In Kontakt mit Bagdad - Update 42

--- 31.03.2003 22:15 Themen: 3. Golfkrieg Militarismus
In Bagdad fallen inzwischen vermehrt die "Bunker Busters" - Hauptthema von diesem Update sind aber wieder die Kinder, genauer, eine Jugendliche - Ein Mädchen, das per Adoption zur billigen Arbeitskraft in einem Hotel geworden ist und Amerika nur aus den Zeitschriften und Zeitungen der Hotelgäste kennt, und glaubt, die Amerikaner werden sie mitnehmen, da wo der Hollywood-Rasen wächst und die weißen Villen stehen - Die unabhängigen Reporter sind wegen der fehlenden Resonanz des gestrigen Appells enttäuscht - Ihnen scheint ein sofortiger Hilfskorridor unerlässlich, sie begreifen nicht, wieso in diesem Sinne nichts passiert -
In Kontakt mit Bagdad - Update 42

Stand: Monday March 31, 2003 at 07:21 PM

 http://italy.indymedia.org/news/2003/03/239988.php

Sajida

Die Bomben, die über Bagdad gefallen sind und weiter fallen sind nicht anders als die von gestern und denen der vergangenen Tage. Und es ist nicht einmal allzu wahr, dass es in den letzten 24 mehr waren oder dass sie mit einer größeren Intensität gefallen wären.

Die Wahrheit ist, dass seit fast einem ganzen Tag Bomben von unerhörter Kraft zu fallen begonnen haben, die keine "Schäden", sondern Verwüstungen anrichten. Und diese fallen sehr wohl mit geometrischer Präzision: sie radieren alles, was sich in ihrem Radius befindet, über 2.000 bis 3.000 Quadratmetern völlig aus.

Druckwellen, die Autos und Lkws auf den Kopf stellen, die Bäume und die Rollläden der Geschäfte ausreißen, den Asphalt bis zu den Dächern der Häuser hochgehen lassen. Sie verursachen einen heißen Wind, der so stark ist, dass er sich durch Straßen und Gassen schlängelt und jeden, der flieht verfolgt, und Dutzende, vielleicht sogar Hunderte übereinander wirft. Wer noch die Kraft hat, zuzusehen, und den Blick auf ihn zu richten, schaut sich verblüfft diesen riesigen, schwarzgrauen Pilz an, der explodiert und dabei alles überragt, bevor er mit einem Regen aus winzigen Splittern aller Art, die man beinahe einatmen kann, wieder abfällt.

Aber Atem gibt es keinen mehr in Bagdad. Nicht einmal die Kraft zu fliehen. Man nimmt den Kopf zwischen den Händen, man kauert in fötaler Haltung am Boden, das Kinn gegen die Brust, die Ellenbogen gegen die Knie gedrückt. Und man wartet. Dann, der Knall, die Geräusche, die die Ohren zerfetzen, die das Herz daran hindern, zu schlagen, die Kleidung zum Flattern bringen, und Männer und Frauen herumkullern lässt, wie diese kleinen schwarzen Käfer, die sich zu Kugeln zusammen rollen, wenn du sie berührst,. Du kannst sie in deine Hand nehmen, aber sie öffnen sich nicht. Terrorisiert.

Nach der Versammlung von gestern mit den irakischen Kollegen im Kino hat sich unter den unabhängigen Reportern viel Enttäuschung breit gemacht, wegen des Ausbleibens einer internationalen Sichtbarkeit für den Appell, zur Errichtung (mindestens) eines humanitären Korridors zur Hauptstadt, damit Nahrung, Medikamente und medizinische Ausrüstung dorthin kommen können. Und vielleicht ein paar Spielzeuge für die Kinder. Wie mir eine europäische Reporterin sagt, die nicht aufhört, an sie zu denken, an die Kinder von Bagdad.

Allein im Laufe des heutigen Tages dürften die Opfer 30 sein. Und wer weiß wie viele Verletzte. Aber wo ist das Rote Kreuz, wo sind die Vereinten Nationen, sagt mir die Reporterin immer wieder. Ist es den die Möglichkeit, dass es nicht auch nur für einen Tag gelingt, all das aufzuhalten? Was wollen sie den, dass Millionen verzweifelte, wütende Stadtbewohner, die nichts mehr zu verlieren haben, sich mit bloßen Händen, mit Gewehren und Stöcken auf die anglo-amerikanischen Truppen stürzen, wenn diese in die Stadt eindringen werden? So, dass man sie, der Welt erklärend, man habe über "Terroristengruppen" im Dienste Saddams obsiegt, auslöschen kann?

Die Reporterin ist aufgewühlt, die Stimme, die mir berichtet, erzählt von einigen Bauernhöfen unmittelbar am südöstlichen Stadtrand, die vorsätzlich durch Raketen getroffen wurden und den Tod von zwölf bis fünfzehn Kindern verursachten. Sie ist entsetzt, während sie mir diese Nachricht gibt. Warum die Bauernhöfe, sagt sie mir immerzu.

Die Reporterin wohnt seit etwa zwei Wochen in einem kleinen Hotel in einer halbzentralen Gegend, nicht allzu weit vom Informationsministerium. Sie teilt das Zimmer mit einer "offiziellen" Journalistin, der es vorgezogen hat, sich aus der etwas klaustrophobischen und selbstbezogenen Atmosphäre im "Palestine" abzuseilen. Sie haben sich durch Zufall in den Straßen von Bagdad kennen gelernt.

In ihrem Hotel gibt es keine Gäste außer sie beide. Der Besitzer ist von überaus höflich, fast liebevoll, er hat gerade wegen der etwas abseitigen Lage, die das Hotel zu einem etwas sichereren Ort macht, als ihr Haus, das zu sehr in der Nähe eines Palastes der Macht war, seine ganze irakische Familie dorthin verfrachtet. Aber Verfrachtet sagen ist noch zu wenig. Ein wahrer Umzug ist es gewesen, mit Schränken, Betten, Sesseln, Teppichen und Gemälden. Als wollte er die familiäre Atmosphäre ihrer Wohnung wieder herstellen, als wolle er nicht die Familie dieses Gefühl eines Provisoriums, das man im Hotel hat.

Die Reporterin hat ein paar Tage gebraucht, um bei der Zusammensetzung dieser Familie durchzublicken. Fünf Töchter. Aber zwei von ihnen waren vom Alter her zu nahe beieinander, um Schwestern zu sein, und sich nicht so ähnlich, dass sie Zwillinge hätten sein können.

Sajida ist nämlich vierzehn und nicht die Tochter Ahmets, dem Besitzer des Hotels. Sajida wurde von Ahmet und seiner Frau adoptiert, als sie sechs war, und zum arbeiten ins Hotel gebracht. Eine dieser Adoptionen ohne zuviel Formalitäten, Dokumenten und Anträgen, die hier in Bagdad gängig sind, um eine kleine, preiswerte Arbeitskraft gegen Kost und Logis zu bekommen.

Aber Sajida hat auf ihre Weise Glück gehabt, sie muss sich um die Hotelwäscherei kümmern: Handtücher und Bettwäsche, zu waschen mit der Hand und perfekt zu Bügeln mit einem riesigen Dampfbügeleisen deutscher Fabrikation. Ahmet hat sie nie in ihrer Würde verletzt oder auf gewisse Weise ausgebeutet, wie es sonst anderen Kindern wie Sajida passiert, die gezwungen sind, in großen Wannen die Teppiche zu waschen, den ganzen Tag mit hochgiftigen Crémes, die Wunden und Verätzungen an den Händen verursachen, Messing zu putzen, oder ohne jeden Schutz sechs, acht, zehn Meter hoch klettern müssen, um dem "Besitzer" beim Haus- oder Lagerbau zu helfen. Sajida hat immer im Hotel gewohnt, mit einem Zimmer, das ihr allein gehört, nahe der Treppe, die zur Waschküche führt.

Eines Abends hat die Reporterin so getan, als hätte sie den Treppenaufgang verwechselt, Sajidas Zimmer erreicht und an die Tür geklopft. Als sie mit ihr auf dem Bett saß, hat sie gesehen, dass Sajida sehr viele Zeitungsausgaben und Periodika aus der ganzen Welt hatte, die sie bei der Zimmerreinigung nach der Abreise der Gäste sammelte. Der Kontakt mit den Gästen hatte aus Sajida eine kleine Polyglottin gemacht, die in der Lage war, sich auf Englisch, Deutsch und sogar ein wenig auf Spanisch zu verständigen. Diese Zeitschriften sind Sajidas Fantasiewelt, die während der Nächte vor dem Beginn des Krieges sich in irgendein leeres Zimmer schlich um dort Satellitenfernsehen zu gucken, das ihr fantastische Weltreisen ermöglichte. Und sie war von den Bildern der amerikanischen, englischen und japanischen Sender fasziniert.

Sajida weiß nicht viel über den Grund von diesem Krieg, der nicht bis in ihr fensterloses Zimmer vorzudringen scheint. Aber sie ist sicher, dass Tom Cruise der schönste Mann der Welt ist, und dass die "Amerikaner" sie mit zu sich nehmen werden, wenn sie ankommen werden, weil gerade die USA der Traum Sajidas sind, eine Weiße Villa mit gepflegtem und kurzem Rasen wie in Hollywood.

Immer noch auf dem Bett sitzend, gemeinsam mit ihr diese Art Strudel voller Trockenfrüchte und -feigen die Ahmed und seine Frau ihr nie fehlen lassen, hat die Reporterin mit Sajjida nicht vom Krieg und den Amerikanern gesprochen. Aber sie hat mit Entschlossenheit undunter Verwendung aller ihr zur Verfügung stehenden Mitteln (erfolglos) versucht, ihre Meinung über eine Sache zu ändern: Der schönste ist nicht Tom Cruise, sondern Brad Pitt.

Möge die Nacht leicht sein.

r.
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Ergänzungen

Mensch

info-junkie 31.03.2003 - 23:11
Danke für die Übersetzung.

Jeder Bericht wird eindrucksvoller, jede Info und jeder Menschen den wir kennen lernen kommt näher und wird vertrauter. Man fängt an jeden dieser Menschen zu lieben.

-fassungslos-

@info-junkie und @---

Katzeklo 01.04.2003 - 03:06
Ebenfalls vielen Dank für die Übersetzung!

Auch mir geht es so, dass ich diese Berichte regelmäßig lese, ja verschlinge!

Und dies nicht aus dem Grund, geil auf Horrorbereichterstattung zu sein, sondern weil die Authentizität der Berichte nur allzu deutlich macht, was Krieg bedeutet. Dass es konkrete, liebenswerte Menschen sind, die die Opfer sind
...und dass jeder Mensch einzigartig ist...

Das geht nämlich allen anderen Kriegsreportagen ab!

In diesem Sinne, info-junkie: Genau das, was Du schreibst, empfinde ich auch beim allabendlichen Lesen der Berichte!

Vielen Dank nochmals an den/die ÜbersetzerIn für die großartige Arbeit, die Du Dir machst!

Es lesen hoffentlich 10000de

Liebe Grüße
Katzeklo

@ Info-Junkie und Katzeklo

--- 01.04.2003 - 11:41

Ich danke euch von Herzen. Ich habe gerade keine Zeit noch mehr zu sagen, aber ich komme später nochmal wieder, weil ich gerne dazu noch was sagen möchte. Seid in jedem Fall lieb umarmt.

Euren Dank werde ich an Robdinz weiterleiten. Ich denke, es ist nur recht, so. Ich übertrage zwar das Ganze, aber er und die Leute dort machen es möglich!

Super

Momo 01.04.2003 - 16:52
Auch wenn der schönste mann natürlich richard Gere heisst vielenn, vielen lieben Dank für diesen Bericht

pathos en vogue

ohje 01.04.2003 - 17:00
Marge Simpson schreibt für die Bildzeitung..

@katzeklo, @--

info-junkie 02.04.2003 - 00:09
Ich konnt leider nur 30 von den PrintSpecial ausdrucken und auf der Montagsdemo verteilen, aber die #42 kommt auf jeden fall mit in die nächste Ausgabe.

@katzeklo: jep, genau das was ich meine. Es ist schon ziemlich entäuschend was in dem Medien nur rüberkommt, wie wenig Zeit dem Krieg "gelassen" wird, immer schnell schnell die Infos und super aktuell am besten.

@-- Danke, das wäre nett. Hoffentlich kann robdinz und sein Kontakt nach dem Krieg ein paar Geheimnisse lüften - ich bin auch sehr gespannt auf das Video/Audio. Auf jedenfall müssen die beiden Mitbekommen wieviel Sie alleine bewegt haben, und das alle mühen und Ängste die sie auf sich genommen haben nicht umsonst sind.

Hmmm... danke! :-)