Antirassistinnen gegen Strommast?

erpe 10.09.2002 01:59 Themen: Antirassismus
Vor rund einer Woche, am 4. September ging auf der Mailingliste des Independent Media Center Germany ein offensichtlich anonymes Schreiben ein, dass dafür verantwortlich zeichnet, "in der Nähe von Zeuthen einen 110 KV Strommasten umgesägt" zu haben.
Beweggründe für diese Sachbeschädigung werden im verschickten Schreiben benannt:Der Flughafen Berlin-Schönefeld sei, so die VerfasserInnen, Zentral für die Abschiebung von abgelehnten AsylbewerberInnen.Nach der Zerstörung eines zuführenden Strommasten sollte der Flughafen gemäßden Erwartungen und Hoffnungen der Verantwortlichen in Mitleidenschaft gezogenwerden.
Nach knapp einer Woche sieht es so aus, dassdiese Aktion wahlweise gar nicht statt gefunden hat, bzw. eine Meldung darübernicht in den Bericht des polizeilichen Lagedienstes gelangt ist.
Recherchen über den tatsächlichen Hergang blieben bislang Ergebnislos.

Trotz alledem scheint das als Begründungvon 'Autonomen Gruppen' gelieferte Schreiben einige Interessante Gedankenzu formulieren; wenn es auch über weite Strecken so klingt, wie Satzbausteineaus der Textverarbeitung, einer an der Welt verzweifelnden SozialarbeiterInnenselbsthilfegruppe,die das Heil aller in den 'Kämpfen' im Süden sieht - und diese liebergegen die real existierenden Ausseinandersetzungen im als rassistisch desavouiertenGeltungsbereiches des eigenen Personalausweises eintauschen möchten.

Dokumentation: das anonym an die Mailingliste gesandteSchreiben 'Autonomer Gruppen'.


Flughäfen bilden eine zentrale Infrastrukturder rassistischen und imperialistischen Flüchtlingspolitik. Berlin-Schönefeldist bundesweit der zweitwichtigste Flughafen für die Abschiebung vonabgelehnten AsylbewerberInnen. Insbesondere Abschiebungen in die osteuropäischen Staaten werden hier abgewickelt.

In der Nacht zum 4.September 2002 haben wirin der Nähe von Zeuthen einen 110 KV-Strommasten umgesägt, um dieStromversorgung des Flughafens Berlin-Schönefeld zu beeinträchtigen,bzw. lahmzulegen. Die Gefährdung Unbeteiligter war zu jedem Zeitpunktausgeschlossen.

Vor zwei Jahren blockierten anlässlich des Jahrestages der faktischen Abschaffung des deutschen Asylrechts zahlreicheAktivistInnen den Flughafen Schönefeld. Damals hieß es: Wir wollen"dieses Datum zum Anlaß nehmen, auf die sich seit diesem Zeitpunktkontinuierlich verschärfende rassistische Praxis in der BRD aufmerksamzu machen. Menschen, die herkommen, ganz gleich aus welchen Gründen,haben ein Recht auf ein menschenwürdiges, gleichberechtigtes Leben -hier und überall." Diese Blockade wollen wir hiermit gewissermaßen fortsetzen.

Protest ist, wenn wir sagen,...

Wir sehen unsere Aktion darüber hinausals einen Beitrag zu den vielfältigen Aktionen und Diskussionen währendder Grenzcamps in diesem Sommer.

Für die Auswertung der unterschiedlichenAnsätze der diesjährigen Camps wünschen wir uns, dass dieDiskussionen um die Zukunft antirassistischer Sommeraktivitäten wiederim gemeinsamen und möglichst öffentlichen Rahmen fortgeführtwerden.

Dazu gehören für uns auch die kontinuierlichenKampagnen und Aktionen unterschiedlicher Initiativen, wie

  • der selbstorganisierten Flüchtlingsgruppen,die u.a. "free movement" für Flüchtlinge fordern,
  • die derzeit wieder stattfindende "Karawanefür die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen", die noch biszur Bundestagswahl durch die BRD reist,
  • der sehr kreativen und vielfältigen Lufthansa-Kampagne "Stop Deportation Class" und ihrer Internet-Demo,
  • der Gruppen, die für Illegalisiertemedizinische Versorgung und Unterkünfte organisieren,
  • Die seit langen verfochtene Praxis gegenEinkaufsgutscheine und Chipkarten (Infracard, Accor),
  • die Leute, die sich seit vielen Jahren fürKirchenasyl einsetzen,
  • die unterschiedlichen "Kein Mensch ist illegal"Gruppen,
  • und natürlich die Grenzcamps, die alsalljährliche Mobilisierung und Bündelung von Initiativen fungieren,und die darüber hinaus, zwischen Vokü und Badesee, vielen Leuteneinen Zugang zum Thema ermöglichen.

Sicherlich wollen wir mit unserer Aktion auchdafür werben, zu diesen Themen gelegentliche Sabotage zu praktizierenund am besten langfristig eine kontinuierliche und themenübergreifendePolitik zu entwickeln.

...dass wir die herrschenden Verhältnisseunerträglich finden.

Flughäfen sind allgemeine Hochsicherheitszonenund damit Nadelöhr des Transits zwischen Ländern. Deutsche Flughäfensind für die allermeisten Flüchtlinge bei der Einreise tabu. Ausnachvollziehbaren Gründen können politische Flüchtlinge inihrer Heimat, wo sie von Folter und Mord bedroht sind, schlecht ein Ticketkaufen und sich ins Flugzeug setzen. Auch Menschen, die vom Reichtum desNordens den ihnen zustehenden Teil haben möchten, ist der Luftweg verwehrt, da die BRD-Regierung die Fluglinien über Vorfeldkontrollen schon langezum Helfershelfer ihrer Selektion in Erwünschte und Unerwünschtegemacht hat. In dieser zynischen Logik steht die "Sichere Drittstaaten" Regelungvon 1993, wonach Flüchtlinge als Voraussetzung einer Anerkennung als Asylberechtigte faktisch nur noch per Flugzeug direkt aus ihrem Herkunftslandkommen dürfen. Jeder Transit durch irgendeinen anderen Anrainerstaatschließt den Asylstatus aus. Es verwundert nicht weiter, dass natürlichalle an die BRD angrenzenden Staaten als "Sichere Dritttstaaten" deklariert werden. So lernen Flüchtlinge deutsche Flughäfen nur als Ort ihrerAbschiebung kennen oder, wie in Frankfurt, als Internierungsort auf sogenanntemexterritorialen Raum.

Jährlich werden mehrere 10.000 Menschengezwungen, die BRD über den Luftweg zu verlassen. Diese Abschiebepraxisist heute Teil eines rassistischen Migrationsregimes, welches die Flüchtlingeund MigrantInnen nach den Kriterien der Verwertbarkeit für das Kapitalsowie nach demografischen Kriterien selektiert.

Auch im Bereich der Unterbringung und Verpflegungvon Flüchtlingen waren die furchtbaren Juristen dieses Staates in denletzten Jahren sehr kreativ. Das ansonsten heilige kapitalistische Prinzipder kostengünstigsten Form kommt hier nicht zur Anwendung. Das BRD-Regimelässt sich die unmenschliche Form von Heimunterbringung und externer Massenverpflegung einiges kosten, damit Flüchtlinge nicht an direkteLeistungen für Miete und Lebensunterhalt gelangen, wie bei SozialhilfeempfängerInnen.Denn es geht darum, den "Aufenthalt für Flüchtlinge so ungemütlichwie möglich" zu gestalten und einen Nachzug abzuschrecken.

Dem gegenüber werden illegalisierte Menschenvon Politik und Medien zwar dämonisiert, sind aber in der Wirtschaftdurchaus willkommen, da sie unter Ausnutzung ihrer völligen Rechtlosigkeit,Arbeitsverhältnisse nur zu den miesesten Konditionen erhalten.

Zu diesen "aufenthaltsverkürzenden Maßnahmen"gehört auch die Einschränkung der Bewegungsfreiheit für Flüchtlinge.Jedes Verlassen des zugewiesenen Landkreises ist eine Straftat und wird inder Mobilisierung der Massen propagandistisch benutzt, wenn die Schilys undSchills über "Ausländerkriminalität" hetzen.

Diese Bewegungsfreiheit ist selbstverständlichesMenschenrecht und für MigrantInnen unabdingbar, wenn sie sich politischorganisieren wollen. Daher konzentrieren selbstorganisierte Gruppen von Flüchtlingenihre Aktivitäten auf diesen Punkt.

Widerstand ist, wenn wir dafür sorgen,...

Dies alles ist bekannt und nicht neu. Dieautonome und antirassistische Bewegung steckt in dieser Auseinandersetzungseit Jahren in einem Dilemma und schafft es nicht, einen wirksamen Widerstandzu organisieren. Auch wir haben dafür weder ein Patentrezept noch grossartigeVorschläge. Daher unterstützen wir die zarten Pflänzchen des selbstorganisierten Widerstandes von Flüchtlingen und MigrantInnen undwünschen uns eine stärkere Diskussion und Zusammanarbeit, um zueiner gemeinsamen antirassistischen Praxis zu kommen.

Antirassistische und allgemein linksradikalePolitik muss darauf abzielen, immer öfter den Weg vom Protest zum Widerstandzu finden. Diesbezüglich fällt uns immer häufiger ein gewisserRückfall zur Ebene der Verbalbekundung auf, auch wenn dies modisch als'Diskurspolitik' gehypt wird.

Solange es uns aber nicht gelingt, auch unserenAlltag widerständig zu gestalten, kommen wir über eine phrasenhafteAusstrahlung nicht hinaus. Erst wenn wir es schaffen, über die notwendigeDestruktion hinaus, konstruktive und lebbare Perspektiven aufzuzeigen undzu leben, werden wir der Hoffnungslosigkeit der Menschen etwas entgegensetzenkönnen. Die Frage ist auch, wie sich ein verstärkter Kontakt (der nicht immer leicht ist) zu MigrantInnen gestalten lässt - wie wir uns freier von Vorurteilen und Erwartungshaltungen begegnen können, um einergelebten Utopie ein Stück näher zu kommen.
Selten gelingt es uns, unsere Vorstellungenim Alltag umzusetzen.

Auch die Versuche in großen Wohnprojektenzu leben, kollektive Strukturen zu schaffen scheinen immer mehr unter zugehen. Deutlicher sichtbar sind die Versuche von frustrierten Menschen, mitRundumschlägen, Ignoranz und Härte ihre Abgrenzung von der Szenehinzubekommen (zu sehen z.B. in der Diskussionen zum 1.Mai und zum Israel-Palästina-Konflikt).

Wir sollten erheblich mehr Augenmerk darauflegen, soziale Strukturen zu schaffen in denen auch wir uns aufgehoben fühlen.So sollte es z.B. möglich sein, im konkreten Zusammenleben rassistischeund patriarchale Machtverhältnisse zu üerwinden. Wir brauchen auchandere Formen der Arbeit, bzw. des gemeinsamen Kampfes gegen die Lohnarbeit, um ökonomische Zwänge durch solidarische Strukturen zu verringern

Wenn wir also mit unseren Wünschen nachSolidarität und Kollektivität überzeugen wollen, sollte diesauch in unserem Zusammenleben und unseren Kämpfen erkennbar sein. Diegegenwärtig grasssierenden persönlichen Profilierungen auf Kostenanderer und polarisierende Grabenkämpfe erzeugen ein Klima, das Menschen,die wir erreichen können, eher abschreckt und entfernt.

Letztendlich müssen Staat und Gesellschaftim kontinuierlichen Prozess eines subversiven, d.h. herrschaftszersetzendenAlltags umgewälzt werden. Dies ist vor allem ein praktischer Prozessund weniger die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem, was vielleichteinmal sein wird.

...dass die Geschichte der Herrschendenbeendet wird.

Sozialrevolutonäre Prozesse sind allerdingsnur im globalen Rahmen denkbar, also jenseits des eigenen Bauchnabels einersaturierten Metropolenlinken.

Eine Voraussetzung dafür ist der wechselseitigeBezug von kämpferischen Menschen aus den Ländern des Südensund des Nordens.

Wenn dann neben dem kapitalischen Warenverkehrauch die Menschen zwischen Nord und Süd zirkulieren können, unddamit auch ihre Hintergrunderfahrungen, können entsprechende Netze entstehen.Hier wäre dann in Ansätzen die Spaltung von Wohlstands- und Elendsregionenüberwunden und die unterschiedlichen Lebens- und gegebenenfalls kämpferischen Erfahrungen der Menschen aus dem Norden und dem Süden könnten zusammenkommen.

Vorerst sind dies natürlich Fernzielemit eher utopischem Charakter. Ein entsprechender Dialog verlangt aber zunächstein entsprechendes Interesse von beiden Seiten und eine Sensibilitätfür die jeweilige Hintergründe.

In diesem Zusammenhang sehen wir eine gefährlicheTendenz innerhalb der Linken, die über Leitbegriffe wie "Zivilisation","Demokratie" (!) und ähnlichen zu extrem vereinfachten Erklärungenvon gesellschaftlichen Prozessen in den Ländern des Südens zurückkehren.Es gibt einige, die offenbar ein geringes Interesse daran haben, imperialistischeAusbeutung und Unterdrückung zu thematisieren, und antiimperialistischePolitik generell zu denunzieren versuchen. Manche entledigen sich schon ganzdes Imperialismus-Begriffs anstatt ihn zu aktualisieren und begrüssen lieber schon mal die nächsten Nord-Süd-Kriege.

Im Gegensatz dazu spricht die Mut machendeAntikriegs-Aktion vom 19.8. in Wilhelmshaven eine eindeutige Sprache. BeimBesuch des Flottillenadmirals Gottfried Hoch wurden sein Haus und Auto mitFarbe bedacht und demoliert. Wir finden, dass es zu einer antirassistischenPolitik gehört, die Ursachen zu bekämpfen, warum Menschen fliehenmüssen; Krieg ist eine davon.

Eine rassistische Politik wird aber nichtdurch militante Interventionen allein verhindert, sondern dadurch, dass eineunübersehbare Zahl von Menschen den unmenschlichen Umgang mit "dem Fremden"einfach satt hat und nicht mehr länger zuläßt. Es geht alsoum die Köpfe und Herzen der Menschen und einen langen Prozess von emanzipatorischemDenken und Handeln.

Allerdings erhalten linke Bewegungen erstdann eine entsprechende Brisanz und eine punktuelle Durchsetzungsfähigkeit,wenn die unterschiedlichen Ebenen, also Protest, ziviler Ungehorsam, Sabotageund die unterschiedliche Formen militanten Widerstandes zusammenkommen.

Wir wollen mit unserer Aktion in Zeiten relativerOhnmacht ein Zeichen setzen, und unserer militanten Kritik an den herrschendenZuständen Ausdruck verleihen. Wir wollen außerdem allen Mut machen,sich ebenfalls militant zu organisieren.

Für freies Fluten - Kein Mensch ist illegal
Gegen imperialistische Kriege - Im Irak und anderswo

Autonome Gruppen

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Ergänzungen

ein paar fragen und anmerkungen

säg dich frei, hab spaß dabei!!! 10.09.2002 - 15:52
es muß doch auffallen wenn ein stommast fehlt. wurde er angesägt oder umgesägt?
und nun die wichtigste frage: wie sägt mensch ohne geschnappt zu werden? peng?

Dumme Idee

erinnerer 10.09.2002 - 23:33
komisch, diese dumme Idee gab es schon mal. Die Anti-Akw leute haben scheiß Erfahrungen mit Mastenfällen gemacht. Das tut nicht nur manchmal weh, sondern kann auch tödlich sein

hat das nun stattgefunden oder nicht ?

Frager 11.09.2002 - 16:28
Infoläden in der ganzen BRD haben ein Poster bekommen auf dem der Strommast "hinfällt". Drauf ist: Kein Mensch ist Illegal Logo, Bezug auf die deportation class Kampagne, und die Grenzcamps 2002 (steht drauf), dazu die slogans: "die Dinge in Bewegung bringen" und "just do it". das Flugblatt lag auch bei.

Also ziemlich aufwendig als Initiative.

Was war der Sinn wenn es nicht stattgefunden hat ?

Für mich wirft das die Frage auf ob diese "autonomen Gruppen" nicht unnötig an der Eskalationsschraube drehen im aktuellen politischen Kontext.

Klärungsbedarf....

War wohl prahlerei

Clarissa 12.09.2002 - 00:46
Da war wohl wieder einmal jemand der Meinung, eine Meldung zu verbreiten heißt auch, sie real werden zu lassen. Der Flugverkehr in Schönefeld war jedenfalls zu keiner Zeit auch nur beeinträchtigt. Also entweder hat die Aktion nicht stattgefunden, oder es wurde etwas anderes umgesägt. Abgesehen davon spricht die ganze Aktion mal wieder für die schlechte Koordination derer, die sie angeblich durchgeführt haben. Die Abschiebungen finden nämlich fast alle von Berlin-Tegel aus statt und nicht von Schönefeld.

Der VS Brandenburg ...

Searcher 16.09.2002 - 13:40
... erwähnte die Strommast-Aktion auf der Seite  http://www.verfassungsschutz-brandenburg.de/sixcms/list.php?page=homepage_de:
"In der Nacht zum 4. September sägten Autonome bei Zeuthen einen Strommast an, weil sie die Stromversorgung des Flughafens Berlin-Schönefeld lahm legen wollten. Allerdings verfehlten sie ihren Zweck."