Repression in Göttingen

encapuchada 11.12.2001 16:07 Themen: Repression
STAATSSCHUTZABTEILUNG DER GÖTTINGER POLIZEI VERSCHICKT ANLÄßLICH DES EU-GIPFELS IN BRÜSSEL DROHSCHREIBEN AN GÖTTINGER LINKE
Göttingen: Repression des Staatsschutzes im Vorfeld zu Brüssel

PRESSEMITTEILUNG der Roten Hilfe Göttingen
Göttingen, 09.12.2001


STAATSSCHUTZABTEILUNG DER GÖTTINGER POLIZEI VERSCHICKT ANLÄßLICH DES EU-GIPFELS IN BRÜSSEL DROHSCHREIBEN AN GÖTTINGER LINKE

Wie der Roten Hilfe Göttingen gestern bekannt wurde, hat das 4. Fachkommissariat (Abt. Politische Polizei) der Polizeiinspektion Göttingen am Freitag, den 07.12.2001 an mehrere Personen Briefe (sog. "Gefährderanschreiben") versandt, in denen man diese eindringlich warnt, an Demonstrationen gegen den bevorstehenden EU-Gipfel in Brüssel teilzunehmen. Wörtlich heißt es in dem uns vorliegenden Schreiben: "Um zu vermeiden, dass sie sich der Gefahr präventiver polizeilicher Maßnahmen im Rahmen der Gefahrenabwehr (bis hin zur Zurückweisung an der deutsch-belgischen Grenze) oder strafprozessualer Maßnahmen aus Anlass der Begehung von Straftaten im Rahmen der demonstrativen Aktionen aussetzen, legen wir ihnen hiermit nahe, sich nicht an den o.g. Aktionen zu beteiligen." (Rechtschreibfehler im Original)

Mittels dieser offen formulierten Androhung von Repressalien versucht die Göttinger Polizei scheinbar, Menschen von der Teilnahme an den europaweiten Demonstrationen in der belgischen Hauptstadt abzuschrecken. In dem Schreiben - das bezeichnenderweise nicht namentlich unterzeichnet ist und auch nicht auf dem offiziellen Postweg, sondern scheinbar durch Handverteilung in die Privatbriefkästen gelangte - wird ganz unverhohlen mit "Zurückweisungen" und "strafprozessualen Maßnahmen" gedroht, wenn dieser polizeilichen Forderung nicht nachgekommen wird. Seit wann, so fragen wir uns, entscheidet die deutsche Polizei darüber, ob jemand an einer genehmigten Demonstration in Belgien teilnehmen darf oder nicht? Anscheinend zählt für die Polizei das Versammlungsrecht in Europa nicht mehr: So sind die drei großen Demonstrationen am Wochenende vom 13.-15.12.2001 angemeldete und erlaubte Versammlungen, zu denen u.a. ein Netzwerk europäischer Gewerkschaften (u.a. der DGB), verschiedene sozialdemokratische, grüne und sozialistische Parteien, das Attac-Netzwerk, internationalistische und antifaschistische Gruppen sowie verschiedene Bürger- und Menschenrechtsgruppen mobilisieren.

Rote Hilfe solidarisch mit den Betroffenen Zum jetzigen Zeitpunkt sind uns vier Personen namentlich bekannt, die mit diesem Schreiben belästigt wurden; wir gehen aber davon aus, daß der angeschriebene Personenkreis weitaus größer ist. Ein Muster, nach dem gerade diese Personen ausgewählt wurden, versuchen wir noch zu ermitteln. Allen vieren gemein ist, daß sie weder vorbestraft sind, noch sonstige Hinweise vorliegen, die eine derart düstere Gefahrenprognose in irgendeiner Weise rechtfertigen könnte.

Felix Halle von der Roten Hilfe e.V. Göttingen erklärt dazu: "Wir werden prüfen, inwieweit hier der Tatbestand der Nötigung vorliegt und ob auch auf dem Wege des Dienstrechts gegen die hierfür Verantwortlichen vorgegangen werden kann. Wir empfehlen auf jeden Fall allen, die nach Brüssel fahren wollen, sich von derartigen Maßnahmen nicht einschüchtern zu lassen."

(Aus Göttingen fährt übrigens am Samstagmorgen, den 13.12.2001 ein vom DGB Göttingen gecharterter Bus zu den EU-Protesten nach Brüssel; Anmeldungen telefonisch beim DGB unter: 0551/44097)

Polizei Göttingen: Datensammeln auch gegen bestehende Gesetze Es ist darüberhinaus fraglich, ob die entsprechenden Daten der angeschriebenen Personen auf rechtsstaatlichem Wege gesammelt worden sind, da es sich z.B. teilweise bei den angegebenen Anschriften nicht um die offiziellen Einträge aus dem Einwohnermeldeamt handelt, ebensowenig um Daten von evtl. Personalienüberprüfung im Zusammenhang mit früheren Demonstrationen. Die Rote Hilfe Göttingen geht vielmehr davon aus, daß es sich bei den Datenbeständen um sog. "Handakten" bzw. "Lichtbildmappen" handelt, die seit vielen Jahren in einem halblegalen Rahmen vom 4. Fachkommissariat geführt werden. Diese Datensammlungen wurden und werden von den PolizeibeamtInnen eigeninitiativ und für den Eigengebrauch angelegt, um mittels dieser Datenfülle effektiver in verschiedenen Spektren der außerparlamentarischen Göttinger Linken zu schnüffeln. Neben Fotografien und Videoprints von DemonstrationsteilnehmerInnen sowie Namen und Adressen der betreffenden Personen enthalten diese Datensammlungen anscheinend auch Informationen über die persönliche Lebenssituation, das jeweilige politische Engagement, Verweise auf das politische wie soziale Umfeld und eine interne Klassifizierung. In der Vergangenheit ist der Einsatz solcher "Lichtbildmappen" immer wieder aufgezeigt worden, so u.a. vor dem Göttinger Amtsgericht, wo Beamte des 4. Fachkommissariats als Zeugen in politischen Prozessen geladen wurden und dort teilweise über diese Art der "Feindaufklärung gegen links" geplaudert haben. Noch einmal im Klartext: Das Anlegen derartiger Datensammlungen ist im Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetz (NGefAG) nicht vorgesehen und auch in keinster Weise mit den geltenden Gesetzen zur Regelung des Datenschutzes vereinbar!

Ein historischer Rückblick: der "SpuDok"-Skandal Zu erinnern sei auch an den sog. "SpuDok"-Skandal in Göttingen, der verdeutlicht, wie hartnäckig die hiesige Polizei an rechtswidrig entstandenen Datensammlungen festhält: Im Jahre 1982 wurde öffentlich, daß das damalige Göttinger Zivile Streifenkommando (ZSK, damals noch unter dem Namen "Aufklärungs- und Dokumentationsgruppe") zwischen 1981 und 1982 ohne ausreichende Rechtsgrundlage eine Computerdatei über die linke "Szene" Göttingens angelegt hatte. In diesen SpuDok-Datensätzen fanden sich neben Personenprofilen politisch aktiver Leute auch auch Listen von KFZ-Kennzeichen, von WohngemeinschaftsmitbewohnerInnen, Gästen bestimmter Lokale, TeilnehmerInnen bei politischen oder kulturellen Veranstaltungen, ZeugInnen bei HausbesetzerInnenprozessen, linksorientierte RechtsanwältInnen sowie StadtratskandidatInnen der damaligen "Alternativ-Grünen-Initiativen-Liste" AGIL (Vorläuferin der heutigen GAL-Fraktion). 1983 mußte, nachdem der "SpuDok"-Skandal mehrmals Thema im Landtag und den Medien war, das nds. Innenministerium die Löschung dieser Datei anordnen. Daß eine "unwiderrufliche Löschung" nicht automatisch die Vernichtung des Datenmaterials impliziert, wurde 1999 deutlich, als besagte Datensätze wieder in einem Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit einem Brandanschlag auf das Göttinger Arbeitsamt auftauchten, mit den gleichen Buchstabendrehern und falschen zweiten Vornamen wie 1982.

* Die Rote Hilfe Göttingen fordert eine restlose Aufklärung dieser skandalösen Polizeiaktionen und eine Rehabilitierung der betroffenden Personen!
* Wir fordern die Vernichtung besagter "Lichtbildmappen" und anderer rechtswidrig erfaßter Datensätze!
* Wir erklären uns solidarisch mit all jenen, die schon jetzt im Vorfeld von Demonstrationen von der Polizei eingeschüchtert, bedroht und öffentlich diffamiert werden!
* Wir rufen alle demokratischen Gruppen zum Protest gegen diese polizeilichen Einschüchterungsmaßnahmen und die damit intendierte Aushöhlung des Versammlungsrechts auf!

Wir werden zu diesem Thema gemeinsam mit den Betroffenen auch rechtliche Schritte gegen die Polizeiverantwortlichen prüfen.


Für Nachfragen der Presse:
Unser Mitarbeiter Hr. Steyer steht Ihnen überdies für Nachfragen oder Interviewwünsche telefonisch zur Verfügung unter der Mobilnummer: 0172-2854826. Auf Nachfrage können wir auch direkten Kontakt zu einzelnen Betroffenen herstellen.

Wir möchten Sie auch ersuchen, sich eigenständig noch einmal bei der betreffenden Polizeiabteilung zu informieren: Das 4. Fachkommissariat ist unter der folgenden Telefonnummer erreichbar: 0551-4913443, oder wenden Sie sich bitte direkt an den Pressesprecher des 4. Fachkommissariats, Hr. Frey: 0551-4913452.

Mit freundlichen Grüßen

Felix Halle
(Pressereferent der Roten Hilfe Göttingen)


Anlage:

Abschrift des sog. "Gefährderanschreibens" der Göttinger Polizei
(Rechtschreibfehler im Original!)

----Beginn----

Polizeiinspektion Göttingen
4. Fachkommissariat

37081 Göttingen, 07.12.01
Groner Landstr. 51
Tel.: 0551/4913443

Herrn/Frau
[handschriftliche Anschrift]

Gefährderanschreiben

Der Polizei Göttingen ist bekannt, dass sie im Zusammenhang mit versammlungsrechtlichen bzw. demonstrativen Aktionen polizeilich in Erscheinung getreten sind. Daher ist es nicht auszuschließen, dass sie auch in Zukunft an demonstrativen Ereignissen teilnehmen werden.

Für den 13.-15. Dezember 2001 sind demonstrative Aktionen gegen den EU-Gipfel in Brüssel geplant. Zu diesen Aktionen in Belgien rufen gewerkschaftliche-, studentische- und linksautonome-, Antifa-Gruppen, sowie sonstige Globalisierungsgegner auf. Bei gleichgelagerten Aktionen (z.B. Göteborg, Genua pp.) kam es in der Vergangenheit zu erheblichen gewaltsamen Ausschreitungen seitens einiger Demonstrationsteilnehmer. Auch während dieses EU-Gipfels ist damit zu rechnen.

Um zu vermeiden, dass sie sich der Gefahr präventiver polizeilicher Maßnahmen im Rahmen der Gefahrenabwehr (bis hin zur Zurückweisung an der deutsch-belgischen Grenze) oder strafprozessualer Maßnahmen aus Anlaß der Begehung von Straftaten im Rahmen der demonstrativen Aktionen aussetzen, legen wir ihnen hiermit nahe, sich nicht an den o.g. Aktionen zu beteiligen.

Dieses Schreiben ist maschinell erstellt und nicht unterschrieben

----Ende----
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Ergänzungen

Wandelt Wut in Widerstand

Geschichte kennen 11.12.2001 - 18:05