Die politische Halbierung des Nazi-§175

homo sapiens 29.05.2002 05:24
Von Linken als Erfolg verbucht, vom CSU-Abgeordneten Norbert Geis als Schande bezeichnet, ist die Aufhebung der Urteile gegen Homosexuelle in der NS-Zeit mehr als nur ein halbherziger Schritt. Die 50.000 Urteile vor bundesdeutschen Gerichten, die nach exakt demselben Gesetz gefällt wurden, bleiben davon nämlich unberührt. Vor allem aber kostet dem deutschen Staat seine großherzige Haltung auch 60 Jahre danach keinen Pfennig.
Der Deutsche Bundestag hat am Freitag vorletzter Woche gegen die Stimmen von CDU und FDP eine Ergänzung des NS-Aufhebungsgesetzes beschlossen. Danach werden die Urteile gemäß § 175 (Unzucht zwischen Männern) in der von den Nazis verschärften Fassung wenigstens bis 1945 pauschal aufgehoben.

Die Nazis hatten 1935 im Rahmen einer Umdefinition vom Vergehen zum Verbrechen nicht nur das Strafmaß des § 175 verdoppelt, sondern alles, vom Kuss über die "unsittliche" Berührung bis zum "lüsternen Blick", mit Haftandrohung belegt. Während der Geltung des Nazigesetzes bis zum Jahr 1969(!) wurden ca. 200.000 Männer mit zum Teil tragischen Folgen angeklagt, 100.000 verurteilt. Viele verloren ihre Arbeitsstelle oder wurden nach Verbüßung ihrer Haftstrafe von den Universitäten nicht mehr immatrikuliert. Andere nahmen sich bereits nach ihrer Vorladung das Leben oder landeten aufgrund einer Einweisung durch die Gestapo trotz Freispruch im Konzentrationslager. Der ehemalige KZ-Häftling Heinz Dörmer verbrachte insgesamt fast zwei Jahrzehnte hinter deutschen Gefängnismauern - auch nach 1945.

Nun sollen die Urteile bis 1945 aufgehoben werden, obwohl die Rechtsgrundlage danach, wenigstens in der BRD, die gleiche war. Das "Rechtsstaatsprinzip" mache die Aufhebung der rund 50.000 Urteile nach dem Zweiten Weltkrieg nahezu unmöglich, da die damaligen Urteile aus bundesdeutscher Sicht juristisch rechtmäßig ergangen seien, erklärt Günter Dworek, Referent der grünen Bundestagsfraktion und Sprecher des Lesben- und Schwulenverbands, in einem Ton, der fast so etwas wie Verständnis signalisiert. "Die Verurteilten haben auch keine Möglichkeit, vor dem Bundesverfassungsgericht gegen § 175 zu klagen – da der Paragraf ja nicht mehr existiert", zerstreut Dworek vorsorglich auch jede noch so leise Hoffnung der Opfer, dass ihnen einmal Gerechtigkeit widerfährt.

Warum sagt der Mann das? Dazu ein paar Hintergründe. Anfang der 90er Jahre verabschiedete sich der bürgerliche Teil der deutschen Schwulenbewegung vom innerlich zerstrittenen Bundesverband Homosexualität (BVH) und übernahm den DDR-Verband "SVD". In ersterem hatte er sich mit seiner auf den deutschen Staat fixierten Anerkennungspolitik, vor allem in Gestalt der Homo-Ehe, niemals durchsetzen können. In letzterem bildete er nun allein die Mehrheit und konnte so nach der schleichenden Auflösung des BVH den zu erwartenden Zustrom von Linken verhindern. Mit dabei auch damals schon Manfred Bruns, der als Bundesanwalt a.D. und LSVD-Sprecher heute offen zugibt, nicht nur an politischen Verfahren, sondern auch an Verurteilungen wegen § 175 beteiligt gewesen zu sein.

Ein offensives Vorgehen gegen die Urteile nach 1945 würde daher nicht nur die Biographie eines maßgeblichen Repräsentanten der bürgerlichen Schwulenbewegung in ein grelles Licht rücken. Es wäre darüber hinaus ein Affront gegen die Regierungsparteien, denen der LSVD seinen kometenhaften Aufstieg als alleinigen Ansprechpartner der rotgrünen Regierung in der Lesben- und Schwulenbewegung zu verdanken hat. Schier unfassbar erscheint es, dass die Opfer des § 175 nun verraten und verkauft sind, weil Verbandsfunktionäre vor allem ihre politische Karriere oder wie im Fall des ehemals verheirateten Bruns' die rückwirkende Legitimierung ihrer schäbigen Vergangenheit als Diener eines homophoben Staats im Auge haben.
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Ergänzungen

Zusatzinfo

30.05.2002 - 01:17
Der "Schwulen"-Paragraf 175 wurde in der BRD 1969 unter der Regierung Brandt reformiert, bestand aber bis 1994 fort. Er wurde auch nicht etwa abgeschafft, sondern fiel "aus einigungsbedingten Gründen" weg. Hierzu ist zu sagen, dass die DDR im Unterschied zur BRD nach Kriegsende zur Weimarer Fassung des "Paragrafen 175" zurückgekehrt war, die lediglich "beischlafähnliche Handlungen" (also Anal- und Oralverkehr) verfolgte. In den 60er Jahren wurden dort auf Weisung des Obersten Gerichts bereits alle Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt. 1968 schaffte der sozialistische Staat den homofeindlichen Paragrafen ganz ab. Im Rahmen der Rechtsangleichung zwischen BRD und DDR galt die Regelung, dass nach einer Übergangszeit, die 1994 verstrich, alle Paragrafen, die in der DDR kein Pendant hatten (wie der § 218), neu geprüft werden mussten, wenn sie nicht einfach wegfallen sollten. Da man sich in der BRD weder für eine Erneuerung des § 175 entscheiden konnte, noch für seine ersatzlose Streichung, entschied man sich in einem Kompromiss für die "Angleichung" des Schutzalters, das in der BRD für Heteros und Lesben bei 14 Jahren und für Schwule bei 18 Jahren lag. Das neue einheitliche Schutzalter sollte nun 16 Jahre betragen. Der Hintergedanke war selbstverständlich, dass Eltern unerwünschte Beziehungen schneller zur Anzeige bringen als sog. "konforme" Sexualität. In gewisser Weise verschwand die strafrechtliche Diskriminierung der Homosexualität in der BRD also nie ganz aus dem Gesetz, sondern wurde lediglich verschleiert. Ich selbst (27 Jahre) kenne übrigens noch Leute, die Anfang der 90er Jahre von ihren Eltern mit Verweis auf den § 175 zur Aufgabe ihrer Beziehung erpresst wurden, weil sie noch nicht volljährig waren. Bei einem schwulen Jugendgruppenaustausch mit der Tschechoslowakei sollen die bayerischen Behörden, wie mir damals berichtet wurde, die eingeladenen Jugendlichen sogar auf Spuren von Geschlechtsverkehr im Analbereich untersucht haben.

30.05.2002 - 01:19
PS: Ob das letzte wirklich stimmt, wage ich nicht mit Sicherheit zu behaupten, weil es sich lediglich auf Hörensagen stützt.

"Rechtmäßigkeit"

question 30.05.2002 - 12:58
zu dworeks bemerkung: sind die nazi-urteile nach damaliger zeit nicht auch "rechtmäßig" ergangen? wieso kann man die aufheben, die urteile nach '45 aber nicht? rechtlich besteht zwischen zwischen ihnen doch gar kein unterschied. das ist wirklich ein fall für die ideologiekritik!

Kompromiss?

drop 30.05.2002 - 21:05
Ihr schreibt, daß es ein Kompromiss sei, dass die "Angleichung" des Schutzalters, das in der BRD für Heteros und Lesben bei 14 Jahren und für Schwule bei 18 Jahren lag nun bei 16 Jahren für beide liegt.
Das ist wohl eher als verharmlosend einzustufen. Daß nun auch Lesben, die bisher nicht inkriminiert worden sind nun auch darunter fallen war nur den rechten Bestrebungen der Parteipolitiker zuzuschreiben. Nun kann also eine 19jährige Lesbe bestraft werden die mit einer 17jährigen eine Beziehung hat!

Korrektur des Beispiels

31.05.2002 - 00:03
Es stimmt zwar, dass sich die rechtliche Situation von Lesben 1994 verschlechtert hat. Das Beispiel, das du nennst, ist aber trotzdem falsch. Richtig wäre eines, bei dem eine 19-jährige mit einer 15-jährigen ins Bett geht. Das ist vor 1994 straffrei gewesen, heute nicht mehr.

Selbstkorrektur

31.05.2002 - 00:18
Ich habe nachgeschaut und muss mich selber korrigieren. Nach §182 sind "lediglich" sexuelle Handlungen zwischen Personen über 21 Jahren und Jugendlichen unter 16 Jahren strafbar. Das Beispiel müsste also nochmal entsprechend umformuliert werden.