Geschichten aus italienischen Knästen

R.F. 23.11.2002 05:32 Themen: Repression
Momentaufnahmen aus italienischen Knästen und zwei links zu auf indy.de erschienenen Artikeln. Einer von diesen beschreibt Zustände im Jahr 2002.

Vielleicht werden Leute anfangen, besser die Brutalität zu begreifen, die manche in Bolzaneto getroffen hat. Es ist eine tief in der Geschichte des Landes verwurzelte Obrigkeitskultur und eine patriarchal geprägte Tradition der Unterdrückung, die diese Gewalt begründet.

Diese Arbeit will aufmerksam machen und Solidarität und Kenntnis fördern. Im Falle eines Falles will sie aber auch Leuten, die möglicherweise auf die Idee kommen könnten, die "Abschwörer" aus Süditalien als Feiglinge oder Verräter abzustempeln, etwas entgegenzusetzen, das erklärt, warum sie sich vielleicht darauf eingelassen haben, "abzuschwören". Es ist ein sehr bedeutendes Zeichen, dass die beiden heute an der Spitze der Demonstration für die Freilassung der übrigen Gefangenen in Kosenz sein werden.

Über die Gefängnisse von Trani, Viterbo und Latina, wo die Verhafteten des Sud Ribelle Netzwerks sitzen demnächst eine Kurzinformation.
Übersetzung aus  http://www.ristretti.it/testimonianze/


Minimaltagebuch aus einer anderen Zeit, von der nicht gesagt ist, dass sie nicht noch da wäre.


DIE "NUOVE" VON TURIN ZWISCHEN DEN 80ER UND DEN 90ER JAHREN

An die unterirdische Ebene erinnere ich mich gut, ich war mit Liviana und Schwester Angela abgestiegen. Es gab alte Truhen auszuräumen, Theaterkostüme für Aufführungen der Insassinnen der vorhergegengenen Jahrzehnte, vor der Reform. Kleider, die von Frauen des gehobenen Turins gespendet worden waren, vor der Reform, Pailletten, Seide, Fransen. Kleider, die wer weiß, welche Frauen getragen hatten: die, die vor uns hier waren, und vor den Junkie-Frauen und vor den Räuberinnen, freie Frauen der 70 Jahre?

Hier waren bis vor wenigen Jahren die Freigängerinnen, sagt Schwester Angela. Wie beängstigend, flüstere ich. Schöne Scheiße, von wegen Reform, sagt Liviana.

Die Zellen sind unter der erde, ein kleines und durch Staub, Erde Und Spinnennetzen verdunkeltes Gatter lässt den Rand des Hofes aus Beton durchlugen. Eine gewölbte Decke aus dem 19. Jahrhundert zieht sich entlang des langen Gangs durch, auf den Türen aus grauem Holz mit übertrieben großen Riegeln und kleinen Gucklöchern. Schauen. Überall ist es dunkel und feucht. Ein Schmaler Lichtstrahl zur Mittagsstunde, Wasserrattengescharre., besonders im Sommer.

Von der Kellerebene hatte mir Sara erzählt, von ihrer Ruhigstellungspritsche in den Zellen der Nuove, im Jahr der Revolte 1977. Vom Grinsen des Maresciallo, [Carabinieri-Oberfeldwebel, d.Ü.] nach dem Kampf und den Schreien und der Weigerung, in die Zelle zu gehen, während er die rauhen Binden um die Handgelenke wickelte, und sie an die Pritsche fixierte. Zwei Tage und zwei Nächte. Schräge Sonnenstreiflichter und Mäuse und Fliegen. Und die stimmen der anderen, die riefen und pfiffen, um sie sich nicht alleine fühlen zu lassen. Und die Schreie der wachen, um sie zum Schweigen zu bringen.

Gebunden Hände, und der totalen Macht eines anderen ausgesetzte Körper und Dunkelheit rund herum, voller zu entziffernder Geräusche, ohne schlafen zu können und das Gescharre von Mäusen oder Springerstiefeln, die näher kommen. (warum kommen sie hierher? Um was zu tun? Was wird jetzt passieren?)

SANTA VIRDIANA - FLORENZ - ISOLATIONSHAFT - 1982

Jetzt lösen Frauenstimmen die Spannung, die sich zwischen dem Geräusch von Schritten, unvermittelt geöffneten Türen, mich ständig umgebenden, mit fixem Blick auf mein Gesicht im Kreis aufgestellten Männern in der Kaserne aufgestaut hatte. Das Gefängnis nimmt mich wieder in seinen stiefmütterlichen Schoß auf, er nährt mich mit Nahrung aus Blechnäpfen, er bettet mich in rauhe Laken, von der Sorte, die ein ganzes Leben halten. [...] Der hartnäckige, weibliche Klang von Stimmen, unten im Hof, und die weibliche Abartigkeit, einen geschlossenen Körper zu pflegen, geben mir eine dumpfe Gelassenheit.

Die Stimmen der Genossinen, im Gefängnis, werden erregter, sie hallen an den hohen Mauern des alten Klosters wieder, sie durchdringen die ersten Gitterstäbe, und das dichte Netzgatter, und die Zweiten Gitterstäbe des kleinen Fensters. Ich erkenne sie, jeder Stimme ihr Gesicht. Einige bewegen mich. Mein Name, und dann "raus aus der Isolation", geschriehen, skandiert, gesungen. Ein Gefühl der Wärme, ich bin umsorgt, jetzt kann ich ein wenig weinen. Fast nicke ich ein, ich sehe das Licht zu einem goldenen Reflex erblassen, ich habe keine Uhr, ich ahne einen Herbstnachmittag, der sich da draußen verzehrt. Die Frauen im Hof skandieren meinen Namen nicht mehr, auch nicht die parolen, um mich bei sich zu haben. Ich vernehme eine Verhandlung, ihre Stimmen, schrill und überlagert, wechseln sich mit einer einzelnen, männlichen Stimme ab. Die inzwischen Rosa getönten Sonnenstreiflichter an der Wand sagen mir, dass der Nachmittag sich zum Ende neigt. Sie müssten schon seit Stunden in ihren Zellen sein. Sie weigern sich, wieder einzutreten, verhandeln noch einmal. Ich habe Angst, Springerstiefel zu hören, die wütend über den Hof heranschreiten, ich fühle mich ohnmächtig. Ich fühle mich auch begehrt: ohnmächtig und gerührt.

VOGHERA - HOCHSICHERHEITSGEFÄNGNIS - 1983

Die unförmigen Uniformen aus rauhem Stoff, mit dem Aufdruck "Trani - 1944" (aber schön waren wir trotzdem, ihr Bastarde, Gott, wie wir schön waren). Und wenn sie häßliche Musik spielten, die bei voller Lautstärke durch die Lautsprecher geschleudert wurde, um zu verhindern, dass wir kommunizieren, dann sangen wir lauter, bis die Halsschlagadern dick wurden. Und wenn sie uns bei der Ankunft nackt in eine Reihe stellten, und sie uns sechs Liegestützen machen ließen und uns dann unter die heißen Duschen Jagten, um zu sehen, ob die durch die Hitze erschlaffte Vagina Sprengstoff, chiffrierte Botschaften, politische Dokumente oder klandestine Liebesbriefe fallen liess, schluckten wir unsere Tränen und suchten unsere verachtungsstärksten Blicke, und sogar manchen Funken Ironie. Und wenn wir, in unsere Nazi-Uniformen gehüllt und mit militärfarbenen Strümpfen die bei jedem Schritt die Wade hinunterrutschten und Schuhe aus Pappe trugen, mit dem Atem des Bullen im Nacken, der den Takt der Öffnung der unendlichen Reihenfolge der Tore angab und immer wieder sagte "beweg´dich, du Hure", gehetzt wurden. Ja, auch dann waren wir schön, ihr Bastarde. Mein gott, und ob wir schön waren.

GIUDECCA - VENEDIG - ISOLATION - 1988

Das Gefängnis der Giudecca, mit dem großen Tor, schluckt mich zusammen mit der Eskorte. Ich werde diesen Ort hassen müssen, auch diesen Ort: es tut mir leid, es ist meine Stadt. Es ist nicht so, dass ich hätte wiederkommen wollen, nicht in Ketten. Man kann nicht eingesperrt bleiben, um einen Ort zu hassen, den man liebt, um den man aus Sehnsucht eingeht. Jedes Gefängnis ist besser als dieses: das dunkelste, das feuchteste, das härteste. Aber hier, dem verzehrenden Abendlicht, und den Glocken in der ferne, und dem süßen Dialekt, das die Schließer sprechen, und der Stimme der Möwen widerstehen!. Hier ist die Gefangenschaft unerträglich.

Vertraute Stimmen und Klänge, der Singsang der sprache, die Sprache meiner Mutter. Als ich Sardisch und Neapolitanisch hörte, da konnte ich mich durch Fremdsein Schützen, hier bin ich jedoch von der Abartigkeit meiner Vertrautheit gefangen. Alles hier macht mich unruhig: wenige tore, viele Nonnen, die wache mit den friaulischen Samtpantoffeln und den hellen Augen, niemand schreit, Fußböden aus antikem Holz. Und doch sind die Körper geschlossen, wie sonstwo auch. Es ist ein Strafgefängnis, das Gefängnis des endgültigen Strafmaßes. Wegen dieser Süße empfinde ich einen Schauder des Ekels und der Faszination zugleich. Das ganz männliche und harte Gefängnis aus dem ich komme, beruhigt und erschreckt mich gleichermaßen, von hier aus gesehen. Was und wer bin ich im Begriff zu werden, wenn ich ihn sogar vermisse? Warum bin ich dort sicherer auf den Beinen als hier? Die Frauen essen hier gemeinsam, nicht in ihren Zellen, sondern in einem Gemeinschaftssaal. Es gibt eine Atmosphäre wie in einem Refektorium, wie in einem Internat. Ich aber habe eine zelle für mich, ich kann mit keiner reden. Ich bin froh, alleine zu sein. Ich will zurückdenken an das ganze Glitzern des Meeres, an Stucky, der mir zuhört. Ich will vor Sehnsucht sterben, endlich ungesehen weinen.

Ich kann es tun: die Zelle ist sehr groß, sie könnte sechs Frauen aufnehmen, auch mehr, mit den Etagenbetten. Es gibt eine Ecke, neben dem Klo, die dem Guckloch entgeht, Versagen der Panoptikum-Paranoia. Wenn ich mich da hinstelle, kann ich ungesehen weinen und denken. Wie lange schon habe ich die Gabe der Unsichtbarkeit nicht? Hier kann man es einrichten: Tisch und Stuhl und Bett sind nicht festgeschraubt, alles bewegt sich und verschiebt sich, wie in einem echten Zimmer. Das Fenster hat Gitter und Netzgatter, es lässt wenig von der welt erblicken. Aber, wenn ich das Gesicht gegen die Gitterstäbe presse und meine Augen anstrenge, bis sie weh tun, kommt der Blick bis zu einer hellen Kuppel, und ein Stückchen einer Dächerzeile, und genau bei mir sitzt ein Taubenpärchen. Ich bin müde. Ich nehme den Stuhl, der mich unsichtbar macht, und öffne mein Buch.


Die Links zu den Texten auf Indy.de:

 http://www.de.indymedia.org/2002/06/24850.shtml

 http://www.de.indymedia.org/2002/05/21624.shtml
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Ergänzungen