"Day 911" vs. "Antiglobalisierungbewegung"

Sven Glückspilz 02.10.2001 19:50
1.Teil - Über die Folgen der Attentate vom 11.September auf die globale APO (wiedergefunden!)
"Day 911" vs. "Antiglobalisierungbewegung"
Über die Folgen der Attentate vom 11.September
von Sven Glückspilz, Berlin

(Beim ersten Posten hat vermutlich ein fieser NATO-Router in USA unter NSA-Kontrolle den Text verschluckt, oder was?. Nächster Versuch. Don't blame indymedia)


Die Neigung der deutschen Linken, angesichts dramatischer Ereignisse in Bekenntniszwang und Erklärungskonkurrenz zu verfallen, wird durch den 11.September und seine Folgen gnadenlos gefüttert. Ich hoffe, dieser Falle einigermaßen entgehen zu können, und beziehe mich deswegen auch nicht auf die Texte anderer, von denen ich selbstverständlich zahlreiche gelesen habe.

Erwärmung

Es liegt in der Logik der Situation, daß nicht einfach frei von der Leber weg diskutiert wird, sondern der Versuch einer Verständigung über die Basis der Diskussion und der Diskutierenden am Anfang steht. Denn nicht nur das Ereignis selbst, auch seine möglichen Folgen haben sowohl emotional als auch praktisch eine gewaltige Dimension. Insofern kann ich verstehen, daß viele - auch Linke - das Bedürfnis haben, an erster Stelle ihre Gefühle auszudrücken (in den meisten Fällen: Schock und Entsetzen) und gleich danach von anderen einfordern, dasselbe Bekenntnis abzulegen. Allerdings ist dieses Bekenntnis an sich billig zu haben, und Gegenbeispiele innerhalb der deutschen Linken belegen vor allem den Trotz gegen diese Billigkeit, denn wer wäre nicht entsetzt über den organisierten Mord an 6000 Menschen? Die Verlängerung dieses Bekenntnisses in den Tabu-Bereich, indem das Entsetzen an sich zum rationalen Argument erklärt und damit jede weitere Diskussion und Analyse unmöglich gemacht wird, ist allerdings abwegig.
Ebenso abwegig ist das blinde Zusammenrühren der Begrifflichkeiten im emotionalen Schreckensbrei. Plötzlich gibt es für einige keinen Unterschied mehr zwischen Analysieren, Erklären, Begreifen, Verstehen, Rechtfertigen, Propagieren. Sie haben Aufklärung und Kritik an der Garderobe der Gefühle abgegeben. Wer meint, die Analyse habe angesichts der Monströsität des Ereignisses zu verstummen, und zwar nicht nur kurzfristig-subjektiv aus Betroffenheit, sondern überhaupt, verabschiedet sich damit aus der gesellschaftlichen Auseinandersetzung und überläßt sie denjenigen, denen er oder sie eben noch gegenüberstand. Andere haben bereits darauf hingewiesen, daß selbst die bisher vergleichslose Monströsität des Holocaust nicht der Analyse an sich verschlossen bleiben darf. Wer sich nicht bemüht, etwas zu begreifen, ist ihm letztlich hilflos ausgeliefert, ein Kaninchen vor der Schlange.
Es geht dabei nicht um gängige Relativierungen, wie sie gerade in Mode sind: 500.000 Ermordete in Ruanda vs. 6000 in New York vs. 300 in Palästina vs. 100 in Israel vs. 1 in Genua… was soll der Quatsch? Es ist offensichtlich, daß die Attentate vom 11.September auch innerhalb der deutschen Linken ganz anders wirken als andere Schreckensmeldungen.
Allein diese Tatsache zu analysieren, geht manchen schon zu weit, wird von ihrem Entsetzen erstickt. Vielleicht brauchen manche auch einfach noch etwas Zeit, bis sie den Schock überwunden haben. Die Medien haben in den Tagen nach dem 11.9. sehr effektive Trauma-Erzeugungs-Arbeit geleistet. Sie haben archaische Horden-Reflexe mobilisiert bei den Angehörigen des westlich-christlichen Kulturkreises: Feuer, Qualm und Steinschlag vom Himmel, Zorn der Götter, erschüttern unser Revier. Wir ziehen den Kopf ein, draußen heulen die Wölfe, wir scharen uns ums Lagerfeuer. Der Stamm ist stark, aber die Einzelnen schwach. Turbane und Schleier werden latent unheimlich (sind es Schläfer? - die Verlegung des Feindes ins Innere der Höhle). Solche Effekte des Zusammenrückens werden von den bürgerlichen Medien durchaus bewußt angestrebt und erfreut kommentiert. Sie sind auch nicht gerade neu als politischer Mechanismus. Wo Identitäten geschweißt werden sollen (nationale, religiöse, ethnische, ideologische…), hilft stets die Ausschaltung des Rationalen, eine banale Erkenntnis. Wenn eine solche Offensive mit großer Macht hereinbricht, werden auch Linke schwach, sei es bei Ausbruch des 1.Weltkrieges 1914 oder im deutschen Herbst 1977. Ich will damit ausdrücklich an dieser Stelle nicht denunzieren, nicht Verräter, Feiglinge etc. ausmachen, sondern einen objektiven Prozeß beschreiben, dem sich zu entziehen nicht einfach ist.
Die bisherigen Reaktionen jenseits der gesellschaftlichen Gleichschaltung haben überwiegend einen kaum weniger reflexhaften Charakter als eben diese selbst. Sie reichen vom "Bitte-kein-Krieg" der SchülerInnen über ein "Selbst-schuld" oder die erwähnten Relativierungen der aufgewühlten Nachdenklichen bis hin zu trotzigem Jubel und Schadenfreude auch bei Linken ("endlich hat es auch mal die USA erwischt"). Auf solchen Reflexen wuchern seit jeher auch Anti-Amerikanismus und Antisemitismus. Ich will hier keineswegs das Lied der Anti-Nationalen singen, die sich mit ihrem querulantischen Sektierertum längst aus der ernsthaften Debatte verabschiedet haben (was sie aber u.a. aufgrund ihrer überproportionalen Präsenz in linken Medien bisher selbst nicht bemerkt haben). Es ist jedoch unbestreitbar, daß gegen US-amerikanischen Militarismus spontan zehnmal mehr Deutsche auf die Straße laufen als gegen deutschen Militarismus, daß die (historisch eher junge als alte) wechselweise Bewunderung und Angst vor der Omnipotenz der Großmacht USA und ihrer B52-Bomber stark mobilisiert. Das Ressentiment gegen andere ist eben schnell geweckt. Bombenteppich-Händler ziehen los gegen Kamel-Teppichhändler… Heiliger St.Florian, verschon mein Haus, zünd' andre an - radikale Linke haben bereits in den 80er Jahren hinter der Massenmobilisierung der Friedensbewegung solche Gefühle vermutet. Antisemitismus spielt, meine ich, bisher noch keine Rolle dabei, aber das wird sich noch ändern. Dazu später mehr. Hier geht es darum, festzuhalten, daß die bisherigen Reaktionen, öffentlich wie privat, zu einem erheblichen Teil gespeist wurden aus der emotionalen Erschütterung und dem daraus resultierenden Handlungs- und Mitteilungsbedürfnis, nicht zuletzt kräftig geschürt durch die Medien.

Ground Zero

Ich möchte nur kurz auf die Attentate selbst eingehen, denn dazu ist schon viel gesagt und geschrieben worden. Ich betrachte einen Anschlag, der erkennbar darauf zielt, allgemein Angst und Schrecken zu verbreiten und Vernichtungsfantasien zu mobilisieren, als im Kern faschistisch. Die "Strategie der Spannung" faschistischer Bombenanschläge im Italien der 70er Jahre wie die Anschläge islamistischer Gruppen, die im Laufe der 90er Jahre eskaliert sind, verfolgen das Ziel einer aggressiven Zurichtung der Gesellschaft auf kriegerische und repressive "Lösungen".
Das heißt aber auch, sie verfolgen wirklich ein Ziel, sind nicht irrational. Die Definition der Irrationalität ist so oder so problematisch, da sie immer auch von der Definitionsmacht derer abhängt, die darüber diskutieren. Im Wertesystem einiger islamistischer Organisationen ist es keineswegs irrational, sich mit einer Bombe um den Bauch selbst zu sprengen. Noch in den 80er Jahren gab es kritische Stimmen aus dem arabischen Raum, die die Vorstellung vom Selbstmordattentäter (dem das Paradies versprochen wird) als westliche Projektionen, als rassistischen Mythos vom "irrationalen Araber" kritisierten und feststellten, die ersten Selbstmordattentäter seien in Wirklichkeit getäuscht worden von ihrer Organisation, ihnen sei ein lebendiges Entkommen vorgegaukelt worden. Das hat sich offensichtlich geändert. Es hat sich ein in sich logisches System herausgebildet, das Männer offenen Auges in den Tod gehen läßt. Dieses System setzt sich vermutlich aus religiöser Ideologie ebenso zusammen wie aus der verrohenden Erfahrung einer brutalisierten bzw. gar von Krieg bestimmten Umwelt und auch aus dem typischen Interesse eines Apparates (hier des islamistischen), weiterzuexistieren und sich seine Legitimation nach Bedarf zu schaffen. (Soweit ich weiß, ist die linke Ideologie die einzige, die die bewußte Aufgabe des Kampfes kennt - sowohl Radikale wie die RAF als auch der komplette Herrschaftsapparat der DDR haben sich seinerzeit faktisch kampflos aufgelöst, was kein bürgerlicher, rechter, religiöser Apparat je tun würde - provokative These?). So gesehen, ist es für Linke naheliegend und klar, ihr ehrliches Entsetzen über die Attentate auszudrücken.
Es gibt eine zweite Seite, die nicht allein von der Relativierung, der Herstellung von historischen und anderen Zusammenhängen lebt. Es gab die "klammheimliche Freude" über die Erschießung von Generalbundesanwalt Buback 1977 selbst bei entschiedenen Gegnern der RAF, die offene Freude radikaler Linker über andere Attentate, sei es die Sprengung Carrero Blancos durch die ETA in den 70ern in Spanien, sei es die von Bankchef Alfred Herrhausen 1989 durch die RAF oder die Autobombe der IRA im Londoner Bankenviertel vor einigen Jahren. Nicht wenige radikale Linke sind in Berlin schon am Potsdamer Platz vorbeigefahren, oder am Kanzleramt, und haben gedacht: da müßte mal 'ne Bombe… Das hat nichts zu tun mit Menschenverachtung und Zynismus, wie selbsternannte Moral- und Sittenwächter von "Spiegel" bis "taz" gerne fantasieren, sondern ist die Gefühlslage der faktisch Ohnmächtigen im Angesicht der Macht. Die Zerstörung von Symbolen der Macht erweckt ein spontanes Gefühl der Erleichterung bei vielen. Und es ist nun einmal so, daß unser Denken auch Menschen in ihrer symbolischen Rolle wahrnehmen kann und von ihrer konkreten Persönlichkeit abstrahiert. Je nach eigener moralischer und humanistischer Befindlichkeit wird sich das verschieden äußern, und manches Mal wird ein solches Gefühl, selbst empfunden, voll Beschämung unterdrückt werden, weil es den selbstgesteckten Maßstäben widerspricht. Leider sind derartige Gefühle weder durch Tabuisierung noch durch wortreiche Geißelung abzuschaffen, sondern letztlich nur durch eine Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen, in denen wir existieren. Und die Verweigerung der Kommunikation darüber von Seiten der vermeintlich moralisch Sicheren unter Berufung auf vorher abzulegende Bekenntnisse verweist auf deren eigentliche Unsicherheit, auf den Tunnelblick, den der durch die äußeren Verhältnisse (mediales Trommelfeuer) wie durch eigene Betroffenheit bedingte Streß erzeugt. Ich will, wiederum, weder diese Position denunzieren noch die derjenigen Linken, die mit Schadenfreude reagieren. Beide emotionalen Reaktionen kann ich verstehen, und beide sind weit entfernt von einer analytischen Sichtweise.
Die Einordnung der Attentate vom 11.September in einen politischen und historischen Kontext ist möglich und nötig. Natürlich repräsentieren sie nicht den heroischen Kampf unserer Brüder und Schwestern in der "3.Welt" gegen die imperialistische Metropole. Sie, also die Täter, legen keinen Wert auf die linke Analyse des Geschehens. Sie sehen uns nicht als Brüder und Schwestern, zum Glück, sondern als metropolitane Masse im Bündnis mit den Mächten des Bösen, die den Westen beherrschen. Insofern gibt es für uns keinerlei Veranlassung, Gemeinsamkeiten zu suchen.
Auch die Sorge, linke Indifferenz gegenüber politischer Gewalt habe solche barbarischen Angriffe befördert, zeugt mehr von egozentrischer Spiegelung eigener Befindlichkeit als von realer Einschätzung der Kräfteverhältnisse. So richtig es ist, darüber zu diskutieren, inwieweit es in Deutschland Zusammenhänge zwischen der Etablierung militanter Straßenaktionen durch die Linke einerseits und deren Aufgreifen durch rassistischen Mob 1991/92 andererseits geben könnte, so absurd ist es, auch nur ETA-Aktionen, geschweige denn islamistische, in irgendeinen Zusammenhang mit Zuspruch aus der deutschen Linken zu bringen. Diese Frage muß andersherum gestellt werden: Sei es die Verstrickung deutscher bewaffneter Gruppen in den 70er Jahren in den Palästina-Konflikt, sei es die Farce der "Anti-Imperialistischen Zelle" AIZ Mitte der 90er Jahre - es gibt offensichtlich in der deutschen radikalen Linken seit jeher ein kleines Spektrum, das sich zu leicht blenden läßt von Solidarität und dem vermeintlichen Auffinden "wahrer" revolutionärer Subjkete und darüber andere Maßstäbe revolutionärer Politik über Bord wirft. Sprich: der Schwanz wedelt nicht mit dem Hund, sondern andersherum.
Andererseits gibt es objektive tatsächliche Konflikt- und Herrschaftsverhältnisse, und so betrachtet sind die Attentate sehr wohl langfristiger Ausdruck einer Auseinandersetzung, die sich bis in die Zeit der römischen Eroberungen auf dem asiatischen Kontinent zurückverfolgen läßt. Der Islamismus wäre vermutlich nicht in der Form entstanden, die er heute hat, wenn die kolonialen und postkolonialen Interessen und Kämpfe der westlichen Staaten (bzw. Ökonomien) im arabischen Raum nicht stattgefunden hätten. Und wäre er dennoch entstanden, hätte er sich anders geäußert.
Noch allgemeiner gesprochen, produziert ein System der auf allen gesellschaftlichen Ebenen aggressiven, expansiven Produktion auch die entsprechenden Menschentypen. Die Waffen, die gebaut werden, um die Konflikte innerhalb dieses Systems auszutragen, können in jede Richtung feuern, und das tun sie auch früher oder später. Das Patriarchat gebiert Krieger, die sich ihre Kriege eifrig suchen. Nicht zuletzt dieses Erkenntnis läßt uns doch für eine Welt kämpfen, die frei von diesen Herrschaftsformen ist. Darauf hinzuweisen ist umso nötiger, als von den Herrschenden und von den Medien gerade jetzt ein ahistorisches Weltbild entworfen wird, um uns für ihre Indoktrination zu öffnen: Ground Zero, das heißt: vor dem Attentat gab es nichts. Dagegen müssen wir uns wenden.

Big politics

Die Medien spielen ihre Rolle bisher reibungslos. Oder, um genauer zu sein: sie produzieren die Reibungen, die den gesamten Prozeß befördern. Wie erwähnt, haben sie in einer ersten Phase durch die dauernde Reproduktion der Eindrücke eine - unwissenschaftlich gesprochen - kollektive Traumatisierung in den Staaten der "westlichen Allianz" herbeigeführt. Alle Gefühle und Gedanken hatten sich dem Schrecken unterzuordnen, waren an ihm zu messen. Kaum jemand wird sich dem Gefühl von "nichts wird mehr so sein wie vorher" entzogen haben können. Dabei gilt das so in der Realität mit Sicherheit nur für eine sehr kleine Minderheit.
Indem sofort der Krieg ausgerufen wurde, begann (zeitlich teils parallel) die zweite Phase. Die ständige Thematisierung des Krieges macht die Gesellschaft mental reif dafür. Dazu gehören ebenso die kritischen Stimmen. Ob dafür oder dagegen, niemand zweifelt am Ausbruch des Krieges an sich. Es ist allen freigestellt, sich Vorräte anzulegen oder sicherheitshalber Gasmasken zu kaufen, oder auch nicht. Dieses Sturmreif-schießen der gesellschaftlichen Diskurse bereitet den Boden für zwei Konsequenzen: die innere Aufrüstung und Militarisierung der westlichen Staaten einerseits und die Ausschaltung der radikalen Opposition andererseits - ganz unabhängig davon, ob der Krieg nun kommt oder nicht. Wer glaubt, nun würden Bush oder Schröder als nächstes folgerichtig zu Militärdiktatoren mutieren, liegt ganz falsch und unterschätzt die Komplexität und Krisenanfälligkeit der "westlichen Wertegemeinschaft". Vielmehr sind die Medien und ihre Zulieferer in eine dritte Phase eingetreten, die der Relativierung und Nachdenklichkeit. Indem die Besonnenheit und Zurückhaltung der Kriegsstrategen vorgeführt wird, wird dem ersten Aufkommen von Opposition der Wind aus den Segeln genommen und der Kriegsmaschine die Zeit verschafft, die sie braucht, um von der Mobilmachung zum Angriff zu kommen. Wie schon 1991 im Irak-Krieg wird der Öffentlichkeit vorgemacht, daß kein Grund zur Besorgnis besteht, denn die Kriegsziele seien klar, präszise, mit chirurgischer Präszision auszumachen und auszuschalten. Wo dies in linksliberalen Medien erleichtert aufgenommen und gelobt wird, zeigt es nur deren Unfähigkeit zur Analyse der Situation. Wer Präsident Bush allzuoft auf Seite drei als dummen kleinen Jungen karikiert hat, der unberechenbar jähzornig sein könnte, glaubt vielleicht am Ende selbst, so laufe "große Politik" wirklich. Aber auch der Zweifel an solchen Thesen findet seine Plattform. "Clean war" oder "dirty war" - aber "war anyway".
Ich bezweifle nicht, daß die führenden Köpfe der westlichen Allianz wirklich wütend sind und daß der Rachegedanke als motivierender Faktor und Legitimationsmuster eine wichtige Rolle spielt. Aber ebenso klar ist, daß strategische Planungsstäbe in den diversen Sicherheitsräten und Gremien keineswegs emotional handeln, sondern kalt kalkulierend jetzt alte Pläne hervorholen oder neue entwickeln, die von konkreten Interessen bestimmt sind und nicht von Wut, und zwar von Interessen eines breiten Spektrums zwischen lokaler Taktik und Geostrategie. Auch die früheren "Vergeltungsschläge" folgten solchen Interessen. Die Logik dieser Interessen ist kritisierbar, ebenso wie die Logik der Interessen islamistischer Gruppen, aber nichtsdestotrotz existieren beide.
Der Islamismus, zu dem ich weiter unten im Exkurs zum Islam noch mehr schreibe, ist weder ein einheitliches Projekt noch eindeutig abgrenzbar gegen "den Islam" oder "die arabischen Massen". Der Islamismus, der jetzt als Feind des Abendlandes ausgemacht wird, ist in den letzten dreißig Jahren langsam herangewachsen und hat sich in der islamischen Revolution im Iran 1979 erstmals lautstark artikuliert. Seit damals wird im Abendland die Furcht vor dem "clash of civilisations" gehandelt. Im Westen hat das eine neue "Domino-Theorie" entstehen lassen, mit der Folge, daß die Geostrategie stark darauf ausgerichtet ist, keine weiteren strategisch wichtigen Staaten "kippen" zu lassen (etwa Saudi-Arabien, Ägypten, Türkei). Ich würde vermuten, daß der Abbruch des Irak-Feldzuges 1991 durchaus in diesem Zusammenhang zu sehen ist. Der Fortbestand des Hussein-Regimes bedeutete dreierlei: Die Region blieb instabil und für westliche Interventionen offen, die Vermeidung eines Machtvakuums im Irak verhinderte eine Ausdehnung des Hinterlandes der PKK (Kurdistan), und etwaigen islamistischen Kräften im Irak wurde der Zugang zur dortigen Macht versperrt. Für die radikale islamistische Bewegung gibt es heute zwar regionale und soziale Basen, aber auf nationaler Ebene sehen sie sich nicht nur mit den lokalen Regimes, sondern eben auch mit den westlichen Interessen konfrontiert. Die Mobilisierung der islamischen (nicht nur der arabischen!) Massen zum internationalen Aufstand dagegen ist ihre einzige reale Chance.
Das ist das derzeit öffentlich vielzitierte Problem der westlichen Militärmaschine: Wie einen Krieg führen, ohne den Aufstand der Muslime zu provozieren? Wie mache ich ein Flächenbombardement, ohne einen Flächenbrand auszulösen? Ich möchte vermuten, sie werden keine Lösung finden. Wahrscheinlich ist eine Entwicklung, die dem Vietnam-Krieg ähnelt: Eine Stärkung regionaler Mächte durch Waffen, Berater und Spezialeinheiten, eine nachfolgende langsame Steigerung der Eskalation, verbunden mit der Hoffnung, der Wegfall von Sowjetunion und China als geostrategische Counterparts werde die Entwicklung grundlegend anders als in Indochina verlaufen lassen.
Ohne diese damalige Konstellation hätten die USA durchaus gute Chancen gehabt, ihren Indochina-Krieg zu gewinnen. Heute werden sie sich statt mit zwei starken Gegenmächten konfrontiert sehen mit einem Sack voll regionaler Flöhe, die verschiedenste Partikularinteressen in den Konflikt hineinmischen wollen, verstärkt durch die Tatsache, daß die übernationale Bindungskraft der "islamischen Identität" im Falle der Eskalation diverse lokale Teilfronten eröffnen könnte. Ich sehe noch andere Unterschiede zum Indochina-Krieg: Es gibt diesmal von Anfang an eine Medien-Strategie der westlichen Staaten. Dadurch werden die Medien, in Vietnam im scheinbaren Stadium der Unschuld, zum offiziellen Terrain des Konfliktes. Ein Pluspunkt für die Kriegsstrategen. Zweitens, die bereits existierende oppositionelle Mobilisierung gegen Globalisierung und Krieg ist stärker als damals. Ein Minuspunkt für die Kriegsstrategen. Drittens, globale Systeme von Ökonomie und Geldhandel sind instabiler als in den 1960er Jahren. Da wage ich kein Urteil. Für manche Wirtschaftssysteme ist Krieg ja ein wahrer Segen…

Ende 1.Teil

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Ergänzungen

Whow

paul 03.10.2001 - 01:17
Whow...

Wie muesste vorgegangen werden?

Miriam Grob 03.10.2001 - 07:13
Hallo Sven!
Gratulation, ich finde du hast die Systeme, die unsere Hirne lenken oder besser domininieren sehr gut verstanden und in Worte gepackt. Mir faellt es die Tage sehr schwer ueber meinen Frust ueber die Geschehnisse in dieser Welt hinwegzukommen und klaren Gedanken zu fassen. Deshalb finde ich es hilfreich Artikel wie deine zu lesen.

Es stellt sich mir die brennende Frage (ich erwarte natuerlich keine alles loesende Antwort):
Wie muesste vorgegangen werden?
Welche Sofortmassnahmen wuerden zu gewaltlosen Loesungen verhelfen?
Welche politischen Massnahmen waeren im langfristischen Sinne hilfreich um Zufriedenheit fuer jederman zu schaffen?

Eine naive Wunschvorstellung meinerseits waere, dass sich fuehrende Politiker der Islamischen Staaten und der USA nach einem 11. September umgehen zum Dialog zusammensetzen und versuchen zu verstehen was die Beweggruende fuer ein terroritisches Attentat waren.

Ich schreibe diesen Kommentar in erster Linie, um vielleicht einige hilfreiche, auch gut in Worte gefasste Kommentare zu meiner Frage zu bekommen...

nun ja

durutti 03.10.2001 - 14:11
das einzige was mich stört, ist, daß davon ausgegangen wird,daß "islamische selbstmordattentäter" für diesen anschlag verantwortich sind. ich bin zwar kein freund von verschwörungstheorien, finde es aber bedenklich, wenn einfach die behauptung der us-regierung kritiklos übernommen wird. die kommt nämlich bis heute ohne beweise für ihre behauptung aus.

Buenaventura 03.10.2001 - 18:28
hallo Namensbruder! ich find den Text auch gut, mehr davon auf IMC!

Islamischer Faschismus

Utz Anhalt 04.10.2001 - 01:58
Vielen Dank für deine fundierte und sachliche Analyse. Ich möchte noch ergänzen, dass, vorausgesetzt, es waren islamistische Attentäter die intuitive klammheimliche Schadensfreude fehl am Platz ist. Die reaktionären Strömungen des "Islamismus", mit denen wir es hier zu tun, sind ideologiegeschichtlich durchaus ein islamischer Faschismus und zwar nicht nur in der linksinflationären Gebrauchsweise des Begriffs (brutale Gewalt, Diktatur etc.), sondern in der weltanschaulichen Basis, das heißt, eine rückwärtsgerichtete Antiutopie, die eine phänomenologisch revolutionsähnliche Dynamik erhält, pseudoreligiös spiritualisiert Massen bündelt und eine Totalität der aggressivsten reaktionärsten Kräfte mobilisiert. Dazu gehört in diesem islamischen Faschismus auch die antisemitisch und antiwestlich (aber im Sinne von antidemokratisch) definierte radikale Ablehnung der tradierten Eliten, um diese im Todessprung ins Nichts hinein ultrarechts zu überholen. die Bilder des World Trade Centers hatten wir in kleinerem Maßstab im zweiten Weltkrieg tausendfach, als Eliteeinheiten der Waffen SS sich mit hypermodernem Militärgerät mit neuheidnischen Walhallagesängen auf den Lippen im Selbstmord in die feindlichen Stellungen warfen.

Für die Zukunft einer Antikriegsbewegung ist es meiner Ansicht nach zwingend erforderlich, sich mit den spirituellen Wurzeln faschistischer Ideologie und vor allem ihrem Pendant in der islamischen Welt auseinanderzusetzen, um nicht von falschen Assoziationen (Antiimperialistischer Schlag etc.) geblendet zu werden. Faschisten zeichnen sich dadurch aus, dass sie bewußt nicht zwischen dem Symbolwert einer Sache und konkreten Menschenleben unterscheiden. Für islamische Faschisten war das World Trade Center nicht der Dreh- und Angelpunkt des Kapitalismus, sondern des "amerikanisch-jüdischen Mammonismus". Das Beispiel Horst Mahler zeigt, wie fatal es sein kann, eine Kritik an den bestehenden Verhältnissen in einen Antiamerikanismus zu pervertieren. Dieser Angriff war vor allem ein Angriff auf 1789 mit den Mitteln und der Leere der Postmoderne. Wir haben es mit unserem Todfeind zu tun.

Nachtrag

Utz 04.10.2001 - 02:21
Ihr könnt Artikel zu dem Komplex Spiritualismus und Faschismus auch finden unter www.sopos.org

Zustimmung und Widerspruch

thilo pfennig 04.10.2001 - 09:24
Zunächst ist es natürlich quatsch irgendeinem "NATO"-Router irgendwas zu unterstellen. Das scheint mir technisch nicht möglich zu sein. Im Gegensatz zum Rest des Textes ist das eine relativ unrefflektierte Unterstellung. Die NATO ist nicht allmächtig.

Da ich vielem insgesamt zustimme möchte ich mich auf meinen Widerspruch konzentrieren:

1.) Diese Anschläge sollen nicht Angst und Schrecken auslösen sondern die Symbole unserer Zivilisation zerstören ebenso wie die Zentren der Macht und den Mythos der Unangreifbarkeit zerstören. So zumindest übersetze ich das, was ich gehört und gelesen habe. Ich würde allerdings sagen, daß die Islamisten sich hier leider getäuscht haben und mit eben solchen Anschlägen, die Menschenleben verachten (sie achten auch ihr eigenes Leben für "ihre Sache" als geringer) nur bewirken, daß der Nord-Süd-konflikt zunimmt und eine Verstärkung von Rassismus und Islamfeindlichkeit im Westen. Zum Teil aber vielleicht auch wurden einige Leute aufgeweckt, daß die kulturelle Ignoranz und Dominanz nicht so weitergehen kann. Und so komme ich auch zu Punkt
2.)
Die Frage inwieweit man mit solchen Attentätern keine Gemeinsamkeiten hat finde ich zynisch. Zuerst sollte das Mitleid für alle stehen und dann die Gleichheit jedes Menschen. Die Frage ob ein Terrorakt aus dem eigenen politischen Dunstkreis kommt und somit Rechtfertigung erfahren würde entspricht genau der europäisch-amerikanischen Denkweise von "Denen" und "Uns", die ja auch in unserer Gesellschaft bei verschiedenen politischen Gruppierungen angewendet wird. Oder auch zwischen Arm und Reich. Im Kern aber sind diese Unterschiede m.E. eben aber Illusion und eben nicht festgeschrieben. Das Problem sind Leute, die die Welt nach links und rechts oder arm und reich einteilen. und somit auch zu Punkt
3.)
Leute, die daran denken so eine Bombe aufs Kanzleramt wäre lustig oder daran denken welche Leute sie gerne nach einer Revolution ... unterscheiden sich nicht großartig von den Attentätern in Amerika oder von den amerikanischen Politikern, die den Krieg vorbereiten. Auch die Ohnmacht ist eine Illusion. Ich möchte aber nicht wissen, was solche Leute machen würden, wenn sie tatsächlich die Macht hätten. Wozu zu viel Macht in falschen Händen führen kann hat uns ja die Geschichte bereits oft genug gezeigt.

Einen Aspekt würd eich noch betonen (ich beziehe mich hier nur auf Teil 1): Was unterschätzt wird ist die andere Wirklichkeit in der Leute in islamischen Ländern leben oder gar in Palästina. Die Anschläge in New York sind Ausdruck von Wut, Ohnmacht und Verzweiflung. Es wird manchmal vergessen, daß die Attentäter ihre eigenen Leben gegeben haben für den Glaube daran, etwas verändern zu können. Ich glaube nicht, daß diese Überzeugung sich zufällige Opfer sucht um eine islamische Dominanz aufzubauen. Ich denke das diese Taten als eine Art Verteidigung betrachtet wurden. Und die Ungerechtigkeiten die weltweit vorherrschen sind vielen heir doch bekannt? Im Grunde ist es sekundär auf Basis welcher Ideologie oder Philosophie der Widerstand erfolgt. Das ist eine persönliche Sache. Ich wünschte mir natürlich Leute mit mehr Verstand, die zu keinem Mord bereit wären. Aber was will man im Zeitalter der Globalisierung und des nachhaltigen Krieges gegen die Mehrheit der Weltbevölkerung erwarten?

Ich hoffe auf einige positive Effekte und sehe die auch. Manche Leute nehmen jetzt wahr, daß es da ein Problem gibt mit der Weltmacht USA