Zur Bedeutung des Weltsozialforums

Übersetzung G.Melle 23.01.2003 16:17 Themen: Globalisierung Soziale Kämpfe Weltweit
Interview mit dem Vorsitzenden der Landlosenbewegung in Brasilien
Zur Bedeutung des Weltsozialforums
Interview mit Joao Stédile, Portal Terra,
Das Interview wurde von Larissa Magrisso am 15.1.2003 in Porto Alegre geführt.

Kann das Weltsozialforum als Instrument dienen, um die Erfahrungen des MST (Movimento Senza Terra) und die ähnlicher Bewegungen in der Welt weiterzugeben? Ist es die Globalisierung des Kampfes um Land?
Das Forum ist ein Ort der Diskussion und des Austauschs. Es erlaubt über Ideen und Träume zu reden. Es ist ein Porto (porto = Hafen), der jedesmal fröhlicher und internationaler wird und in dem nun für eine Woche wieder Menschen aus der ganzen Welt vor Anker gehen. Was die Bauernbewegungen angeht, haben wir eine internationale Organisation. Sie heißt Via Campesina und wir machen immer von der Gelegenheit Gebrauch, das Angebot des Forums anzunehmen, uns zu treffen und Ideen auszutauschen. Zuallererst natürlich zwischen unseren Bauernbewegungen, aber dann auch mit den anderen sozialen Bewegungen - auf den internationalen Versammlungen, die wir geplant haben. In gewissem Sinne ist es richtig, dass wir dabei sind die Globalisierung des Kampfes um Land zu gestalten. Dies, weil in den letzten zwanzig Jahren das internationale Finanzkapital und seine multinationalen Konzerne sich der Landwirtschaft, der Agroindustrie, dem Agrarhandel in der ganzen Welt bemächtigen. Das Kapital hat die Formen der Ausbeutung globalisiert und als Konsequenz erzeugt, dass die Bauernbewegungen, die früher eher korporativ und lokal waren, sich nunmehr internationalisieren, sich kennen, sich globalisieren. Innerhalb von Via Campesina haben wir entdeckt, dass die größten Ausbeuter der Landwirte in Brasilien die gleichen sind wie in Indien, auf den Philippinen, in Südafrika, Mexiko, Europa und um einige zu nennen: Monsanto, Nestlé etc.

Wie setzt die Landlosenbewegung (MST) ihren Kampf um Land mit den anderen Bewegungen um? Und die Erfahrung mit der palästinensischen Sache im Jahr 2002 - ein Vertreter des MST wurde mit der Fahne der Bewegung an der Seite Arafats fotografiert- hat sie zu einem Resultat geführt?
Seit der Gründung des MST hatten wir immer eine lateinamerikanische Sichtweise und wir haben uns ständig mit anderen Bauernbewegungen getroffen. Dies, weil sie uns geographisch nah waren oder weil sie wie die Bauernbewegungen in Mexiko, in Zentralamerika, einer historisch größere Erfahrung besaßen als die unsere. Durch diesen Prozess haben wir eine lateinamerikanische Organisation geschaffen, die ihre Erfahrungen austauscht und sich in Kongressen und Konferenzen trifft. Ab 1995 dann, haben wir die Via Campesina geschaffen. Die Organisation ist international und vereinigt mehr als 90 Organisationen aus allen Kontinenten.
Was Palästina angeht, ist unsere Position die der Solidarität mit dem Kampf des palästinensischen Volkes, so wie wir sie bei jedem Volk praktizieren, das um seine eigenen Rechte kämpft. Als Mario Lill in Ramallah war, geschah dies auf Grund einer Initiative von Via Campesino International. Die Episode hatte große Auswirkungen gehabt, denn während sich die Delegation in Ramallah aufhielt, wurde das Hauptquartier von Arafat beschossen und umstellt. Das Resultat dieser Episode war, dass die internationale Solidarität verhinderte, dass die israelische Armee sein Büro bombardierte und Präsident Arafat tötete. Aber diese Episode steht nicht für sich allein. Wir haben uns an vielen anderen Solidaritätsaktionen beteiligt – auch mit dem israelischen Volk. Wir haben Verbindungen mit Kibbuzen und konnten von ihren Fehlern und Erfolgen lernen. Ich habe selbst 1999 an einer Reise teilgenommen, um den israelischen Wissenschaftler Modechai Vanunu zu besuchen, der seit 15 Jahren im Gefängnis sitzt, weil er Israel beschuldigte, die Atombombe zu bauen. Wir sind dort mit einer Delegation alternativer Nobelpreisträger gewesen. Ich möchte diesen Satz weiterführen, um die israelische Regierung des Herrn Sharon anzuklagen, weil sie einem Delegierten des Weltsozialforums verbot, sein Land zu verlassen. Es handelt sich um Monsignor Atalla Hanna, dem Bischof der orthodoxen Kirche in Bethlehem, der über 70 Jahre alt ist. Die Behörden haben ihm seinen Pass abgenommen - er ist israelischer Staatsbürger - und er kann deshalb nicht mit uns in Porto Alegre sein.

Auf welche Weise kann der MST dazu beitragen, die kommerziellen Schranken niederzureißen in Bezug auf brasilianische Agrarprodukte in Europa und den USA?
Im MST und der Via Campesina wird seit langem darüber diskutiert wie die multinationalen Konzerne einige Regierungen wie auch die Welthandelsorganisation manipulieren und ihnen ihre eigenen Bedingungen diktieren, um mehr Vorteile und Profite zu erhalten. Wir unterstützen den Gedanken, dass der internationale Handel mit Agrarprodukten und Nahrungsmitteln nicht von den Regeln des OMC regiert werden darf. Der internationale Handel muss der Ernährungssouveränität untergeordnet werden. Das bedeutet, dass jedes Land das Recht und die Pflicht besitzt, die notwendigen Lebensmittel für sein Volk zu produzieren. Wir sind gegen die Standardisierung der Nahrungsmittel, die uns die Multis aufzuzwingen versuchen, was eine Gefahr und ein Verbrechen gegen die kulturelle Unterschiedlichkeit innerhalb unserer Zivilisation bedeutet. Heute machen Korn, Soja, Hirse, Reis 85% der Getreidesorten aus, die auf unserem Planeten verbraucht werden. Das erzeugt eine große Abhängigkeit der Bevölkerung. Die Politik von Subventionen und Protektionismus, die in Europa und den USA praktiziert wird, favorisiert nicht ihre kleinen Landwirte, sondern allein die großen Multis, die durch sie entsprechende Vorteile erhalten, um mit der Dritten Welt zu konkurrieren. Da sie bei uns ihre subventionierten Produkte verkaufen, machen sie uns abhängig. Wir haben immer über mögliche Formen diskutiert, wie gegen diese internationale Agrarpolitik zu mobilisieren und wie sie zu bekämpfen ist. Wir planen somit in der ganzen Welt für den kommenden September große Kampagnen, um während der Konferenz des OMC in Cancun, Mexiko, präsent zu sein. Die OMC hat weder Rechte noch Legitimität, sie ist auch nicht Teil der UNO und kann der Menschheit keine Regeln vorschreiben. Die Welt muss ihr ganzes System der internationale Institutionen reorganisieren. Es muss mit der UNO angefangen werden, die allein auf die Befehle der USA hört und es nicht einmal schafft, dass Israel ihre Resolutionen einhält. Letztere haben nur Gewicht, wenn sie gegen die armen Länder gerichtet sind. Die USA sind die ersten, welche die internationalen Abkommen nicht respektieren - es reicht auf das abkommen von Kyoto zu verweisen...

Werden sich die Aktionen der sozialen Bewegung ändern, nachdem eine Gruppe an die Macht kam, die mit Ihren Ideen sympathisiert? Hat der MST die Absicht, einen Waffenstillstand mit der Regierung Lula zu schließen oder wird deren Verhalten eine Verzögerung der Erfolge der Bewegung bedeuten? Werden weiterhin noch Landbesetzungen vorgenommen?
Die sozialen Bewegungen in der ganzen Welt und auch hier in Brasilien müssen gegenüber den Regierungen, dem Staat, den Parteien, den Kirchen absolut autonom bleiben. Daraus schöpfen sie ihre Legitimität und ihre Kraft, die Bevölkerung in unabhängiger Weise zu organisieren. Immer dann, wenn eine Bewegung von einer Partei, vom Staat oder der Regierung abhängig war, ist sie gestorben. Sie existiert dann vielleicht auf dem Papier weiter, durch ihr Symbol, aber ihre Kraft hat sie eingebüßt. Das, was sich hier in Brasilien mit dem Wahlsieg von Lula geändert hat, ist das Kräfteverhältnis aber nicht die Form wie die sozialen Bewegungen zu agieren haben. Der Wahlsieg von Lula bedeutet, dass das Volk klar zum Ausdruck gebracht hat, dass es eine Veränderung will. Es hat Lula diese Kraft verliehen.

Bezüglich der Agrarreform bedeutet dies, dass der Großgrundbesitz seine Kraft verloren hat und die Regierung Lula uns behilflich ist, den Großgrundbesitz zu schlagen. Das gleiche gilt auch für die Formen des Kampfes. Sie sind nicht Resultat des Willens der leitenden Funktionäre oder von Abkommen. Sie sind allein Ausdruck der sozialen Widersprüche in der Gesellschaft, der Ungleichheit und Ungerechtigkeit geschuldet. Sie können also fett vermerken, dass, solange in Brasilien auf der einen Seite Großgrundbesitzer und auf der anderen Landlose sind, es immer Landbesetzungen geben wird. Und solange es Immobilienspekulationen in der Stadt und viele Menschen ohne Wohnung gibt, wird es Besetzungen von städtischem Gebiet geben.

Der Druck auf die armen Länder wächst immer mehr, genveränderte Nahrungsmittel zu verwenden, um den Hunger zu bekämpfen. Denkt der MST, dass der Widerstand gegen diese Nahrung auch in Zukunft realisierbar sein wird?
Das Problem des Hungers in der Welt ist nicht der Mangel an Lebensmittel. Es ist der Mangel in der Verteilung des Essens. Es ist das Problem, dass die Bevölkerung kein Geld und kein Einkommen hat, um sich Lebensmittel kaufen zu können. Den Druck, den es jetzt gibt, um genveränderte Lebensmittel einzuführen, stammt von den Multis und es sind nicht mehr als 10, welche beabsichtigen, das Saatgut in der ganzen Welt zu kontrollieren. Und da sie Technologie der Genveränderung und Biotechnologie kontrollieren versuchen sie uns diese aufzuzwingen.
Der MST und Via Campesina werden mit allen Kräften fortfahren, die Gegner der genveränderten Produkten zu unterstützen (und es erhöht sich auch immer mehr die Zustimmung aus den Gesellschaften in aller Welt). Es wird auch immer deutlicher, dass genverändertes Saatgut nicht mehr produktiv und nicht mehr Gewinn bringend ist und dass es Schäden in der Umwelt verursacht. Jeden Tag kann man Nachrichten in den Zeitungen dazu lesen. Wir haben als Zeugen für das FSM den kanadischen Landwirt Mr. Percey Shemeister eingeladen, der einen schon historischen Kampf gegen Monsanto führte. Dieser Konzern wendet in Kanada perverse Methoden an, um zu verhindern, dass die Landwirte ihr eigenes Saatgut konservieren. Das, was beim Kampf gegen genveränderte Produkte auf dem Spiel steht, ist die Kontrolle der multinationalen Konzerne über Lebensmittel und Landwirtschaft. Auf dem Spiel steht das Überleben der kleinen Landwirte und die Nahrungssouveränität der Völker. Wir werden bis zum Ende kämpfen und sind sicher, dass wir gewinnen werden.
Die Menschheit hat sich bis heute entwickelt, weil die Produktion von Saatgut demokratisch war. Jeder Bauer konnte sein eigenes Saatgut produzieren. Heute verlangen die multinationalen Konzerne das Monopol. Wir werden es ihnen nicht gestatten. Deshalb werden wir auch am 24. nachmittags im Stadion Gigantinho vom Weltsozialforum aus mit einer Kampagne beginnen, welche unter dem Leitsatz steht: „Das Saatgut ist ein Erbe der Menschheit!“ Diese Kampagne soll in die ganze Welt getragen werden, damit die Landwirte ihr eigenes Saatgut produzieren. Danach werden wir eine Initiative in Charqueadas starten, um die Kampagne in Brasilien voranzutreiben. An ihr werden sich verschiedene Persönlichkeiten wie Noam Chomsky, Peter Rosset, Pat Money, Silvia Ribeiro und Jean Zigler beteiligen.

Es ist das dritte Jahr, dass Sie am Weltsozialforum teilnehmen. Wie werten Sie seinen Einfluss auf die soziale Sache?
Wie ich am Anfang schon sagte, das FSM ist ein Hafen. Es ist keine Organisation. Seine Funktion ist nicht zu organisieren, Dokumente zu verabschieden oder politische Linien festzulegen. Und dies ist von Wichtigkeit bei dieser internationalen und nationalen Verschwörung neoliberalistischer Hegemonie und ihrer Ausdehnung des Kommunikationsmonopols. Dank des FSM haben die sozialen Themen, die Sache der Völker wieder einen Raum erhalten und es ist möglich geworden zu sagen, dass es nicht wahr ist, dass der Neoliberalismus das Ende der Geschichte bedeutet. Das FSM hat den Einheitsgedanken zerschmettert, der in den Kommunikationsmitteln, in den Universitäten und in der politischen Landschaft vorherrscht. Der bedeutendste Beitrag des FSM ist also die Debatte zu stimulieren. Ich hoffe, dass die neue Regierung Lula eine Periode der Diskussion in der ganzen brasilianischen Gesellschaft eröffnen wird. Wir wissen alle um die Grenzen, die der Regierung in der Realisierung der Veränderungen gesetzt sind. Aber der Ausweg besteht in der Diskussion, in der Schaffung großer öffentlicher Meinungsströme, in der Organisierung der Menschen und der Teilnahme der Werktätigen. Er besteht in der Mobilisierung der Gesellschaft.
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Ergänzungen