Gefaengnisse zwischen Zedern

blue 18.09.2002 10:56 Themen: Antirassismus Militarismus Weltweit
Eine Reise durch palaestinensische Fluechtlingslager im Libanon

Der Junge spielt laessig mit seinem Gewehr. Tamam von indymedia Beirut nimmt es ihm ab und zielt damit auf Imad. "Ist das nicht geladen", frage ich. Alle lachen: "Ja, klar." Der Junge erzaehlt, dass er zu einer Art Camp-Polizei gehoert. "Es gab so viele Kaempfe hier zwischen den Gruppen, deshalb ist es besser, wenn wir eine bewaffnete Polizei haben", erlaeutert er.

Wir sitzen auf dem Hof des Jugendzentrums im Ain Al Helweh Fluechtlingslager in Sidon vielleicht 50 Kilometer suedlich von Beirut. Hier leben 70.000 Palaestinenser auf einem Quadratkilometer.
Auf den Strassen bekomme ich Platzangst. Autos fahren nur Millimeter von den entgegen kommenden Wagen aneinander vorbei. Dazwischen schieben Haendler ihre mit Waren beladenen Karren. Irgendwie muessen wir da hindurch zum Gemuesemarkt. Dort will Manolo von indymedia Italy filmen.

Manolo ist mit einer Delegation aus Italien gekommen anlaesslich des 20. Jahrestags des Massakers in Sabra und Schatilla. Er will mit uns gemeinsam ein Feature und einen Film fuer die indymedia Seiten in Palaestina, Beirut, Italien und Deutschland machen. Tamam und Imad haben darum eine Rundfahrt durch Libanons Sueden organisiert.

Der Gemuesemarkt ist eine schmale Gasse. Hier fahren keine Autos. Aber es scheint noch enger als auf der Straþe. Wenn wir stehen bleiben, um etwas zu filmen, fangen sofort Frauen hinter uns an zu schimpfen, weil sie nicht weiter kommen. Zwischen den Karren, die in der Mitte der Gasse stehen, und den Staenden passt nur ein Mensch vorbei. Ich packe entnervt meine Kamera ein. Manolo scheint sich nicht zu stoeren. Er interviewt ein paar Kinder.

Ich finde es doof, palaestinensische Kinder zu interviewen. Man braucht nur eine Kamera hoch zu halten, schon posieren sie davor, spreizen die Finger zum Sieg und suchen schnell nach dem naechstbesten Stein, um ihn hoch zu halten. Das ist ueberall so: in Palaestina, in Jordanien, im Irak und hier. Es erinnert mich an die Bilder von den jubelnden Palaestinensern am 11. September, die CNN gezeigt hat. Nein, ich weiss, die Bilder waren tatsaechlich an diesem Tag aufgenommen. Warum sollte CNN auch Archivbilder nehmen, wenn doch nichts leichter ist, als palaestinensische Kinder zum Jubeln zu bringen?

Spaeter sage ich das. Imad gibt mir recht. Er sagt, dass die Kinder dort auf der Strasse sowieso nicht sagen koennen, was sie denken, man muesste sie interviewen, wenn sie allein sind. Imad macht workshops in den Camps, in denen er Kindern Comics Zeichnen beibringt.

Wir fahren weiter zu einer Militaerstelle, um eine Erlaubnis fuer mich und Manolo zu holen, damit wir in die ehemals von Israel besetzte Zone fahren koennen. Aber der verantwortliche Offizier ist schon nach Hause gegangen. Wir sollen morgen wieder kommen. Tamam ist wuetend, aber sie grinst die ganze Zeit waehrend sie mit den Soldaten verhandelt.

Unverrichteter Dinge fahren wir weiter nach Tyre. Dort besuchen wir das Raschidia Lager. Es ist sehr sauber und wirkt im Gegensatz zu Ain Al Helweh fast leer. Tamam erlaeutert, dass hier seit dem Buergerkrieg nicht gebaut werden darf. Nicht mal Material fuer Ausbesserungsarbeiten ist erlaubt. "Das schrecklichste, was ich hier mal erlebt habe, war als sie eine Frau mehrere Tage nicht beerdigen konnten, weil sie keine Erlaubnis fuer den Beton fuer das Grab erhalten haben", erzaehlt Tamam.

Wir sind mit Leuten vor einem Privathaus verabredet. Ein junger Mann steht davor, im Arm einen Saeugling. Tamam nimmt ihm das Kind ab und setzt sich zu seiner Frau, die vor der Tuer sitzt. Wir bekommen Tee. Ein paar Nachbarn setzen sich zu uns. Sie freuen sich, dass wir da sind.

Imad und Manolo interviewen einen jungen Mann, der an der Libanesischen Universitaet studiert. Die libanesische Regierung diskutiert gerade ein Gesetz, dass die Studiengebuehren fuer Auslaender an den oeffentlichen Universitaeten verfuenffachen soll. Das Gesetz wird neben ein paar wenigen Sudanesen vor allem die Palaestinenser treffen.

Rund 350 000 Palaestinenser leben in Libanon, die meisten davon immer noch in Lagern. Damit stellen sie rund 10 Prozent der Bevoelkerung. Sie haben keine Staatsangehoerigkeit, nur einen Fluechtlingsstatus. Sie duerfen nicht als Aerzte, Rechtsanwaelte, Ingenieure arbeiten. Insgesamt duerfen sie 72 Berufe nicht ausueben. Seit neustem duerfen sie auch kein Eigentum an Immobilien erwerben. Besitzen sie schon ein Haus oder eine Wohnung, duerfen sie sie ihren Kindern nicht vererben, der Besitz geht bei ihrem Tod an den Staat.

Keine der im Parlament vertretenen Parteien zweifelt ernsthaft diese Regelungen an. Zuviel Sprengstoff steckt in der Forderung, die Fluechtlinge endlich zu integrieren. Im Libanon gibt es 17 Konfessionen, davon fuenf grosse: sunnitische und shiitische Muslime, maronitische und griechisch-orthodoxe Christen und die Druzen. Der 15-jaehrige Buergerkrieg ist erst vor 12 Jahren beendet worden. Darin ging es um Macht und Ideologie und nicht zuletzt darum wer die maechtigeren Verbuendeten hat. Aber gefochten wurde entlang der religioesen Trennlinien. Muslime, Druzen und Christen sind sich auch heute noch nicht gruen. Jedes Dorf hat seine Trennlinie, die Kinder der Christen duerfen nicht mit den Kindern der Druzen oder Muslime spielen und umgekehrt. Selbst in Beirut habe ich haeufig Schwierigkeiten ein Taxi zu bekommen, dass mich von Ost nach Westbeirut faehrt.

Zur Zeit stellen die Christen noch knapp die Haelfte der wahberechtigten Bevoelkerung. Wuerden die Palaestinenser die libanesische Staatsangehoerigkeit erhalten, wuerde das Machtgleichgewicht zu Gunsten der Muslime kippen. Das wollen auch die libanesischen Muslime nicht. Zu fragil ist der Frieden, der 1989 ausgehandelt wurde und jeder Konfession seinen Anteil an der Macht sichert. Eine Demokratie, die nicht auf einem Religionsproporz beruht, will keiner der regierenden Politiker. Denn sie alle beziehen ihre Macht daraus.

Im Raschidia Fluechtlingslager hoert man trotzdem wenig boese Worte gegen die libanesischen Regierung. Als ein paar Leute die diskriminierenden Gesetze kritisieren, wirft eine Frau ein, dass die Libanesen doch auch viel fuer sie getan haetten. Alle schweigen betreten, einige schuetteln den Kopf.

Waehrend Imad und Manolo noch ein paar andere Leute interviewen, laufe ich mit dem Studenten durch das Camp, um Bilder fuer Zwischenschnitte zu filmen. Das Camp liegt zwischen Feldern direkt am Meer. "Ja, es ist schoen hier", sagt der Student. "Aber es ist ein Gefaengnis". Die Bewohner von Raschidia duerfen das Camp nur auf der Straþe am Militaerposten vorbei verlassen, die Wege zwischen den Feldern duerfen sie nicht betreten und auch im Meer schwimmen duerfen sie nur bis zu den Grenzen des Camps. Das libanesische Militaer hat gleich daneben einen Stuetzpunkt und wacht darueber.

Die Sonne geht unter und wir verabschieden uns. Einer der Palaestinenser faehrt uns nach Tyre zum Strand. Dort laufen wir barfuss am Strand entlang und bestellen dann eiskaltes Bier in einem Lokal dessen Besitzer uns als Genossen begruesst. Er ist in der kommunistisches Partei, erklaert Tamam.
Indymedia ist eine Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann. Eine Überprüfung der Inhalte und eine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge finden nicht statt. Bei Anregungen und Fragen zu diesem Artikel wenden sie sich bitte direkt an die Verfasserin oder den Verfasser.
(Moderationskriterien von Indymedia Deutschland)

Ergänzungen

Guter Bericht

Leser 18.09.2002 - 13:06
Sehr gute Idee, das zum Jahrestag gemacht wurde. Auch wenn das mit Jahrestagen ja immer so ein Problem ist.
Ich finde ihn nur VIEL zu kurz. Mehr über die Situationen in den Lagern, O-Töne und Eindrücke wären gut. Was Erzählt denn zum Beispiel der Kneipenbesitzer. Bei seinem Background wäre das echt interessant.

warum

18.09.2002 - 14:37
warum halten sich diese menschen nach nun 50 jahren noch immer in lagern auf? lassen die anderen arabischen staaten die menschen nicht ins land, um die situation am kochen zu halten? ganz schoen menschenverachtend.

Einfach den Text lesen, unbekannter Provo!

Denken statt Reflexe 18.09.2002 - 14:45
Nicht gleich nach der ersten Zeile aufhören und mit Schaum vor dem Mund kommentieren.
Also jetzt für Dich ein Zitat:
"Zur Zeit stellen die Christen noch knapp die Haelfte der wahberechtigten Bevoelkerung. Wuerden die Palaestinenser die libanesische Staatsangehoerigkeit erhalten, wuerde das Machtgleichgewicht zu Gunsten der Muslime kippen. Das wollen auch die libanesischen Muslime nicht. Zu fragil ist der Frieden, der 1989 ausgehandelt wurde und jeder Konfession seinen Anteil an der Macht sichert. Eine Demokratie, die nicht auf einem Religionsproporz beruht, will keiner der regierenden Politiker. Denn sie alle beziehen ihre Macht daraus."
Die Welt ist komplizierter, als der deutsche Student es denkt...

Ergänzung

18.09.2002 - 19:44
Diskriminierung von Palästinensern im Libanon
18.09.2002 18:18

Hier ein Ausschnitt aus einem Bericht von Medico International zur Lage von Palästinensern im Libanon seit dem Ende des Bürgerkrieges :

"Die Palästinenser blieben auch nach dem Ende des libanesischen Bürgerkrieges unerwünscht. Ihre Forderungen nach bürgerlichen und sozialen Rechten wird als Gefahr der Tatwin, der versuchten Einbürgerung und damit Störung der ausgehandelten und künstlich fixierten konfessionellen Machtbalance zwischen maronitischen Christen, Drusen und Moslems denunziert. Einzig die schiitische Hizbollah, unterstützte den Anspruch der Palästinenser auf bürgerliche Rechte. Nach ihrem Regierungseintritt erreichte sie die Aufhebung der Ausreisebeschränkungen, nach denen nicht zurückkehren durfte, wer das Land einmal verlassen hatte.

Das libanesische Establishment allerdings spricht über die Flüchtlinge weiterhin anders. Der Tourismusminister qualifizierte sie als »menschlichen Abfall« und erklärte, sein Land sei keine »Müllkippe«. So wird den Flüchtlingen auch nach dem »Friedensschluss« verdeutlicht, dass man sie nicht haben will. Diesmal allerdings nicht mit den Mörsern der libanesischen Milizen, sondern subtiler: Palästinenser müssen ihren Unterhalt mit Schwarzarbeit fristen, arbeiten für libanesische Unternehmer in prekären Beschäftigungsverhältnissen zu halben Löhnen und ohne soziale Sicherung, sie leben von Almosen – oder haben einfach nichts. Aus 65 Berufszweigen sind sie ausgeschlossen.

Das Recht auf Arbeit wird formell beschnitten: palästinensische Ärzte und Apotheker dürfen in den Flüchtlingslagern nicht mehr praktizieren, und selbst das Betreiben von Läden und kleinen Werkstätten ist illegal.

Selbstverständlich wird ihnen jedes Recht auf politische Partizipation verweigert. Begründet wird infamerweise diese Ausgrenzung mit der »Solidarität mit dem Recht der Palästinenser auf Rückkehr in ihr eigenes Land«.


Trotz der sinnvollen Projekte, die Medico im Libanon zu fördern scheint, ist an dem Text, der diese vorstellt und aus dem das Zitat übernommen wurde, der antizionistische Duktus und die Forderung nach einem "Rückkehrrecht" (zur Kritik an dieser Forderung bspw.:
 http://www.trend.partisan.net/trd7802/t107802.html )
ärgerlich, wobei sich Medico hinsichtlich Antizionismus ja wohl mittlerweile gebessert hat. Daher hier auch der link zum Medicotext:
 http://www.medico.de/projekte/libproj.htm

Anyway: wann haben deutsche, italienische und sonstige Antizionisten schon einmal eine nennenswerte Demo gegen die Diskriminierung von Palästinensern in der arabischen Welt durchgeführt?
Und warum nicht- etwa weil die Assimilierung von Palästinensern im Libanon beispielsweise den antiimperalistischen Kampf um "palästinensischen Heimatboden" sabotieren würde?
Dann sollen sie aber bloss nicht erzählen, dass es ihnen um die Beendigung von menschlichem Leid geht.