Zwangsarbeit bei FAG Kugelfischer
1987 veröffentlichte ein ehemaliger italienischer Militärinternierter, Leonardo Calossi, unter dem Titel "Anmerkungen zu einer Internierung in Deutschland, 1943 - 1945" ("Noterelle di un internato in Germania 1943 - 1945") seine memoirenhaften Erinnerungen über seine Zeit in deutscher Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit. Anschaulich und authentisch schildert er die Geschichte seiner Internierung: Die Gefangennahme als italienischer Soldat im September 1943 durch die deutsche Wehrmacht in Albanien, der Transport im Viehwaggon über Polen nach Niederschlesien, die brutalen Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen im Arbeitslager Antonienwald und im FAG Kugelfischer Verlagerungswerk Landeshut, die Demontage der FAG-Fabrik vor der heranrückenden Roten Armee und die Evakuierung nach Schweinfurt im Februar 1945, die Geschehnisse der letzten Kriegswochen bei Kugelfischer in Schweinfurt, die Befreiung durch amerikanische Truppen und schließlich die Rückreise in die Heimat.
Erinnerungen eines italienischen Militärinternierten
Schweinfurt. 1987 veröffentlichte ein ehemaliger italienischer Militärinternierter, Leonardo Calossi, unter dem Titel "Anmerkungen zu einer Internierung in Deutschland, 1943 - 1945" ("Noterelle di un internato in Germania 1943 - 1945") seine memoirenhaften Erinnerungen über seine Zeit in deutscher Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit. Anschaulich und authentisch schildert er die Geschichte seiner Internierung: Die Gefangennahme als italienischer Soldat im September 1943 durch die deutsche Wehrmacht in Albanien, der Transport im Viehwaggon über Polen nach Niederschlesien, die brutalen Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen im Arbeitslager Antonienwald und im FAG Kugelfischer Verlagerungswerk Landeshut, die Demontage der FAG-Fabrik vor der heranrückenden Roten Armee und die Evakuierung nach Schweinfurt im Februar 1945, die Geschehnisse der letzten Kriegswochen bei Kugelfischer in Schweinfurt, die Befreiung durch amerikanische Truppen und schließlich die Rückreise in die Heimat.
Leonardo Calossi Calossis Erinnerungen stellen das bisher ergiebigste Dokument über Zwangsarbeit für die Schweinfurter Metallindustrie dar und beleuchten exemplarisch das Schicksal der italienischen Militärinternierten in Deutschland - ein leider nicht sehr bekanntes Kapitel der Naziherrschaft.
Mit freundlicher Genehmigung des 89-jährigen, in Florenz lebenden Autors wurden die Erinnerungen ins Deutsche übersetzt und um einem kritischen Apparat ergänzt (u.a.: Interview mit dem Autor; Aufsätze zum Schicksal der italienischen Militärinternierten, zur Geschichte des FAG-Verlagerungswerkes in Landeshut Niederschlesien, zu den bei FAG Zwangsarbeit verrichtenden politischen Häftlinge aus einem Nebenlager des KZ Groß-Rosen).
Das Buch erscheint in diesen Tagen in der Herausgeberschaft des DGB-Bildungswerks, der Initiative ?Gegen das Vergessen - Zwangsarbeit in Schweinfurt? und der Kulturwerkstatt Disharmonie. Am 13. März wird es in Anwesenheit des betagten Autors in der Rathausdiele Schweinfurt der Öffentlichkeit vorgestellt.
Buchpräsentation
Leonardo Calossi: Anmerkungen zu einer Internierung in Deutschland, 1943 - 1945
Donnerstag, 13. März, 18.30 Uhr
Rathausdiele Schweinfurt
Gudrun Grieser, Oberbürgermeisterin in Schweinfurt, und Martin Lorenzini, italienischer Konsul in Nürnberg, sprechen Grußworte.
Hans Driesel liest aus den Erinnerungen von Leonardo Calossi.
Kurt Petzold gibt Informationen zur Geschichte und zum Buch.
Leonardo Calossi signiert die deutsche Ausgabe seiner "Anmerkungen zu einer Internierung in Deutschland, 1943 - 1945".
Das Schweinfurter Streichquartett umrahmt die Veranstaltung mit italienischer Musik.
Auszüge aus Leonardo Calossi "Anmerkungen zu einer Internierung in Deutschland, 1943 -1945"
Mit jedem Tag der vergeht, fühle ich mich entkräfteter und am Hosengürtel wird mir klar, wie sehr ich schon abgemagert bin. Die Verteilung der abendlichen Ration ist immer ein Anlass für Diskussionen und Streitigkeiten. Glücklicherweise beginnt und endet alles im Inneren der Baracke, aber es wird notwendig, etwas zu unternehmen, um die unangenehmen Streitereien abzustellen. Zur Abhilfe beschließen wir, alle Essnäpfe auf den Tisch zu stellen, allen die gleiche Portion Suppe einzugießen und dann mit einem Löffel zu sondieren, ob jede Suppe gleich dick ist. Für die Verteilung des Brots hat ein Soldat eine primitive Waage gebaut, die es ermöglicht, jedem ein Stück Brot desselben Gewichts zuzuteilen.
Seit einigen Tagen hat für mich und einige andere die Nachtarbeit begonnen: wir brechen um 16.30 Uhr vom Lager auf, nachdem wir unsere Ration verzehrt haben. Bis zum folgenden Mittag erhalten wir keinen Bissen mehr. Man sagt mir, dass die Nachtschicht 14 Tage dauern wird: ich bin verzweifelt und lebe unter dem Albdruck, nicht in der Lage zu sein, diese Qual durchzustehen. Ich bekomme starke Angstgefühle und voller Verzweiflung beginne ich, über Flucht nachzudenken, verwerfe die Idee aber sofort, weil auf den Straßen hoher Schnee liegt und überall Polizisten Streife gehen, vor allem jedoch, weil mir die Kraft zum Marschieren fehlt. Mein Freund, der Sanitäter, weiß, in welchem Zustand ich mich befinde, und rät mir, meine Uhr gegen Brot einzutauschen. Das Brot der deutschen Arbeiter ist viel nahrhafter als unseres. Tatsächlich tausche ich am folgenden Morgen mit einem deutschen Arbeiter die Uhr gegen vier Kilogramm Brot. Ich nehme mir vor, jeden Tag nur ein Stück davon zu essen, aber der Hunger besiegt jeden guten Vorsatz. Am Schichtende ist bereits ein Kilo vom guten Brot verzehrt. Die Nachtarbeit ist beendet. Tagsüber laden wir Material aus den Güterwaggons. Die Fabrik ist über einen Gleisanschluss mit dem Bahnhof verbunden, und die Waggons fahren bis ins Innere der Fabrik. Es werden Drehbänke unterschiedlicher Größe ausgeladen, einige sind riesig.
An Heiligabend tobt ein schrecklicher Schneesturm. Wir setzen die gewohnt intensive Arbeit fort. Wegen der sibirischen Kälte steigen wir abwechselnd auf den Waggon, um den Flaschenzug zu bedienen, mit dem eine große Drehbank auf den Boden heruntergehoben werden soll. Die Maschine wird danach auf Rollen gestellt und in das Innere der Fabrik geschoben. Während wir entladen, hören wir plötzlich einen herzzerreißenden Schrei und vor unseren Augen spielt sich eine schauderhafte Szene ab: der Soldat Giacomo Cani ist von der Drehbank buchstäblich am Torpfosten zerschmettert worden. Einige Eimer Wasser beseitigen die Zeichen der Tragödie, und die Arbeit geht weiter, so als ob nichts passiert sei.
***
Es ist Weihnachten, aber für uns schon seit Monaten Fastenzeit. Beim Arbeitskommando wird von einem deutschen Priester eine Heilige Messe zelebriert, ansonsten erinnert nichts an das große Fest.
Die Deutschen haben große Eile, sie wollen rasch mit der Produktion beginnen, deshalb müssen wir auch am zweiten Weihnachtstag normal arbeiten.
Einige Kameraden haben das Arbeitskommando bereits aus gesundheitlichen Gründen verlassen müssen. Ich habe schreckliche Angst zu erkranken und meine Tage in der Hölle von Görlitz beenden zu müssen. Wenn die Krankheit schlimmer ist als ein vorübergehendes Fieber, wird der Erkrankte aus dem Lager entfernt, und man erfährt nichts mehr von ihm.
Die Felder entlang unseres Marschweges zwischen Arbeitskommando und Fabrik werden mit Kartoffeln und Roggen bepflanzt. In dieser Gegend, und meines Wissens auch in anderen Regionen Deutschlands, werden die Kartoffeln im Erntefeld selbst aufbewahrt. An einer bestimmten Stelle werden Kartoffelhaufen von einigen Metern Länge, einem Meter Höhe und etwa zwei Metern Breite gebildet. Die Kartoffeln werden sehr sorgfältig mit Roggenstroh und einer dicken Schicht Erde bedeckt. Wir haben diese primitiven Aufbewahrungsorte, zwei davon direkt neben der Straße, sehr wohl wahrgenommen. Der dauernde Hunger löscht jedes überlegte Nachdenken aus, die Gedanken kreisen zwanghaft nur noch um die Frage des Überlebens. Da wir Italiener, wenn es ums Improvisieren geht, höchst geschickt sind, reift schnell der Plan, Kartoffeln aus den Kartoffelmieten zu entnehmen. Die Straße, die vom Lager zur Fabrik führt, macht in der Nähe der Ortschaft eine weite hufeisenförmige Kurve. Es ist 5 Uhr morgens und sehr dunkel, als die Kolonne am Anfang der Kurve ankommt. Drei Soldaten treten zwei Schritte aus ihrer Reihe raus, verstecken sich hinter den Stämmen der dicken Linden, lassen die ganze Kolonne vorbeimarschieren, rennen zu den Kartoffelmieten, raffen einige Kartoffeln zusammen, verstecken sie in ihrer Hose, die an den Knien durch die Wickelgamaschen zugeschnürt ist, und nehmen am Ende der Kurve nacheinander, immer verdeckt durch die Stämme der Linden, ihren Platz in der Reihe wieder ein und marschieren weiter ...
Einige Tage danach beschließe ich mit einigen Freunden zusammen, die immer mit mir vom Lager zur Fabrik marschieren, das Abenteuer mit den Kartoffeln zu wagen. Die Wahl fällt auf mich. Ich nehme, genau so, wie es die Soldaten vorgemacht haben, einige Kilo Kartoffeln an mich und teile sie mit den Kameraden. Noch am selben Abend verzehren wir sie, nachdem wir sie auf ganz einfache Weise geröstet haben: wir schneiden sie ungeschält in dünne Scheiben, feuchten sie mit Speichel leicht an, kleben sie auf die glühenden Wände des Ofens und nach einigen Minuten sind sie knusprig gar.
An einem der folgenden Morgen herrscht Schneegestöber und das Lager wird von einem kräftigen Wind durchpeitscht. Die Abzähloperationen vor dem Abmarsch zur Arbeit werden ziemlich schnell durchgezogen. Der Schnee klebt auf dem Körper und schränkt die Sicht stark ein. Zum Schutz vor der Kälte habe ich aus Stoffstreifen eine Mütze mit Ohrenklappen genäht, weil mein Berghut die Ohren nicht bedeckt. Wegen der strengen Kälte ist es schon zu mehreren Fällen von Ohrenentzündungen gekommen. An diesem Morgen ist der Marsch so anstrengend wie nie. In der Fabrik angekommen, wird die Kolonne angehalten und alle werden durchsucht. Bei zwei Soldaten werden Kartoffeln gefunden, die sie am Körper versteckt haben. Beide Soldaten werden auf der Stelle abgeführt. Nie mehr sollte ich etwas von ihnen hören. ...
* * *
Es ist Neujahr 1944. Im Arbeitskommando geht es wie immer an Feiertagen sehr lebhaft zu. Wir verrichten unsere persönlichen Reinigungsarbeiten. Gegen 10 Uhr müssen wir uns in Reihen aufstellen und anschließend in kleinen Gruppen das Baracken-Lazarett betreten. Wir werden nackt gewogen, bei mir zeigt die Waage 58 Kilogramm an. Mein Normalgewicht liegt dagegen bei circa 70 Kilogramm.
In der ehemaligen Spinnerei hat die Kugellagerproduktion begonnen, und die meisten von uns werden zur Hilfsarbeit eingeteilt. Ich bin der Dreherei zugeteilt worden. Hier wird die Nut in die Lager gedreht, in der die Kugeln oder Rollen laufen. Die Abteilung erstreckt sich über einen weiten Raum mit vier Reihen von jeweils acht Drehbänken. Sie ist drei "Meistern" unterstellt, die die Produktion leiten und kontrollieren: einer, ein wahres Exemplar der reinsten "arischen Rasse", schlank, blond, blickt immer finster drein. Ein anderer, ein "Kleiderschrank", schreit oft, aber hat ein gutartiges Gemüt. Der dritte sieht überhaupt nicht deutsch aus, ein kleiner Typ mit schwarzen Haaren, aber er ist ein guter Kerl. An jeder Drehbank arbeitet ein italienischer Soldat oder ein russischer Gefangener. Meine Maschine ist die zweite der vierten Reihe. In meinem Leben hatte ich noch nie eine mechanische Werkstatt betreten und so habe ich nicht die geringste Ahnung von Maschinen. Der "Blonde" stellt die Drehmaschine ein und erklärt mir, dass ich genau aufpassen soll, was er macht: er zeigt mir wie das Lager in die Spindel eingespannt und wie das bereits für die Spezialarbeit eingestellte Werkzeug befestigt wird. Danach setzt er per Hand die Kurbel in Bewegung und dreht die Nut in das erste Lager, ein Haltering von fünf Zentimetern Durchmesser, der mit einem eigens dazu bestimmten Apparat und einem Kaliber kontrolliert wird. Die Prüfinstrumente befinden sich auf einem Bord an der Seite der Drehmaschine. Der "Meister" bearbeitet ungefähr zehn Teile, bis er die notwendige Genauigkeit erzielt. Mit einem Bleistift markiert er den Punkt des Zylinders, bis zu dem die Kurbel gedreht werden darf. Er gibt mir zu verstehen, dass das Lager, wenn dieser Punkt nicht erreicht würde, nachbearbeitet werden müsste. Wenn dieser Punkt dagegen überschritten würde, wäre das Lager zu weit gedreht und müsste zum Ausschussmaterial geworfen werden. Er fordert mich schließlich auf nachzumachen, was er mir kurz vorher gezeigt hat. Nach anfänglicher Unsicherheit werden meine Bewegungen immer geübter und nach kurzer Zeit bin ich zum Metallmechaniker angelernt.
Ich habe die neue Arbeit fast gerne angenommen, unter anderem deswegen, weil ich mich in einem geschlossenen, beheizten Raum aufhalten kann. Aber diese Arbeit ist auch sehr ermüdend, weil ich gezwungen bin zwölf Stunden gebeugt über der Drehbank zu stehen, und weil ich viel Kraft aufbringen muss, um sie mit dem Arm in Bewegung zu setzen. Die vorgeschriebene Mindeststückzahl ist verglichen mit unseren Fähigkeiten sehr hoch und zwingt uns zu pausenloser, konzentrierter Arbeit. Nacharbeit oder Ausschuss könnten als Sabotageakt betrachtet werden, und der Verantwortliche, ob Internierter oder Gefangener, könnte dem Status des politischen Gefangenen unterworfen und in ein Vernichtungslager geschickt werden. Leider haben sich später solche Fälle zugetragen. In den meisten Fällen handelte es sich dabei um bedauernswerte Soldaten, Analphabeten oder fast Analphabeten, gänzlich ungeeignet für spezialisierte Arbeiten.
Schweinfurt. 1987 veröffentlichte ein ehemaliger italienischer Militärinternierter, Leonardo Calossi, unter dem Titel "Anmerkungen zu einer Internierung in Deutschland, 1943 - 1945" ("Noterelle di un internato in Germania 1943 - 1945") seine memoirenhaften Erinnerungen über seine Zeit in deutscher Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit. Anschaulich und authentisch schildert er die Geschichte seiner Internierung: Die Gefangennahme als italienischer Soldat im September 1943 durch die deutsche Wehrmacht in Albanien, der Transport im Viehwaggon über Polen nach Niederschlesien, die brutalen Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen im Arbeitslager Antonienwald und im FAG Kugelfischer Verlagerungswerk Landeshut, die Demontage der FAG-Fabrik vor der heranrückenden Roten Armee und die Evakuierung nach Schweinfurt im Februar 1945, die Geschehnisse der letzten Kriegswochen bei Kugelfischer in Schweinfurt, die Befreiung durch amerikanische Truppen und schließlich die Rückreise in die Heimat.
Leonardo Calossi Calossis Erinnerungen stellen das bisher ergiebigste Dokument über Zwangsarbeit für die Schweinfurter Metallindustrie dar und beleuchten exemplarisch das Schicksal der italienischen Militärinternierten in Deutschland - ein leider nicht sehr bekanntes Kapitel der Naziherrschaft.
Mit freundlicher Genehmigung des 89-jährigen, in Florenz lebenden Autors wurden die Erinnerungen ins Deutsche übersetzt und um einem kritischen Apparat ergänzt (u.a.: Interview mit dem Autor; Aufsätze zum Schicksal der italienischen Militärinternierten, zur Geschichte des FAG-Verlagerungswerkes in Landeshut Niederschlesien, zu den bei FAG Zwangsarbeit verrichtenden politischen Häftlinge aus einem Nebenlager des KZ Groß-Rosen).
Das Buch erscheint in diesen Tagen in der Herausgeberschaft des DGB-Bildungswerks, der Initiative ?Gegen das Vergessen - Zwangsarbeit in Schweinfurt? und der Kulturwerkstatt Disharmonie. Am 13. März wird es in Anwesenheit des betagten Autors in der Rathausdiele Schweinfurt der Öffentlichkeit vorgestellt.
Buchpräsentation
Leonardo Calossi: Anmerkungen zu einer Internierung in Deutschland, 1943 - 1945
Donnerstag, 13. März, 18.30 Uhr
Rathausdiele Schweinfurt
Gudrun Grieser, Oberbürgermeisterin in Schweinfurt, und Martin Lorenzini, italienischer Konsul in Nürnberg, sprechen Grußworte.
Hans Driesel liest aus den Erinnerungen von Leonardo Calossi.
Kurt Petzold gibt Informationen zur Geschichte und zum Buch.
Leonardo Calossi signiert die deutsche Ausgabe seiner "Anmerkungen zu einer Internierung in Deutschland, 1943 - 1945".
Das Schweinfurter Streichquartett umrahmt die Veranstaltung mit italienischer Musik.
Auszüge aus Leonardo Calossi "Anmerkungen zu einer Internierung in Deutschland, 1943 -1945"
Mit jedem Tag der vergeht, fühle ich mich entkräfteter und am Hosengürtel wird mir klar, wie sehr ich schon abgemagert bin. Die Verteilung der abendlichen Ration ist immer ein Anlass für Diskussionen und Streitigkeiten. Glücklicherweise beginnt und endet alles im Inneren der Baracke, aber es wird notwendig, etwas zu unternehmen, um die unangenehmen Streitereien abzustellen. Zur Abhilfe beschließen wir, alle Essnäpfe auf den Tisch zu stellen, allen die gleiche Portion Suppe einzugießen und dann mit einem Löffel zu sondieren, ob jede Suppe gleich dick ist. Für die Verteilung des Brots hat ein Soldat eine primitive Waage gebaut, die es ermöglicht, jedem ein Stück Brot desselben Gewichts zuzuteilen.
Seit einigen Tagen hat für mich und einige andere die Nachtarbeit begonnen: wir brechen um 16.30 Uhr vom Lager auf, nachdem wir unsere Ration verzehrt haben. Bis zum folgenden Mittag erhalten wir keinen Bissen mehr. Man sagt mir, dass die Nachtschicht 14 Tage dauern wird: ich bin verzweifelt und lebe unter dem Albdruck, nicht in der Lage zu sein, diese Qual durchzustehen. Ich bekomme starke Angstgefühle und voller Verzweiflung beginne ich, über Flucht nachzudenken, verwerfe die Idee aber sofort, weil auf den Straßen hoher Schnee liegt und überall Polizisten Streife gehen, vor allem jedoch, weil mir die Kraft zum Marschieren fehlt. Mein Freund, der Sanitäter, weiß, in welchem Zustand ich mich befinde, und rät mir, meine Uhr gegen Brot einzutauschen. Das Brot der deutschen Arbeiter ist viel nahrhafter als unseres. Tatsächlich tausche ich am folgenden Morgen mit einem deutschen Arbeiter die Uhr gegen vier Kilogramm Brot. Ich nehme mir vor, jeden Tag nur ein Stück davon zu essen, aber der Hunger besiegt jeden guten Vorsatz. Am Schichtende ist bereits ein Kilo vom guten Brot verzehrt. Die Nachtarbeit ist beendet. Tagsüber laden wir Material aus den Güterwaggons. Die Fabrik ist über einen Gleisanschluss mit dem Bahnhof verbunden, und die Waggons fahren bis ins Innere der Fabrik. Es werden Drehbänke unterschiedlicher Größe ausgeladen, einige sind riesig.
An Heiligabend tobt ein schrecklicher Schneesturm. Wir setzen die gewohnt intensive Arbeit fort. Wegen der sibirischen Kälte steigen wir abwechselnd auf den Waggon, um den Flaschenzug zu bedienen, mit dem eine große Drehbank auf den Boden heruntergehoben werden soll. Die Maschine wird danach auf Rollen gestellt und in das Innere der Fabrik geschoben. Während wir entladen, hören wir plötzlich einen herzzerreißenden Schrei und vor unseren Augen spielt sich eine schauderhafte Szene ab: der Soldat Giacomo Cani ist von der Drehbank buchstäblich am Torpfosten zerschmettert worden. Einige Eimer Wasser beseitigen die Zeichen der Tragödie, und die Arbeit geht weiter, so als ob nichts passiert sei.
***
Es ist Weihnachten, aber für uns schon seit Monaten Fastenzeit. Beim Arbeitskommando wird von einem deutschen Priester eine Heilige Messe zelebriert, ansonsten erinnert nichts an das große Fest.
Die Deutschen haben große Eile, sie wollen rasch mit der Produktion beginnen, deshalb müssen wir auch am zweiten Weihnachtstag normal arbeiten.
Einige Kameraden haben das Arbeitskommando bereits aus gesundheitlichen Gründen verlassen müssen. Ich habe schreckliche Angst zu erkranken und meine Tage in der Hölle von Görlitz beenden zu müssen. Wenn die Krankheit schlimmer ist als ein vorübergehendes Fieber, wird der Erkrankte aus dem Lager entfernt, und man erfährt nichts mehr von ihm.
Die Felder entlang unseres Marschweges zwischen Arbeitskommando und Fabrik werden mit Kartoffeln und Roggen bepflanzt. In dieser Gegend, und meines Wissens auch in anderen Regionen Deutschlands, werden die Kartoffeln im Erntefeld selbst aufbewahrt. An einer bestimmten Stelle werden Kartoffelhaufen von einigen Metern Länge, einem Meter Höhe und etwa zwei Metern Breite gebildet. Die Kartoffeln werden sehr sorgfältig mit Roggenstroh und einer dicken Schicht Erde bedeckt. Wir haben diese primitiven Aufbewahrungsorte, zwei davon direkt neben der Straße, sehr wohl wahrgenommen. Der dauernde Hunger löscht jedes überlegte Nachdenken aus, die Gedanken kreisen zwanghaft nur noch um die Frage des Überlebens. Da wir Italiener, wenn es ums Improvisieren geht, höchst geschickt sind, reift schnell der Plan, Kartoffeln aus den Kartoffelmieten zu entnehmen. Die Straße, die vom Lager zur Fabrik führt, macht in der Nähe der Ortschaft eine weite hufeisenförmige Kurve. Es ist 5 Uhr morgens und sehr dunkel, als die Kolonne am Anfang der Kurve ankommt. Drei Soldaten treten zwei Schritte aus ihrer Reihe raus, verstecken sich hinter den Stämmen der dicken Linden, lassen die ganze Kolonne vorbeimarschieren, rennen zu den Kartoffelmieten, raffen einige Kartoffeln zusammen, verstecken sie in ihrer Hose, die an den Knien durch die Wickelgamaschen zugeschnürt ist, und nehmen am Ende der Kurve nacheinander, immer verdeckt durch die Stämme der Linden, ihren Platz in der Reihe wieder ein und marschieren weiter ...
Einige Tage danach beschließe ich mit einigen Freunden zusammen, die immer mit mir vom Lager zur Fabrik marschieren, das Abenteuer mit den Kartoffeln zu wagen. Die Wahl fällt auf mich. Ich nehme, genau so, wie es die Soldaten vorgemacht haben, einige Kilo Kartoffeln an mich und teile sie mit den Kameraden. Noch am selben Abend verzehren wir sie, nachdem wir sie auf ganz einfache Weise geröstet haben: wir schneiden sie ungeschält in dünne Scheiben, feuchten sie mit Speichel leicht an, kleben sie auf die glühenden Wände des Ofens und nach einigen Minuten sind sie knusprig gar.
An einem der folgenden Morgen herrscht Schneegestöber und das Lager wird von einem kräftigen Wind durchpeitscht. Die Abzähloperationen vor dem Abmarsch zur Arbeit werden ziemlich schnell durchgezogen. Der Schnee klebt auf dem Körper und schränkt die Sicht stark ein. Zum Schutz vor der Kälte habe ich aus Stoffstreifen eine Mütze mit Ohrenklappen genäht, weil mein Berghut die Ohren nicht bedeckt. Wegen der strengen Kälte ist es schon zu mehreren Fällen von Ohrenentzündungen gekommen. An diesem Morgen ist der Marsch so anstrengend wie nie. In der Fabrik angekommen, wird die Kolonne angehalten und alle werden durchsucht. Bei zwei Soldaten werden Kartoffeln gefunden, die sie am Körper versteckt haben. Beide Soldaten werden auf der Stelle abgeführt. Nie mehr sollte ich etwas von ihnen hören. ...
* * *
Es ist Neujahr 1944. Im Arbeitskommando geht es wie immer an Feiertagen sehr lebhaft zu. Wir verrichten unsere persönlichen Reinigungsarbeiten. Gegen 10 Uhr müssen wir uns in Reihen aufstellen und anschließend in kleinen Gruppen das Baracken-Lazarett betreten. Wir werden nackt gewogen, bei mir zeigt die Waage 58 Kilogramm an. Mein Normalgewicht liegt dagegen bei circa 70 Kilogramm.
In der ehemaligen Spinnerei hat die Kugellagerproduktion begonnen, und die meisten von uns werden zur Hilfsarbeit eingeteilt. Ich bin der Dreherei zugeteilt worden. Hier wird die Nut in die Lager gedreht, in der die Kugeln oder Rollen laufen. Die Abteilung erstreckt sich über einen weiten Raum mit vier Reihen von jeweils acht Drehbänken. Sie ist drei "Meistern" unterstellt, die die Produktion leiten und kontrollieren: einer, ein wahres Exemplar der reinsten "arischen Rasse", schlank, blond, blickt immer finster drein. Ein anderer, ein "Kleiderschrank", schreit oft, aber hat ein gutartiges Gemüt. Der dritte sieht überhaupt nicht deutsch aus, ein kleiner Typ mit schwarzen Haaren, aber er ist ein guter Kerl. An jeder Drehbank arbeitet ein italienischer Soldat oder ein russischer Gefangener. Meine Maschine ist die zweite der vierten Reihe. In meinem Leben hatte ich noch nie eine mechanische Werkstatt betreten und so habe ich nicht die geringste Ahnung von Maschinen. Der "Blonde" stellt die Drehmaschine ein und erklärt mir, dass ich genau aufpassen soll, was er macht: er zeigt mir wie das Lager in die Spindel eingespannt und wie das bereits für die Spezialarbeit eingestellte Werkzeug befestigt wird. Danach setzt er per Hand die Kurbel in Bewegung und dreht die Nut in das erste Lager, ein Haltering von fünf Zentimetern Durchmesser, der mit einem eigens dazu bestimmten Apparat und einem Kaliber kontrolliert wird. Die Prüfinstrumente befinden sich auf einem Bord an der Seite der Drehmaschine. Der "Meister" bearbeitet ungefähr zehn Teile, bis er die notwendige Genauigkeit erzielt. Mit einem Bleistift markiert er den Punkt des Zylinders, bis zu dem die Kurbel gedreht werden darf. Er gibt mir zu verstehen, dass das Lager, wenn dieser Punkt nicht erreicht würde, nachbearbeitet werden müsste. Wenn dieser Punkt dagegen überschritten würde, wäre das Lager zu weit gedreht und müsste zum Ausschussmaterial geworfen werden. Er fordert mich schließlich auf nachzumachen, was er mir kurz vorher gezeigt hat. Nach anfänglicher Unsicherheit werden meine Bewegungen immer geübter und nach kurzer Zeit bin ich zum Metallmechaniker angelernt.
Ich habe die neue Arbeit fast gerne angenommen, unter anderem deswegen, weil ich mich in einem geschlossenen, beheizten Raum aufhalten kann. Aber diese Arbeit ist auch sehr ermüdend, weil ich gezwungen bin zwölf Stunden gebeugt über der Drehbank zu stehen, und weil ich viel Kraft aufbringen muss, um sie mit dem Arm in Bewegung zu setzen. Die vorgeschriebene Mindeststückzahl ist verglichen mit unseren Fähigkeiten sehr hoch und zwingt uns zu pausenloser, konzentrierter Arbeit. Nacharbeit oder Ausschuss könnten als Sabotageakt betrachtet werden, und der Verantwortliche, ob Internierter oder Gefangener, könnte dem Status des politischen Gefangenen unterworfen und in ein Vernichtungslager geschickt werden. Leider haben sich später solche Fälle zugetragen. In den meisten Fällen handelte es sich dabei um bedauernswerte Soldaten, Analphabeten oder fast Analphabeten, gänzlich ungeeignet für spezialisierte Arbeiten.
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Ergänzungen