Der Leopardentraum 1

Einzelperson 02.10.2001 16:50
Dieser Text zur globalisierungskritischen Mobilisierung wurde vor dem 11.9. geschrieben. Vielleicht interessiert er noch jemanden - Teil 1 -
Der Leopardentraum (Teil 1)


I

Es war einmal

Vor langer, langer Zeit war ich an verschiedenen "Kämpfen" und "Zusammenhängen" beteiligt: Anti-AKW, Häuserkampf, Antifa usw. Die üblichen Verdächtigen. Ich besetzte Häuser, demonstrierte, klebte Plakate, sprühte Parolen, ärgerte mich mit der Polizei herum, beobachtete Prozesse, blockierte Atomtransporte, schrieb Flugblätter und verteilte sie, malte Transparente, sammelte Geld, usw. usf. Ich gehörte wohl zu dem, was man heute wie damals als "Schwarzer Block" verunglimpft (wir lachten schon damals herzlich über die Organisationsphantasien der Bullen), und verstand mich als Anarchist, der Marx für wichtig hielt.

Es war alles sehr mühsam. Die Aktivbürger wollten uns am liebsten vergasen. Die Studenten machten lieber studentische Politik. Arbeiter riefen uns zu, doch endlich arbeiten zu gehen. Manchmal arbeitete ich in Fabriken und traf dort nichts an als die Sehnsucht nach dem nächsten Auto. Die Nazis waren genau die Arschlöcher, die sie heute auch sind, und die Bullen waren ganz sie selbst (auch damals schon war der Unterschied nicht immer zu erkennen). Die liberale Linke hielt uns für schwarzrot verkleidete Nazis, weil wir uns nicht distanzierten (von wem auch immer). Die damals noch existenten K-Gruppen waren uns genauso suspekt wie der DDR-Sozialismus.

Revolution war für uns ein Thema, aber keine Perspektive. Wir wußten nicht genau, was für eine Revolution wir uns vorstellen sollten. Am ehesten noch schwebte uns eine Art Räterepublik vor, eine Mischung aus München 1919 und Madrid 1936, dazu eine Prise "bolo bolo" von PM, ein wenig Marx, ein wenig Bakunin, et voilà. Der Begriff "Klasse" war extrem verwaschen, weil die "Klasse" extrem verwaschen war. Wir begriffen uns nicht als Avantgarde, nicht als revolutionäres Subjekt, nicht als Untergrund. Wir nannten uns gegenseitig nur mit Vorbehalt "Genossen", weil das die Sozialdemokraten und die Parteisozialisten, denen wir gleichermaßen mißtrauten, auch taten. Meistens waren wir mit irgendeiner Kampagne beschäftigt genug. Ich kritisierte den Hauruck-Revolutionismus, der bei manchen Genossen Platz griff, als lächerlich. Sie hielten mich deswegen für einen Zyniker.

Persönlich kann ich nicht behaupten, großer Repression ausgesetzt gewesen zu sein. Andere traf es schon eher: 129a, herbe Prügel, eine haputtgeschlagene Hand, Rausschmiß beim Job, Auftritt des Staatsschutzes bei den Eltern, Verhöre, jahrelange Prozesse.

Aber 1989 war Schluß. Ich war erschöpft von dem Kleinkram einer ohnehin nur schwammig definierten Revolution, die auf absehbare Zeit nicht stattfinden würde. Auch von unseren Niederlagen (keines der Häuser, das wir besetzten, konnte gehalten werden). Auch von dem ganzen, endlosen Gerede in verrauchten WG-Küchen. Auch von den ewigen Punkkonzerten. Auch von dem Gezeter der Tattergreise, die mit erhobenem Krückstock vor unseren Infotischen standen, und uns zum wiederholten Mal und immer wieder und immer noch einmal vergasen wollten. Dazuhin war ich von den Genossen enttäuscht. Ich hatte noch nicht begriffen, daß eine gemeinsame politische Gesinnung kein Garant dafür ist, daß man einander mag. Oft waren persönliche Sympathie und politische Präferenz schlecht vereinbar, ja, in meinem "Zusammenhängen" hielten sich genug Leute auf, denen ich "privat" lieber aus dem Weg ging. Von heute aus sieht die Verwirrung darüber wie ein geradezu kindliches Mißverständnis aus, damals war mir selbstverständlich, daß das Private ohne wenn und aber auch in diesem Bereich unmittelbar politisch zu sein hatte. Eine rigorose Idee von der Einheit des Denkens, Fühlens und Handelns, die von derWirklichkeit verworfen wurde. Ich warf das Handtuch.


II

Der Leopard

Neulich hatte ich mir im Traum einen Leoparden eingefangen. "Ich muß ihn wohl im Zoo betäubt und zu mir nachhause gebracht haben": So erklärte ich mir in diesem Traum, plötzlich der Besitzer eines Leoparden zu sein. Was für eine Angst kroch in mir hoch! In meinem Zimmer, gleich neben mir, lag ein lebender Leopard! Er würde sicher gleich aufzuwachen! Ich schlich mich mit klopfendem Herzen hinaus und verschloß die Tür hinter mir. Ratlosigkeit. Es war gewiß illegal, einen Leoparden in einer normalen Wohnung zu halten. Man würde Fragen stellen. Zu der Angst vor dem Tier kam die Angst vor der Polizei hinzu.


III

Ich könnte zu der neuen Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung die Haltung einnehmen, daß ich all das kenne: been there, done that. Siehe oben. Nur würde ich mir damit in die Tasche lügen. Denn die Lage hat sich verändert.
Es dürfte mittlerweile durchgedrungen sein, daß das Verschwinden des Ostblocksozialismus nicht zu einer Welt des Friedens und der Gerechtigkeit geführt hat. Die ärmsten Länder der Erde sind ärmer als vor zehn und zwanzig Jahren, und es sind noch ein paar neue hinzugekommen. Es gibt mehr Kriege, mehr Unterdrückung, mehr Armut und mehr Elend auf dieser Welt als vor 1989. IWF, Weltbank und andere Organisationen haben als die Inkassounternehmen des weltweit operierenden (Finanz-)Kapitals arme Schlucker am Kragen, denen das Wasser ohnehin schon zum Hals steht. Per se ist das nichts wirklich neues, nur die Beschleunigung dieses Prozesses und seine geografische Verschiebung bis an die Grenzen der ersten Welt hin (und darüberhinaus) lassen eine neue Qualität erkennen. Im Vergleich zu dem raketenbewehrten Gleichgewicht des Schreckens zwischen einem gezähmten und gehandicappten Kapitalismus auf der einen und einem versteinerten Staatssozialismus auf der anderen Seite sieht die Welt von heute erstaunlich unattraktiv aus.

Von Deutschland aus gesehen beginnt die dritte Welt jetzt hinter der polnischen Grenze. Auf dem Balkan, der nach dem Untergang des Ostblocks zur Plünderung freigegeben wurde, läßt die Festung Europa - mal im Einklang mit, mal in Konkurrenz zu den USA - ihre Muskeln spielen. Eine neue imperialistische Supermacht Europa ist im Entstehen, die sich ihren Anteil am Kuchen sichern will, und Deutschland beansprucht innerhalb dieser Supermacht eine Führungsrolle. Tausende deutsche Soldaten, die zusammen eine echte kleine Kolonialarmee ausmachen, stehen im Ausland. Die gesamte Bundeswehr wird zu einer weltweit handlungsfähigen Interventionsarmee umgebaut, und man ist sich nicht zu fein, den Grund dafür laut und deutlich auszusprechen: Der Nachschub und die Verwertungsbedingungen für die deutsche Wirtschaft sollen, wenn nötig mit aller Gewalt, gesichert werden.

Gleichzeitig geht mit diesem Prozeß der Sicherung und Verschärfung der kapitalistischen Weltherrschaft etwas wirklich Neues innerhalb der reichen Länder einher. Zum ersten Mal sinkt in der ersten Welt der Lebensstandard einer überwältigenden Mehrzahl der Bevölkerung. Das läßt sich nicht nur ablesen an den sinkenden Reallöhnen, oder an der Tatsache, daß ganze Regionen durch den Niedergang der Montanindustrie auf dem Abstellgleis deponiert werden. Auch die sekundären Auffangmechanismen, das Netz, das seit Bismarcks Sozialgesetzgebung die extremen Härten eines ungebremsten Kapitalismus auffangen sollte, wird immer dünner. Renten, medizinische Versorgung, Kinderbetreuung, alles, was in sozialer Hinsicht Geld kostet, wird Schritt für Schritt abgebaut. Komplementär dazu greift ein brutaler Sozialdarwinismus um sich, der allen den Untergang verheißt, die nicht absolut allein auf sich gestellt in einer soziotxischen Umgebung überleben können. Das betrifft nicht nur traditionell antisoziale Gesellschaftsstrukturen wie die der USA, sondern auch Westeuropa. Mittlerweile können sehr viele Menschen in den "reichen" Ländern Europas am eigenen Leib erfahren, wie ein Kapitalismus agiert, der sich seiner Sache ganz sicher ist.

Es bedarf keiner Verschwörungstheorien, um die Konzertiertheit dieser Entwicklung zu konstatieren. In der Tat sind die sozialen Einteignungsprozesse, die beim Aufbau der Festung Europa vor sich gehen, so exakt aufeinander abgestimmt wie ein Uhrwerk. Im Effekt bedeuten diese Maßnahmen die Aufkündigung des sozialdemokratischen Klassenkompromisses, der zumindest in den drei Führungsmächten Europas (Frankreich, England, Deutschland) fast fünfzig Jahre lang gegolten hat. (Die "Sozialdemokratie" verstehe ich in diesem Zusammenhang nicht als eine bestimmte Partei, sondern als eine Strategie, die durch beschränkte Umverteilung gesellschaftlich erwirtschafteten Werts die Unzufriedenheit der Lohnabhängigen dämpft und auf diese Art "soziale Ruhe" erzeugt). Ironischerweise wird die Aufkündigung des besagten Klassenkompromisses in den drei europäischen Führungsmächten politisch von Sozialdemokraten (im Sinne der Parteizugehörigkeit) beglaubigt. Das lange Jahre durch die Systemkonkurrenz mit dem Staatssozialismus gehemmte Kapital trampelt über die Erde wie ein Elefant, der endlich aus seinem Gehege darf, und es ist ihm dabei auch egal, ob der Porzellanladen der "sozialen Marktwirtschaft" in Scherben fällt.

Mit einem Wort: die Klassenspaltung zwischen den Besitzern von Produktionsmitteln, die fremde Arbeitskraft verwerten können und den Nichtbesitzern von Produktionsmitteln, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen (oder selbst das nicht mehr können, weil sie nicht gebraucht werden), wird verstärkt, indem die sozialen Institutionen, die sie verschleiern sollten, vernichtet werden. Was noch Ende der Achtziger Jahre von den Gewerkschaften zögerlich als "neue Armut" beschrieben wurde, betrifft heute ein ständig sich erweiterndes Segment der Gesellschaft, und wird von den Herrschenden achselzuckend hingenommen.

Es bedarf wiederum keiner Verschwörungstheorie, um diese Gelassenheit der Herrschenden im Umgang mit der Verelendung unter ihren Augen auf ihr solides Vertrauen in einen gut geölten Sicherheitsapparat zu beziehen. Sie rechnen einfach damit, jederzeit Herren der Lage zu sein. Es ist kein Zufall, daß die willentliche Verschärfung des Klassenantagonismus mit einem rasanten Ausbau der Sicherheitskräfte und einem rasanten Abbau der demokratischen Rechte einhergeht. Juristische, polizeiliche und strukturelle Residuen aus älteren Repressionswellen, von den Notstandsgesetzen bis zu § 129a, von polizeilicher Präventivhaft bis zu Sondereinsatzkommandos wachsen in einer perversen Form von "Natürlichkeit" mit den Methoden der High-Tech zu einem schreckenerregenden Gesamtbild zusammen. Der Alptraum von Genua war vor dem Hintergrund dieser Entwicklung weder Exzess noch Ausnahme, sondern die Antrittsvorlesung der Festung Europa in Sachen "Menschenrechte" und "innere Sicherheit": Ausreiseverbote, grenzübergreifender Informationsaustausch, ein polizeilich-militärischer Sicherheitsapparat, der aussieht wie eine Roboterarmee und auch so handelt. Die Wirklichkeit gibt sich alle Mühe, wie unsere alten Vorhersagen auszusehen.

Gar nichts mehr zu melden haben die Hungerleider, die es als Flüchtlinge noch in die erste Welt schaffen. Nach einer sehr wirkungsvollen Triage, die ihre Unterscheidung in nutzlose, weniger nützliche und sehr nützliche Fremde zur Folge hat, werden sie in einem sozialen Setzkasten untergebracht, der für jede Art von ihnen ein Fach frei hat: Vernutzung als Illegale, Duldung, Sofortabschiebung, Abschiebehaft, oder gar Aufnahme in den erlauchten Kreis des zu integrierenden Nutzviehs, dem eines Tages möglicherweise sogar die Chance eröffnet wird, vom Stall ins Wohnzimmer zu wechseln, ein Bürger zu werden, d.h. ein staatlich verbriefter, vollwertiger Mensch. Bis dahin ist die Menschlichkeit des Flüchtlings Ermessenssache der Ausländerpolizei, des inländischen Nachbarn, des inländischen Passanten auf der Straße, und kann aufgrund des kleinsten Vergehens, der kleinsten Auseinandersetzung oder aus gar keinem Grund storniert werden. Je dunkler die Haut, desto schlechter die Chancen, in den Augen der Inländer ein Mensch zu sein. Im Alltag gelten für die vorläufigen Menschen Vorschriften wie z.B. die Residenzpflicht, die völlig zu Recht mit den Passgesetzen Südafrikas zur Apartheid-Zeit verglichen werden.

Die Inseln der Seligen drohen also unterzugehen. Ein Teil der Seligen, die unvermutet das Wasser über ihren Köpfen zusammenschlagen sehen, in dem Millionen andere schon ertrunken sind, verwandeln sich umstandslos in Bestien. Man hat zurecht darauf hingewiesen, daß Arbeitslosigkeit allein kein Grund für den Neofaschismus sein kann, in der Tat ist immer wieder beobachtet worden, daß die Nazigruppierungen sich überhaupt nicht so sehr aus den klischeebeschworenen arbeitslosen, frustrierten Jugendlichen zusammensetzen, sondern zu einem guten Teil aus Facharbeitern, Bürgerlichen und Akademikern. Es ist nicht so sehr die akute Armut, die die verstörten Erstweltler gegen "die Ausländer" geifern läßt, sondern die Angst vor ihr. Kleine Herrenmenschen, verunsicherte Arbeiteraristokraten, aussichtslose ABM-Akademiker befürchten ihre Deklassierung und halten nach den Opfern Ausschau, die straflos dafür verantwortlich gemacht werden können. Der Neofaschismus reagiert auf eine Kränkung, die erst noch kommen muß, daher seine grundsätzlich paranoide Geisteshaltung. Der Feind ist überall, vor allem aber dort, wo man in einem Akt wohlkalkulierten und -orchestrierten Volkszorns hinschlagen kann, ohne viel Gegenwehr befürchten zu müssen: bei den Fremden, die ohnehin niemand mag, bei den Juden, die man gern noch einmal vergasen würde, bei der Linken, die im Volk schiwmmt wie ein Fisch auf dem Trockenen. Die offzielle Politik gibt ihren inoffiziellen Standartenträgern recht. Die gleiche Polizei, die Linke zu blutigen Klumpen zusammendrischt, wenn sie protestieren, eskortiert den rechten Abschaum durch die Innenstädte, damit er dort das herausbrüllen kann, was die Regierung erst im nächsten Jahr zum Gesetz machen will.

Hölderlin behauptete: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Wenn ich das richtig verstanden habe, war Marx der Ansicht, daß der Kapitalismus auf jeder Stufe seiner Entfaltung naturnotwendigerweise seinen Antagonisten erschaffe. Zu Marxens Zeiten war das das Industrieproletariat. Wer könnte es heute sein? Auftritt die Antiglobalisierungsbewegung.
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Ergänzungen

02.10.2001 - 19:18
wunderbar! vielen Dank, GenossIn!

aber

? 02.10.2001 - 19:22
wie geht denn die spannende geschichte mit dem leoparden weiter

Verlinkung der Beiträge

Ralph Segert 03.10.2001 - 16:25
Hi,

der Text hilft dem Denken und Nachfragen ein wenig auf die Sprünge. Gerne werde ich ihn im KriT-Journal verlinken. Schoene waere es, wenn die 3 Seiten miteinander verlinkt waeren. Ist das ein Problem? ;-)

Späte Kontaktanzeige

Sven Glückspilz 11.10.2001 - 00:46
Hallo Einzelperson! Hoffentlich schaust du noch mal rein in die Kommentare, auch wenn es schon etwas her ist. Mir hat dein Text sehr gefallen und ich würde gerne Kontakt mit dir aufnehmen. Darum hier meine mail-Adresse.