Wer ist - laut Karl Marx - das Proletariat?

Wal Buchenberg 10.10.2002 08:25 Themen: Soziale Kämpfe
Die herrschende Meinung sagt, dass das Proletariat in Deutschland sei verschwunden.Es ist verschwunden, aber so, wie ein einzelner Grasbüschel verschwindet, der sich zu einer Grasfläche auswächst. Das Proletariat umfasst heute rund 77 Prozent der Erwerbstätigen.Linke Romantiker glauben noch, Proletarier seien Menschen mit groben Fäusten und kleinen Gehirnen. Auch das wird durch Realität und Marxsche Theorie widerlegt.
Proletariat ist das „kombinierte Arbeitspersonal“ der modernen Lohnarbeit, dessen Mitglieder „der Handhabung des Arbeitsgegenstandes näher oder ferner stehen.“ Um Mitglied der Arbeiterklasse zu sein, „ist es nun nicht mehr nötig, selbst Hand anzulegen; es genügt, Organ des Gesamtarbeiters zu sein, irgendeine seiner Unterfunktionen zu vollziehen“.Gesamtarbeiter ist der wissenschaftliche Begriff der produktiven Lohnarbeiterklasse.„Soweit der Arbeitsprozess ein rein individueller ist (wie beim selbständigen Bauern oder Handwerker), vereinigt derselbe Arbeiter alle Funktionen, die sich später trennen. In der individuellen Aneignung von Naturgegenständen zu seinen Lebenszwecken kontrolliert er sich selbst. Später wird er kontrolliert (als Sklave, unfreier Bauer oder Lohnarbeiter).Der einzelne Mensch kann nicht auf die Natur wirken ohne Betätigung seiner eigenen Muskeln unter Kontrolle seines eigenen Hirns. Wie im Natursystem Kopf und Hand zusammengehören, vereint der Arbeitsprozess Kopfarbeit und Handarbeit. Später scheiden sie sich bis zum feindlichen Gegensatz. (Am schärfsten ist der Gegensatz von Hand- und Kopfarbeit im Sklavensystem entwickelt: Die „Arbeit der Oberaufsicht (ist) notwendig in allen Produktionsweisen, die auf dem Gegensatz zwischen dem Arbeiter als dem unmittelbaren Produzenten und dem Eigentümer der Produktionsmittel beruhen. Je größer dieser Gegensatz, desto größer die Rolle, die diese Arbeit der Oberaufsicht spielt. Sie erreicht daher ihr Maximum im Sklavensystem.“ K. Marx, Kapital III., 397.)Das Produkt verwandelt sich im Kapitalismus überhaupt aus dem unmittelbaren Produkt des individuellen Produzenten in ein gesellschaftliches, in das gemeinsame Produkt eines Gesamtarbeiters, d.h. eines kombinierten Arbeitspersonals, dessen Glieder der Handhabung des Arbeitsgegenstandes näher oder ferner stehen.Mit dem kooperativern Charakter des Arbeitsprozesses selbst erweitert sich daher notwendig der Begriff der produktiven Arbeit und ihres Trägers, des produktiven Arbeiters. Um produktiv zu arbeiten, ist es nun nicht mehr nötig, selbst Hand anzulegen; es genügt, Organ des Gesamtarbeiters zu sein, irgendeine seiner Unterfunktionen zu vollziehen.Die obige ursprüngliche Bestimmung der produktiven Arbeit, aus der Natur der materiellen Produktion selbst abgeleitet, bleibt immer wahr für den Gesamtarbeiter, als Gesamtheit betrachtet. Aber sie gilt nicht mehr für jedes seiner Glieder, einzeln genommen.Andererseits aber verengt sich der Begriff der produktiven Arbeit. Die kapitalistische Produktion ist nicht nur Produktion von Ware, sie ist wesentlich Produktion von Mehrwert. Der Arbeiter produziert nicht für sich, sondern für das Kapital. Es genügt daher nicht länger, dass er überhaupt produziert. Er muss Mehrwert produzieren.Nur der Arbeiter ist produktiv, der Mehrwert für den Kapitalisten produziert oder zur Selbstverwertung des Kapitals dient.“Zur „Selbstverwertung des Kapitals“ tragen alle Zirkulationsarbeiter in Handel, Banken und Versicherungen bei, die ein falsch verstandener Marxismus „unproduktive Arbeiter“ nennt, und z.T. sogar aus der Arbeiterklasse ausschließen möchte. Sie sind tatsächlich notwendiger Teil des produktiven Gesamtarbeiters und gehören damit selbstverständlich zum modernen Proletariat.„Mit der Entwicklung der spezifisch kapitalistischen Produktionsweise wo viele Arbeiter an der Produktion derselben Ware zusammenarbeiten, muss natürlich das Verhältnis, worin ihre Arbeit unmittelbar zum Gegenstand der Produktion steht, sehr verschieden sein. Z.B. die ... Handlanger in einer Fabrik haben nichts direkt mit der Bearbeitung des Rohstoffs zu tun. Die Arbeiter, die die Aufseher der direkt mit dieser Bearbeitung zu tun Habenden bilden, stehen einen Schritt weiter ab; der Ingenieur hat wieder ein andres Verhältnis und arbeitet hauptsächlich mit seinem Kopfe etc.Aber das Ganze dieser Arbeiter, die Arbeitsvermögen von verschiednem Werte besitzen, ... produzieren das Resultat, das sich das - Resultat des bloßen Arbeitsprozesses betrachtet, in Ware oder einem materiellen Produkt ausspricht; und alle zusammen, als Werkstatt, sind die lebendige Produktionsmaschine dieser Produkte, wie sie, den gesamten Produktionsprozess betrachtet, ihre Arbeit gegen Kapital austauschen und das Geld der Kapitalisten als Kapital reproduzieren, d.h. als sich verwertenden Wert, sich vergrößernden Wert.Es ist ja eben das Eigentümliche der kapitalistischen Produktionsweise, die verschiedenen Arbeiten, also auch die Kopf- und Handarbeiten — oder die Arbeiten, in denen die eine oder die andre Seite vorwiegt, — zu trennen und an verschiedene Personen zu verteilen, was jedoch nicht hindert, dass das materielle Produkt das gemeinsame Produkt dieser Personen ist oder ihr gemeinsames Produkt in materiellem Reichtum vergegenständlicht;was andrerseits ebenso wenig hindert oder gar nichts daran ändert, dass das Verhältnis jeder einzelnen dieser Personen das des Lohnarbeiters zum Kapital und in diesem eminenten Sinn das des produktiven Arbeiters ist.Alle diese Personen sind nicht nur unmittelbar in der Produktion von materiellem Reichtum beschäftigt, sondern sie tauschen ihre Arbeit unmittelbar gegen das Geld als Kapital aus und reproduzieren daher unmittelbar außer ihrem Lohn einen Mehrwert für den Kapitalisten. Ihre Arbeit besteht aus bezahlter Arbeit plus unbezahlter Mehrarbeit.“ K. Marx, Theorien über den Mehrwert I., MEW 26.1, 386f.„A. Smith (schließt) natürlich ein in die Arbeit, die sich fixiert und realisiert in einer käuflichen und tauschbaren Ware, alle intellektuellen Arbeiten, die direkt in der materiellen Produktion konsumiert werden.Nicht nur der direkte Handarbeiter oder Maschinenarbeiter, sondern Aufseher, Ingenieur, Manager, Commis (Bevollmächtigter der Geschäftsführung) etc., kurz die Arbeit des ganzen Personals, das in einer bestimmten Sphäre der materiellen Produktion erheischt ist, um eine bestimmte Ware zu produzieren, dessen Zusammenwirken von Arbeiten (Kooperation) notwendig zur Herstellung der Waren ist.In der Tat fügen sie dem konstanten Kapital ihre Gesamtarbeit hinzu und erhöhen den Wert des Produkts um diesen Betrag.“ K. Marx, Theorien über den Mehrwert I., MEW 26.1, 134.Also gehören sie auch alle zur produktiven Lohnarbeiterklasse, dem modernen Proletariat: Die Ingenieure ebenso wie die Hilfsarbeiter, die Manager wie die Lohnbuchhalter, die Kassierer im Supermarkt ebenso wie die Kassierer in der Bank.Die einen, weil sie direkt produktiv sind und Mehrwert schaffen, die anderen, weil sie indirekt produktiv sind, indem sie Kapital verwerten, also Profit schaffen, durch Ökonomisierung und Beschleunigung des Kapitalumschlags und der Kapitalzirkulation.Wo es dem Verständnis dient, habe ich die Rechtschreibung, veraltete Fremdwörter, Maßeinheiten und Zahlenangaben modernisiert. Diese und alle erklärenden Textteile, die nicht wörtlich von Marx stammen, stehen in kursiver Schrift. Wal Buchenberg, 7.1.2002.Siehe zum Stichwort PROLETARIAT:KlassenanalyseKopf- und HandarbeitLohnarbeiterProfit & MehrwertZirkulationsarbeiter
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Ergänzungen

Schön...

ra0105 10.10.2002 - 12:41
sind zwar eigentlich keine Nachrichten, aber dennoch gut das Mensch sich hier etwas bilden kann;)

Stimmt...

10.10.2002 - 14:13
sind zwar keine "Nachrichten", aber Wal Buchenbergs Beiträge heben sich wohltuend von manchem Zeug ab, das sich hier sonst so findet. Danke, Wal!

Literaturtipp

zyx 10.10.2002 - 14:33

Erstaunlich, wie positiv es aufgenommen wird

Wal Buchenberg 10.10.2002 - 16:57
...dass zur Arbeiterklasse rund 77 Prozent der Erwerbsbevölkerung zählen, und nicht 30 Prozent oder 35 Prozent, wie die bürgerliche Statistik behauptet -
wo doch Marx sagte: "Produktiver Arbeiter zu sein ist kein Glück, sondern ein Pech." (Kapital I., 532).
Die bürgerliche Statistik möchte dieses Pech auf möglichst wenige beschränken! ;-)
Gruß Wal

Für die Selbstaufhebung des Proletariats!

Lin Wei 10.10.2002 - 17:54
Man muß WB dankbar dafür sein, daß er hier wichtige Marx-Stellen dokumentiert, die sich mit dem Proletariat beschäftigen. Vor allem, wenn man sich durchliest, welche abwegigen Vorstellungen sich in anderen indymedia-Beitägen mit "dem Proletariat" verbinden. Für die Selbstaufhebung des Proletariats!

Finito

Warhead 10.10.2002 - 21:18
Vorbei...es gibt kein Proletariat mehr,es hat sich ausproletet.Mit der Digitalisierung der Produktionsprozesse wurden auch die proletarischen Massen virtualisiert.
Ihre Projektionen sieht man im Arbeits bzw Sozialamt,in ABM Massnahmen oder auf Frührente.Immer weniger Menschen schaffen immer mehr in immer weniger Zeit und mit immer weniger Aufwand.Sie verdienen dabei gleichzeitig mehr als früher,haben mehr Zeit die Bild bis zum Schluss zu lesen oder vor der Glotze zu hängen.Gleichzeitig verteidigt die Gesellschaft den Arbeitswahn.Anstatt neue Wege zu gehen.Menschen die Arbeit haben aber nicht arbeiten wollen wird nicht erlaubt diese Mühle zu verlassen.Und andererseits wird Menschen die ihr kümmerliches Dasein nur durch Arbeit definieren können nicht gestattet sich doch endlich endlich zu Tode schuften zu dürfen.
Wir warten auf die existenzielle Grundsicherung oder die Einführung cder Jugendrente.

Proletarier aller Bundesländer...

Kautsky 11.10.2002 - 00:06
Hurra, wir sind 77 Prozent!!

Dann brauchen wir ja gar keine Revolution mehr und keine "Diktatur des Proletariats".

Denn mit 77 Prozent können wir ganz locker die Zwei-Drittels-Mehrheit aufstellen, mit der man die Verfassung ändern kann.
Übrigens: Um die Großbetriebe zu verstaatlichen muß man die Verfassung nicht mal ändern.

Jetzt müssen wir nur noch eine Partei gründen, die die Interessen dieser 77 Prozent vertritt, und dann kann es ja mit Vollgas losgehen ins Paradies!

Danke verzichte

Warhead 11.10.2002 - 00:45
Alles was diese 77% wollen ist fressen,ficken,fernsehen und billig tanken auf einem erschreckend niedrigen Niveau.Kein Sinn für die schönen Künste,Literatur,kulinarische Genüsse,erotische Höhenflüge....einfach nur Mittelmass,white Trash,solange die Massen dafür zu belustigen sind....

Das oft die allerbesten Gaben die wenigsten Bewunderer haben
Und das der größte Teil der Welt,das Schlechte für das Gute hält
Dies Übel sieht man alle Tage,doch wie wehrt man dieser Pest.
Ich bezweifle das die Welt sich von dieser Plage schnell befreien lässt
Ein einzig Mittel ist auf Erden,allein es ist unglaublich schwer
Die Narren müssen weise werden,doch seht sie werden´s nimmermehr.
Nie kennen sie den Wert der Dinge,ihr Auge schliesst,nicht ihr Verstand
Sie loben ewig das Geringe obwohl sie das Gute nie gekannt

Früher

Warhead 11.10.2002 - 00:49
Früher war hier hohe Kunst
Heute ist die Kunst verhunzt
Alte Männer,Gift´ge Fraun,
Eifersüchtig darauf schaun
Das das öffentliche Geld
Nicht in junge Hände fällt

11.10.2002 - 10:17
Wenn ich Karl Marx höre, werde ich immer gleich feucht. Nur bei seinem letzten Auftritt bin ich leider nach der ersten Rede in Ohnmacht gefallen und die Ordner mussten mich raustragen.

@warhead

11.10.2002 - 10:23
na du tust mir ja leid. wäre es nicht besser, von der nächsten brücke zu springen als mit solchen menschen die gegenwart zu teilen?
ich verneige mich vor dir, warhead, o der du doch viel besser bist als der pöbel.


im ernst: ganz schön durchschnitt deine einstellung!

kleine kritik

clandestino 11.10.2002 - 13:04
Der Text ist nicht schlecht- mal abgesehen von der teilweise doch recht grausam akademischen Sprache, vielleicht sollte man das mal ein wenig für die nicht so Vorbelasteten übersetzen ;) - aber das nächste Mal sollten da auf jeden Fall mehr sinnvolle Absätze eingebaut werden, das Lesen fällt so doch sehr schwer, erst recht bei einem Thema, das etwas komplexer ist.

Hört ! Hört !

Schietwetter-Klömpje 11.10.2002 - 13:40
Schön zu wissen dass man den Begriff "Proletarier" mit genügend Phantasie auf 77% der (erwerbstätigen) Bevölkerung anwenden kann. Wenn man alle am Produktionsprozess beteiligten Personen, egal ob administrativ oder produktiv tätig, hinzuaddiert bleiben auch nicht mehr viele übrig. Zu dumm nur, dass wohl 60% von diesen 77% die Frage ob sie sich als Proletarier verstehen eindeutig verneinen würden. Hört doch bitte endlich auf diesen überstraperzierten, abgelutschten, ins bodenlose relativierten, abgegriffenen Anachronismen neues Leben einhauchen zu wollen.
77% der Erwerbstätigen sollen "Proletarier" im marxschen Sinne sein? Hmmm, da stellt sich mir die Frage wie es die Sprallos von CDU/CSU/FDP beinahe geschafft hätten, Stoiber-System zu installieren. Anscheinend konnten sich noch gerade rechtzeitig genügend "Proletarier" an ihre "Klassenzugehörigkeit" erinnern, um Schlimmeres zu verhindern :) !

77 heisst: Grüss Gott!

11.10.2002 - 15:18

Frage?!

der nestscheisser 11.10.2002 - 23:22
Bestimmt Marx nicht irgendwo in Kapital Bd. 2 oder Bd. 3 das Proletariat primär aus seiner Stellung zu den Produktionsmitteln und seiner Revenuequelle (Lohnarbeit), unabhängig von Teilnahme an "produktiver Arbeit"? Na ja, dass Ergebnis würde etwa zahlenmäßig (abzüglich derjenigen arbeiteraristorkratischen Minderheit der LohnempfängerInnen, welche sich partiell durch Möglichkeit der Rücklagenbildung aus der reinen Abhängigkeit von Lohn oder Transferleistungen emanzipieren konnten) auf das Gleiche hinaus laufen.

aktuell wie eh und je.

KALLE 16.10.2002 - 02:06
proleten im marxschen sinne sind nicht durch ihr bewußtsein bestimmt, sondern, wie schon gesagt, die stellung zu den produktionsmitteln. kaum jemand nennt sich gern prolet, weil wir nämlich fast alle wissen, daß Du als prolet abhängig bist. wir geben uns lieber dem traum von unabhängigkeit hin. dieser funktioniert für uns auch sehr gut, solange wir etwas zu verlieren haben, was wir unser eigen nennen. viele von uns haben nichts außer ihrer arbeitskraft und tragen ihre haut zu markte. aber ich denke auch nicht gerne jeden tag von morgens bis abends an meine abhängigkeit, sondern geh lieber einen saufen und unterhalte mich mit irgendwem. da fühl ich mich als mensch, nicht als prolet. und ich genieße es. und nach der selbstabschaffung des proletariats werd ich immer noch abends saufen gehen. also ist dies ein vorgeschmack der besseren welt, oder etwas, was für mich unabhängig von meiner stellung zu den produktionsmitteln ist. mal sehen, wie die zukunft wird...