei berichten über diesen krieg mitbekommt, macht mich die persönliche note dieser bericht am meisten betroffen. ich werde wirklich zutiefst getroffen, und das schaffen alle die ander eindrück nicht so sehr.

vielen dank für die übersetzung und weiter so.

gute besserung

wart ihr nicht zu zweit?

03.04.2003 - 14:06
das kann doch nicht sein, daß du schon krank wirst und der einzige mensch in ganz deutschland der italienisch kann...

Na ja

--- 03.04.2003 - 14:36

Ist nur eine böse Erkältung. Es ist nicht die Übersetzerei, die mich krank macht, keine Sorge!

Ansonsten, wer mitmachen will, kann sich ja melden, wobei allzu viel Arbeitsteilung für die Übertragungsgeschwindigkeit, die doch nicht unwichtig ist, wahrscheinlich nicht förderlich ist. Ich kann mir leisten, ohne Wörterbuch und ohne ewig nach der richtigen Lösung zu suchen, konsekutiv zu übersetzen, sozusagen im Handumdrehen und trotzdem korrekt. Für mich ist das grundsätzlich ok, das alleine zu schieben. Und sollte wer helfen wollen, kann er/sie sich ja melden, wie gesagt. Auch sonst gibt´s übrigens viel zu übersetzen. Was Übersetzungen aus dem Italienischen betrifft, könnte z.B. die täglich auf indy.it von Blicero gepostete Chronologie des Krieges ganz gut sein. Da sind wir auch schon bei Nummer 15. Später vermisst man sowas, also nur zu, wenn wer will...

Gute Besserung!

info-junkie 03.04.2003 - 20:34