In Kontakt mit Bagdad - Update 37

--- 29.03.2003 01:16 Themen: 3. Golfkrieg Militarismus
Seit 24 Stunden ununterbrochenes Bombardement über ganz Bagdad. Die Stadt und die Menschen in ihr scheinen eine wahre Apokalypse erlebt zu haben. Ein unabhängiger Freier, der sich nach al-Nasr begab, wo erneut ein Marktplatz getroffen wurde, beschreibt das, was er gesehen hat, und was mit ihm geschehen ist.
In Kontakt mit Bagdad - Update 37

Stand: Friday March 28, 2003 at 10:31 PM

 http://italy.indymedia.org/news/2003/03/235514.php

Es habe mich gut gefühlt, heute Abend.

Die Stimme, die ich gerade nach Stundenlangen Versuchen, geplatzten Dates, Leerzeichen und Verbindungsunterbrechungen erreichen konnte dringt nur sehr schwach und fern zu mir durch.

Im Hintergrund hört man zwei Männer, die sehr schnell in Arabischer Sprache sprechen.

Der Mensch, mit dem ich spreche, ist ein Mann, der entfernt italienischer Abstammung ist und sich seit 5 Wochen in Bagdad befindet. Einer der "unabhängigsten" von ihnen allen. Er ist mit einer Digitalkamera und einem kleinen aber technisch hochwertigen Aufnahmegerät in der Stadt. Seine Idee ist, soviel Material wie möglich aufzunehmen und soviel Audio wie möglich zu sammeln um dann das Ganze auf sehr ausgefallene Weise zu verarbeiten. Eine Tonaufnahme von mehr als einer Stunde Geräusche, Stimmen, Bomben, Sirenen, die nicht von Bildern begleitet werden sollen. Die Geräusche des Krieges, in ihrer ganzen ureigenen, tragischen Breite. Darüber, wie er die Bilder verwenden wird, und das Gedrehte ist schon sehr viel, hat er noch nicht nachgedacht, aber er fährt seit dem ersten Tag des Krieges damit fort, zu filmen.

Er beichtet mir, dass er bis zur letzten Minute, bis zur ersten Luftalarm-Sirene sicher war, dass der Krieg nie gekommen wäre. Es ist unmöglich, dachte er, dass jemand auch nur darüber nachdenken könnte, eine Stadt wie Bagdad, mit ihren 5.000.000 Einwohnern, auch nur einmal zu bombardieren. An so etwas denken, sagt er mir, ist so als würde man sich vorstellen, eine Bombe auf ein voll besetztes Stadion oder in ein Kino voller Leute zu werfen. Ein Gemetzel. Unmöglich, dass jemand auch nur an so was denken könnte. Es wäre ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ein Massenmord, ein Blutbad.

Was ich heute sah, ist schlimmer als jede Fantasie, als jede erdenkliche Vorstellung.

Seit 24 Stunden regnen Bomben und Raketen über jeden Stadtbereich herab, willkürliche Zerschmetterer, die immer weiter Hunderte Verletzte, Amputierte und Opfer verursachen.

Inzwischen ist es unmöglich, die Zählung der Opfer fortzusetzen, die bis gestern noch einen Sinn hatte. Mit den Besuchen in den Krankenhäusern um eine Vorstellung der Verletzten zu bekommen, mit den morgendlichen Pressekonferenzen, die denen sich die irakischen Behörden als erstaunlich vorsichtig erwiesen und denen niemand mehr glaubte.

Der Mensch mit dem ich Rede lebt in einem irakischen Haus, in dem der Hausherr kurdischer Herkunft und mit einer Ägypterin verheiratet ist. Er hat nie Probleme wegen seiner ethnischen Zugehörigkeit gehabt. Er ist Chemiker, und während der vielen Jahre des von den Amerikanern aufgezwungenen Embargo war das staatliche Labor an dem er arbeitete "sein" Labor geworden. Wo er die Medikamente ausländischer Pharmaunternehmen klonte, (sozusagen kopierte) die immer noch wegen des Embargo nicht das Land erreichen konnten. Diese seine Spezialisierung war ungemein kostbar geworden, so sehr, dass er es nicht schaffte, mit seiner "Produktion" der Anfrage aus den Krankenhäusern nachzukommen.

Der heutige Tag ist ein apokalyptischer Tag gewesen (aber es gibt keine Adjektive mehr, um das, was geschieht, zu beschreiben, und damit wiederzugeben): der Massaker am Markt von Al-Nasr, im Norden der Hauptstadt, ist das gewesen, was man ein Gemetzel nennen könnte. Mindestens 65 die Opfer, nicht weniger als 100 die Verletzten. Das kleine Volksviertel der sich gerade einmal über vier- bis fünfhundert Meter entlang der großen Allee von Al-Nasr erstreckte ist von einer riesigen Bombe getroffen worden, die ein mindestens 5 bis 7 Meter tiefes und ungefähr (nach Augenmaß) hundert Meter breites Loch verursacht. Nichts ist stehen geblieben. Die ganze Stadt hat den Knall gehört, der wie ein Schweigen, das mindestens eine, vielleicht zwei Minuten dauerte produziert hat.

Die Stimme kommt immer gestörter, langsamer und angestrengter bei mir an. Er ist sofort nach Hause zurückgegangen, er hatte keine Lust mehr, unterwegs zu sein. Er hat mit seinen Vermietern Huhn und gekochtes Gemüse zu Abend gegessen, und es vorgezogen, dort zu bleiben. Heute Abend, heute Nacht, keine Kamera, kein Aufnahmegerät. Eine Domino-Partie und ein Paar Gläser Apfelsaft, begleitet von kleinen Schlücken selbstgebrannten Schnapses.

Ich habe nur noch Lust zu schlafen, keine Geräusche mehr zu hören, kein Blut mehr an allen Ecken zu sehen.

Ich kann Dir nicht sagen, ob es Angst ist, die ich heute gespürt habe, vielleicht ist es viel mehr als das, vielleicht ist es etwas das nicht einmal ich imstande bin, zu verstehen, mir zu erklären.

,Als ich entlang der Al-Nasr Allee lief, um gucken zu gehen, was geschehen war, ist heute auch mir das passiert, was ich viele Iraqis schon tun sah: schnell gehen, mit zwischen den Schultern gesenktem Kopf , die Hände bewegen, als gestikuliere man ins Leere, laut reden, fluchen, ich weiß nicht was schreien, und fühlen, wie man immer schneller geht, immer schneller, immer schneller, noch mal schneller. Mit dem Atem, der dir im Hals ausgeht, dem Herzen auf 380, der Beinmuskulatur, die so verhärtet ist, dass sie schmerzt.

Ich bin plötzlich gegen eine Mauer aus Menschen gelandet, die schrieen, fluchten, sich förmlich die Haare aus dem Kopf rissen, die Kleidung mit ihren eigenen Händen zerrissen, sich zu Boden warfen und anfingen, sich auf den Steinen, auf dem zerborstenen Asphalt, in den Pfützen voller Jauche zu wälzen.

Ich war, ohne es nicht einmal gemerkt zu haben, in al-Nasr angekommen, zehn Meter vom Krater der Bombe. Ich bewegte mich wie sie, ich regte mich auf wie sie, ich schrie. Ich habe so sehr am Kragen des Hemdes gezogen, das ich an hatte, dass ich gehört habe, wie drei oder vier Knöpfe springen.

Ein Krankenwagen ist mit einem sehr lauten, ohrenbetäubenden Martinshorn vorbeigefahren, der den Trance-Zustand unterbrochen hat, in dem ich mich befand. Ich habe mich hingesetzt, erschöpft, am Ende meiner Kräfte. Ich dachte, mir würde schlecht werden. Vielmehr, war mir vielleicht wirklich schlecht. Ich habe den Grund des Kraters gesehen. Aber ich habe nicht nach oben geschaut, ich habe nicht sehen wollen, was dort herum lag. Ich habe eine Kollegin von Associated Press, die ich vom sehen kenne, gesehen, wie sie ins Auto stieg. Ich habe sie gebeten, mich mitzunehmen. Sie ist nett gewesen und hat mich bis zu zwei Straßen von dem Haus in dem ich lebe entfernt gebracht. Sie telefonierte über Satellitentelefon, aber ich erinnere mich an keinem einzigen Wort von dem, was sie gesagt hat.

Ich bin ins Haus gegangen und habe mich ins Bett gelegt.
Nach einer Stunde hat Samina, die Frau des Hausherrn, an der Tür geklopft, und mir Bescheid gesagt, dass das Essen fertig ist. Ich habe mich heute Abend wohl gefühlt, mit ihnen. Ich sah ihnen zu, wie sie Aßen, und, es wird Dir komisch erscheinen, hat er mir gesagt, - ich fühlte, dass ich sie liebte. Unendlich, vielleicht sogar unvernünftig. Aber ich hatte sie wirklich lieb. So lieb, dass es mir heute Abend wahnsinnig gut ging.
Jetzt bin ich nur noch sehr müde.

Bis Morgen

Und dass die Nacht leicht sein möge.

r.
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Ergänzungen

''bunker buster'' Gbu-37

--- 29.03.2003 - 01:34

CNN hat mitgeteilt, dass heute ein B-52 Flieger eine Gbu-37 Bombe über Bagdad losgelassen hat. Ich mache auf eine Fotografische Dokumentation aufmerksam, in der die zerstörerische Kraft und die Auswirkungen von derartigen Bomben gut sichtbar werden wobei es da um eine Bombe von 1991 geht). Auch Bilder von Bagdad und Basra im Alltag Ende Januar 2003:  http://www.arbeiterfotografie.com/galerie/reportage/index.html --- Reise in den Irak, 28.1. bis 4.2.2003 Eine Reportage von Uwe Menger (1+2)

Hallo Bagdad...

29.03.2003 - 06:14
wir grüßen Bagdad, mögen unsere Gedanken bei Euch Sein, auch am 1. Mai. Berliner Human Shield, Widerstand gegen den imperialistischen Krieg am 1. Mai:  http://www.erstermai.tk

Stop Zynismus!!!!!

29.03.2003 - 07:54
am 1. Mai gegen den imperialistischen Krieg.
 http://erstermai03.tk

Recht

29.03.2003 - 08:51
"bunker buster", clusterbomben, monsterbomben...und weil die irakischen zivilisten nicht genug gejubelt, sollen sie jetzt aus den städten herausterrorisiert werden, damit die us-armee einrücken kann..."und willst du nicht mein bruder sein, dann schlag ich dir den schädel ein" ist jetzt wohl devise.
und dann reden sie von völkerrechtsverstößen des iraks

und ansonsten scheinen die us-regierungs-vertreter im tv ja an völligem realitätsverlust zu leiden. propaganda von mir aus, aber das muss man doch irgendwie plausibel und geschickt machen, das funktioniert doch nicht so, sich breitbeinig hinzustellen, angeberische lügengeschichten zu erzählen und videos von explodierenden häusern vorzuführen, während im tv die bilder der zerfetzten zivilisten laufen und die von den ratlosen us-soldaten und die von den toten.
der krieg mag 80 milliarden kosten oder mehr, aber was es kosten den wird, den angerichteten pr-schaden wieder gut zu machen, ist vollkommen unabsehbar. für mich ist nicht nur die regierung vollkommen inakzeptabel und faschistoide züge entwickelnd (wenn auch bei weitem nicht hitler oder sowas, genauso wie saddam eher stalin ist als hitler), sondern auch diese dümmlichen jubelpatrioten und kriegstreiber, die mich weniger an 33 als mehr an 1914 erinnern, diese beschissene fröhlichkeit, mit der man da in den gerechten angriffskrieg zieht, "lets roll", diese stumpfe selbstgerechtigkeit

aber wo ist die demokratische opposition im musterland der demokratie? und warum sagt der new yorker polizeipräsident zu den friedensdemonstrationen, daß der friedensprotest den terroristen hilft und den verkehr behindert, und warum sagt er nicht einfach offen, daß das protestieren nicht patriotisch ist

Ein etwas anderer Pressespiegel aus Kroatien

Den Kriegstreibern aufs Maul geschaut 29.03.2003 - 09:57

was ist

eigentlich 29.03.2003 - 13:07
aus dem japanischen Journalisten in Bagdad geworden?

Zwei Durchsagen

--- 29.03.2003 - 13:26

@ eigentlich: Ich kann Dir keine Antwort geben. Die Telefonverbindungen werden immer schwieriger und Robzin gibt nur das durch, was Menschen mit ihren Augen gesehen haben oder so verlässlich wie möglich in Erfahrung bringen konnten.

@ die 1.Mai-Kommittees:Ich find´s nicht gut, die von mir übersetzten Updates aus Bagdad für 1.Mai Werbung zu benutzen. Bei allem Respekt für alle, die sich gegen den Krieg zeigen oder engagieren, es ist nicht in Ordnung, das so zu drehen, dass der Krieg 1-Mai technisch funktionalisiert wird. Zumindest nicht unter der Berichterstattung aus Bagdad. Wenn, dann soll der erste Mai in sich selbst Gehalt finden, und diesen aus sich heraus angemessen umsetzen und vertreten (was es da für Schwächen und Widersprüche gibt ist leidlich bekannt), natürlich auch gegen den Krieg. Noch ist Zeit für die Mai-Kommittees, direkt (und am schönsten wäre es, in der Bevölkerung) und breit und überzeugend zu mobilisieren. Parolen und nur für Insider verständliche Reden und Flugis sind natürlich zu wenig. Und was meine Arbeit um diesen Informationsfluss aus Bagdad in deutscher Sprache zu erhalten betrifft, sind solche Parolen wie ... den Krieg sonstwohin tragen nur Schlüssel zur Kriminalisierung meiner und derer, die das alles möglich machen. Schreibt alles, was iht wollt, aber lasst diese Informationsseite Informationsseite sein. Tut mir leid, aber ich kann nicht anders. Dazu hat das, was der Erste Mai in Berlin vorgibt, sein zu wollen, vieeel zu wenig Substanz. So leid es mir tut. Ciao. Macht es mir nicht noch schwerer, als es mir schon schwer gemacht wird.

was ist dran an den meldungen, gegen syrien

marleen 29.03.2003 - 15:01
vorgestern ard:
syriens obergeistlicher (sorry, weiss den begriff nicht) ruft zu selbstmordattentaten auf. ich habe nirgends diese meldung sonst gesehen.

heute:
meldungen von selbstmordattentat im irak (aus us-quelle, woher sonst?)

heute:
runsfeld beschuldigt syrien, waffen an den irak geliefert zu haben, mit denen jetzt us-soldaten getötet werden. syrien benennt dies eine lüge.
(wir erinnern uns, vor ein paar tagen hat die usa russland verdächtigt, störsender geliefert zu haben. russland hat heftig dementiert und darauf hingewiesen, dass die usa waffen geliefert haben.


wir wissen alle, dass die usa syrien als nächstes land angreifen will. sie hat schon so viel gelogen, die liste der kriegslügen amerikas ist lang und schmutzig.

was ist, wenn diese lügen in unseren medien unwiderrufen gesendet werden?
(z.b. als propagandameldung enttarnte meldung der irak habe gefangene hingerichtet. gestern gross bei bild. wird es jemals einen rückruf geben?)

was war das für eine meldung mit dem aufruf zu selbstmordattentaten von syrien ? warum kommt sie in tv-nachrichten, aber nicht bei spiegel-online, oder anderen zeitungen? oder übersehe ich da was?

wer kann die meldungen der usa, was in irak passiert kontrollieren? gibt es noch irakisches fernsehen?