Seattle et al.: Die Rehabilitation von Protest

von Ulrich Brand 15.03.2001 20:03 Themen: Globalisierung
Notwendig bleibt eine Radikalisierung der Staats- und Politikkritik
Seit "Seattle", der gescheiterten dritten Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) Ende 1999, scheint nichts mehr wie es war. Presse, Funk und Fernsehen konnten nicht mehr von "Chaoten" sprechen, viele noch nicht zur Realpolitik übergewechselte, aber ob der Entwicklungen der letzten Jahre doch frustrierte Linke horchten auf. Kritik an der neoliberalen Globalisierung wird seither als legitim erachtet, die neue Spezie der "Globalisierungsgegner" geistert durch die Medien und setzt die Apologeten der bestehenden Ordnung unter Rechtfertigungszwang. Die Zeit widmet den "Globalisierungfeinden", so offenbar die begriffliche Steigerung, ein ganzes Dossier (21.9.2000).

Nun ist natürlich ein Blick verkürzt, der Seattle zum Auftakt anti-neoliberaler Proteste stilisiert oder gar damit eine globale Bewegung am Entstehen sieht. Zum einen gibt es seit Jahren selbst in den metropolitanen Ländern Bewegungen wie die "Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse und Ausgrenzung" (www.euromarches.org), Proteste wie gegen das alljährlich in Davos stattfindende World Economic Forum. Nicht zu vergessen sind darüber hinaus die dynamischen Gewerkschafts-, BäuerInnen- und Landlosenbewegungen in einigen peripheren Ländern wie Indien, Südkorea, Südafrika, Mexiko oder Brasilien.1 Zum anderen waren die erfolgreichen Proteste in Seattle einer spezifischen Konstellation sowohl auf Seiten der Protestierenden wie auch hinsichtlich der Konferenz selbst geschuldet. Das WTO-Ministertreffen ist keinesfalls primär an den Protesten außerhalb der Konferenz gescheitert, sondern aufgrund tiefgehender Unstimmigkeiten zwischen EU-Europa und den USA sowie des wachsenden Unmuts insbesondere vieler afrikanischer Länder, einer schlechten Kongreßvorbereitung und der innenpolitischen (Vorwahlkampf-)Situation der USA. Auf diese Uneinigkeit trafen sehr gut vorbereitete Massenproteste, wiederholbar sind sie in der Form aber sicherlich nicht (vgl. Wahl 1999, Chakravati 2000). Und schließlich ist nicht der paradoxe Sachverhalt zu vergessen, daß der Neoliberalismus zur selben Zeit dominanter denn je scheint. Die Wucht der neoliberalen Gesellschaftstransformation scheint stärker denn je..

"Seattle" ist jedoch ein erster internationaler Kristallisationspunkt sozialer Bewegungen und einiger Süd-Regierungen nach Jahren politischer Lähmung. Waren die Proteste in den 80er Jahren gegen Weltbank und IWF, die von der metropolitanen Solidaritätsbewegung getragen wurden und sich vor allem gegen die neoliberalen Strukturanpassungsprogramme der Bretton-Woods-Institutionen in peripheren Ländern richteten, noch eher einer klassischen (und keineswegs falschen) Imperialismuskritik verbunden, so agieren die Initiativen heute gegen einen wirklich globalen Kapitalismus - oder zumindest gegen die schlimmsten Auswüchse desselben. Dabei ist der Begriff des Neoliberalismus so schillernd wie unbestimmt. Auch die "neue Sozialdemokratie" - etwa im sog. Schröder/Blair-Papier - versteht sich und die rot-grüne Regierung explizit als anti-neoliberal.
Deutlich wurde in Seattle auch, einige Jahre nach den mit großen Hoffnungen durchgeführten UNO-"Weltkonferenzen", daß immer mehr NGOs mit ihrer Fokussierung auf Expertise, gute Argumente und das Appellieren an die aufgeklärten Eigeninteressen der Herrschenden sehen derart nicht weiter kommen (vgl. Brand et al. (Hg.) 2001). Ihre Expertise wird in einem gesellschaftlichen Klima aufgenommen, in dem die Rezipienten - Regierungen, Unternehmen, Medien - es sich leisten können, die ihnen genehmen Aspekte heraus zu picken und gleich noch die Legitimation dazu: Denn wenn die "Zivilgesellschaft" mitredet, dann scheint es ja in Ordnung zu gehen. Substantielle Veränderungen folgen allerdings kaum.

Hier liegt ein Kern vieler Proteste, nämlich zunächst einmal den Unmut über die dominanten Entwicklungen zu äußern, ohne gleich einen "konstruktiven Vorschlag" parat zu haben. Führte ein wütendes "es reicht!" vor einigen Jahren noch zu mildem Lächeln der Expertokraten staatlicher und nicht-staatlicher Couleur, so ist das heute anders. Protest, so scheint es, erfährt in einigen Bereichen eine Rehabilitation - insbesondere die Form des Massenprotests. Kritik war natürlich immer zugelassen, sie hatte sich jedoch innerhalb bestimmter Konventionen zu bewegen. Seattle war nun definitiv eine Überschreitung solcher Konventionen, die in der Regel von herrschender Seite vorgegeben waren, wie die diversen UNO-Weltkonferenzen zeigten. Und nicht umsonst beginnt direkt nach Seattle eine Gegenkampagne von Regierungen und internationalen Institutionen, in der verstärkt nach der Legitimität von NGOs und anderen Gruppen gefragt. Lernfähig sind auch sie, wie die jüngste "Offensive des Lächelns" von WTO & Co. zeigt, anhand derer nicht-staatliche Gruppen an Runde Tische gebeten werden. Einige, insbesondere die internationalen Groß-NGOs werden versuchen, den vermeintlich größeren Spielraum zu nutzen und verstärkt gehört zu werden (vgl. Wahl 2001). Mit den jüngsten Protestereignissen wird nicht nur die Kritik an den herrschenden Zuständen belebt, sondern auch Diskussionen um verschiedene politische Verständnisse, Formen und Strategien.
Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Protest und soziale Bewegung im linken Spektrum hat die oft als ExpertInnen und Co-Eliten agierenden NGOs nicht abgelöst, gerade nicht in Ländern wie Deutschland, in denen die agilsten Bewegungen heute rechtsradikaler Natur sind. Linke nicht-parteiförmige Politik wird - mit Ausnahmen wie etwa im Bereich der Atomenergie - weiter von den Verbänden artikuliert. Und dennoch ist ein Blick auf die jüngsten Ereignisse lohnend.

Ich möchte im folgenden zunächst einige m.E. "typische" anti-neoliberale Ansätze in metropolitanen Ländern knapp skizzieren, dann Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den verschiedenen Spektren heraus arbeiten, um abschießend einige wichtige und einer weiteren Diskussion bedürftiger Fragen genauer zu umreißen. Mit der vorgenommenen Typisierung sollen die vielfältigen, insbesondere lokalen Initiativen keineswegs negiert oder gar unter einen dieser Typen subsumiert werden.
Drei Typen von Protest gegen Neoliberalismus in den Metropolen
Seit dem "Battle of Seattle" erhält ein Spektrum hohe Aufmerksamkeit, das als internationale Protestbewegung bezeichnet werden könnte und sich natürlich nicht nur aus metropolitanen Gruppen und Individuen zusammen setzt. Um bestimmte Ereignisse herum wie den WTO-Konferenzen 1998 in Genf und 1999 in Seattle, die jüngste IWF/Weltbank-Tagung oder die alljährlichen Proteste gegen das World Economic Forum in Davos zählen dazu. Es gibt aber nicht nur Demonstrationen auf den Konferenzen von IWF, Weltbank & Co. direkt, sondern auch dezentrale Protestformen. So fand beispielsweise während des G7-"Gipfels" im Juni 1999 Köln an einem Tag ein Global Street Day statt, während dem in etwa 100 Städten in 40 Ländern Protestaktionen durchgeführt wurden. Gerade hier wird die Rolle des Internet als koodinierendes und mobilisierendes Medium, die electronic resistance deutlich.
Inhaltlich zeichnet sich dieses Spektrum durch eine anti-institutionalistische und politisch konfrontative Haltung aus. Die internationalen neoliberalen Institutionen wie WTO, IWF und Weltbank werden als Hauptgegner identifiziert. Die Form besteht darin, sich in Netzwerken zu organisieren und zivilen Ungehorsam auszuüben. Ein Teil dieser internationalen Bewegung ist beispielsweise das 1997 gegründete Netzwerk Peoples´ Global Action, das sich als Ausdruck einer vielfältigen und radikalen globalen Protestbewegung versteht (www.agp.org). Mitglied sind Bewegungen, Organisationen und Individuen in Nord und Süd. Es wird insbesondere auf die zunehmenden Kämpfe in peripheren Ländern verwiesen, die Anstöße in den Metropolen bringen sollen. So organisierten europäische AktivistInnen von Peoples´ Global Action im Vorfeld des Kölner "G7-Gipfels" eine Karawane von 300 InderInnen einer dortigen radikalen BäuerInnenorganisation durch Europa.

Rolf Paasch sieht in der Frankfurter Rundschau (14.9.2000), bezogen auf Proteste in Melbourne gegen das dort tagende World Economic Forum, aber durchaus verallgemeinernd, "versprengte Jugendliche" am Werk, deren einzige Verbindung das Internet sei. Wenngleich im Duktus überheblich, so trifft Paasch einen zentralen Aspekt: Die Globalisierungsgegnerschaft der Protestierenden "geht einher mit einer erstaunlichen Theorieabstinenz, die nicht zuletzt Ausdruck eines Mißtrauens gegen die Generation der theoretisierenden Eltern ist." Kapitalismuskritik sei für sie anachronistisch. Auch aus dem bewegungsnahen Spektrum sind solche Töne zu hören. So wird die allzu emphatische Einschätzung der neuen globalen Bewegung als "Verklärung" kritisiert. Es werde verkannt, "wie organisatorisch höchst heterogen, wie diffus und teilweise konträr" die politischen Absichten der in Seattle protestierenden Gruppen gewesen sei (van der Veen 2000).
So wichtig der Blick auf die Theorielosigkeit der Protestierenden ist, so wenig mag der Vorschlag überzeugen, daß mehr Arbeit am Begriff den Ausweg weise. "Statt dem protesttouristischen event-hopping zu frönen, ... wäre es an der Zeit, sich mühseligeren Diskussionen darüber zu stellen, was unter "Globalisierung" zu verstehen ist und wie einer vernünftigen Kritik daran Gehör zu verschaffen ist." (R. van der Veen) In dieser Aussage bleibt jedoch unklar, was mit einer "vernünftigen Kritik" gemeint ist. Wenn damit lediglich Debatten um die richtige Interpretation der gegenwärtigen Globalisierungsprozesse gemeint ist, dann ist das sicherlich zu wenig. Erst die Sachen theoretisch-kritisch klar haben und dann theoretisch angeleitet zu handeln, negiert alle historischen Erfahrungen sozialer Bewegungen.

Und ganz so "theorielos" geht es nun doch nicht zu. So hat etwa L´Observatoire de la Mondialisation (www.ecoropa.org/) am Wochenende vor der Seattle-Konferenz eine Tagung organisiert, an der mehrere Tausend Menschen teilnahmen. Bekannt geworden ist das L´Observatoire 1998 durch die effektive Kritik am geplanten Multilateralen Investitionsabkommen der OECD; eine bekannte Repräsentantin ist Susan George.

Eine Gefahr der internationalen Proteste besteht darin, daß sie in gewisser Weise zum routinierten Begleitprogramm werden, zum ganz normalen Medienereignis am Rande internationaler Konferenzen. An den Protesten anläßlich des EU-Gipfels im Dezember 2000 in Nizza war so etwas zu beobachten. Und schließlich drohen die "großen" internationalen Proteste mit entsprechender medialer Aufmerksamkeit - entgegen ihrer Absicht - andere Kämpfe zu entwerten. Gerade in peripheren Ländern gibt es vielfältige Ansätze, die die herrschenden Verhältnisse viel konkreter und nachhaltiger in Frage stellen, international jedoch kaum wahrgenommen werden. Dies hat natürlich zuvorderst mit der Struktur der Öffentlichkeit und Medienberichterstattung zu tun, sollte aber von den Aktivisten nicht unterschätzt werden.

Ein zweiter Typus kann als Versuch bezeichnet werden, intellektuelle Kritik und soziale Bewegungen wieder stärker aufeinander zu beziehen. Das prominenteste Beispiel ist die in Frankreich aktive Gruppe von SozialwissenschaftlerInnen um den Soziologen Pierre Bourdieu Raisons d´agir ("Gründe zu handeln"), die sich Mitte der 90er Jahre in der Folge verschiedener Streiks bildete. Ausgangspunkt war folgende Einschätzung: "Die Tatsache, daß den Intellektuellen, die sich 1995 mit den sozialen Bewegungen solidarisiert hatten, eine wirkungsvolle Organisation fehlte, hat dann eine kollektive Reflexion über das Selbstverständnis der Sozialwissenschaften und ihren politischen Handlungsbezug in Gang gebracht." (zu den Zielen und anderem vgl. www.raisons.org, vgl. auch Wolf 2000) Die Gruppe hat mit vielfältigen Publikationen begonnen und zwischenzeitlich ein beachtliches organisatorisches Netz entwickelt.

Das Ziel von Raisons d´agir ist es, die entstehenden Bewegungen gegen den Neoliberalismus zu vernetzen und damit zu stärken. Eine "kritische Gegenmacht" müsse grundlegende Interessen wieder artikulieren können, dazu sollen 2001 "Europäische Generalstände" einberufen werden, um eine gemeinsame Charta auszuarbeiten und eine organisatorische Struktur zu schaffen. Der Beitrag der "kollektiven Intellektuellen" soll darin bestehen, über Information, Analyse und Reflexionsmöglichkeit als Teil einer breiteren Bewegung der neoliberalen Hegemonie etwas entgegen zu setzen.
Inhaltlich vertritt die Gruppe eine eher links-keynesianische Position, denn es geht ihr zuvorderst um eine gerechtere Verteilung des erwirtschafteten Reichtums. Der Staat wird als integraler Bestandteil neoliberaler Politik gesehen, doch bei einer entsprechenden Verschiebung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse kann dieser (wieder) auf eine am Allgemeinwohl orientierte Politik verpflichtet werden.

Die Position, die einerseits die aktuelle staatliche Politik kritisiert und gleichzeitig in veränderter staatlicher Politik die Möglichkeit sieht, den Neoliberalsimus zurückzudrängen, unterscheidet sich als Typus von dem klaren Anti-Etatismus der internationalen Protestbewegung. Beim zweiten Typ geraten distributive Aspekte ins Zentrum. Die Art der Erwirtschaftung, nämlich die kapitalistische Produktion als umfassendes soziales und internationales Herrschaftsverhältnis, wird nicht weiter hintergfragt. Auch die Art der Staatskritik ist mehr an den aktuellen Inhalten denn an der grundlegenden Herrschaftsförmigkeit des Staates ausgerichtet. Schließlich wird "Europa" eine Art potentieller Avantgarde-Position zugeschrieben, wenn sich nur die Ausrichtung der Politik ändern würde.

Das Verdienst der Gruppe besteht darin, überhaupt wieder kritisch-intellektuelle Debatten in eine breitere Öffentlichkeit zu tragen. Die Aufmerksamkeit, die ihr im linksliberalen Spektrum entgegen gebracht wird, speist sich offenbar aus bestimmten Verkürzungen.

Wenn oben behauptet wurde, daß ein Kern der Proteste in ihrer fehlenden aufgenötigten Konstruktivität liegt, dann gilt das nicht für eine derzeit recht dynamisch Initiative, die sich dadurch auszeichnet, daß sie einen sehr konkreten Vorschlag unterbreitet. Sie kann exemplarisch als dritter Typus bezeichnet werden. Nach einem Artikel von Ignacio Ramonet in der Le Monde Diplomatique (Dezember 1997) wurde vorgeschlagen, eine "Vereinigung zur Besteuerung der Finanztransaktionen zur Unterstützung der BürgerInnen" (französisch abgekürzt "attac", www.attac.org) zu gründen. Wissenschaftlich greift die Initiative auf einen Vorschlag des Ökonomen James Tobin aus den 70er Jahren zurück, der mit einer geringen Besteuerung internationaler Währungstransaktionen der Finanzspekulation - d.h. insbesondere der immerwährenden und flexiblen Suche nach geringsten Zinsdifferenzen - Einhalt gebieten soll. Dies traf auf große Resonanz und zur Gründung vielfältiger lokaler und überregionaler Initiativen. Inzwischen gibt es in Frankreich eine parteiübergreifende Gruppe von ParlamentarierInnen, die sich diesen Vorschlag zu eigen gemacht hat. Identifizierbare attac-Initiativen gibt es inzwischen in fast 20 Ländern.

In Deutschland hat sich in diesem Kontext im Verlauf des Jahres 2000 ein "Netzwerk zur demokratischen Kontrolle der Finanzmärkte" gebildet, das bislang eher eine Initiative einiger NGOs ist (vgl. www.share-online.de; zur Debatte: www.ila-bonn.de/forum). Es handelt sich dabei zwar um eine Neoliberalismus-kritische Bewegung, dennoch ist sie sehr heterogen und reicht bis ins entwicklungspolitisch-sozialdemokratische Lager (vgl. die Einschätzung von Werner Rätz auf der o.g. Internet-Seite).
Auch bei der Frage der Regulierung der Finanzmärkte wird ein Dilemma deutlich: Daß nämlich Vorschläge dann besonders wahrgenommen werden, wenn sie von relevanten Fraktionen der herrschenden Seite als sinnvoll angesehen werden. So kommen Forderungen zur Finanzmarktregulierung nach den Krisenerfahrungen in Südostasien, Rußland oder Mexiko auch von manchen Regierungen, Parteien oder sogar liberalen Ökonomen. Über staatliche Politiken sollen die Finanzmärkte teilweise gezügelt und so der Krisengefahr begegnet werden.

Dahinter steht jedoch ein reduzierter - oder zumindest taktischer - Krisenbegriff. Die Kritik an den neoliberalen Strukturanpassungen, die südlichen Ländern von nördlichen Regierungen und internationalen Finanzinstitutionen verordnet wurden, stießen in den 90er Jahren kaum noch auf Resonanz, wenngleich die neoliberalen Politiken in peripheren Ländern erwiesenermaßen für die meisten Menschen ein einziges Katastrophenprogramm sind (vgl. die Jahresberichte des UNO-Entwicklungsprogramms UNDP und zunehmend sogar der Weltbank selbst). Von "Krise" ist jedoch erst verstärkt die Rede, seit die Krisenanfälligkeit des internationalen Finanzsystem selbst offenkundig wird - womit eben dominante Interessen potentiell betroffen sind. Dieses Argument ist nun keines gegen die diversen Initiativen zur Regulierung der Finanzmärkte, sehr wohl aber eines dafür, sich Klarheit zu verschaffen, wie in welche gesellschaftlichen Debatten eingegriffen werden soll.

M.E. können drei Gemeinsamkeiten innerhalb des linken anti-neoliberalen Spektrums ausgemacht werden: Zum einen verstehen sich die Initiativen, zumindest vom Anspruch her, jenseits der Realpolitik, die mit dem Argument der Machbarkeit jegliche Kritik und Alternative vom Tisch zu wischen versucht. Die Initiativen haben zweitens dahingehend ein konfliktorisches Politikverständnis, daß sie einen oder mehrere Gegner identifizieren, gegen den Gegenmacht aufgebaut werden müsse.2 So vereinfachend Begriffe wie "gegen Kapitalismus", "gegen Neoliberalismus", "gegen die Herrschaft der Finanzmärkte" o.ä. sind - so sehr konstituieren sie etwas, was jede Bewegung benötigt: einen Gegner. Daher sehe ich es zunächst als Vorteil, unter der Formel "gegen Neoliberalismus" verschiedene Spektren zu vereinen und vor allem handlungsfähig zu machen. Die Formel selbst ist ambivalent, denn zum einen ermöglicht sie erst wieder die Auseinandersetzung über radikale Praxen. Dies ist angesichts der jahrelangen Lähmung linker Positionen nicht zu unterschätzen. Andererseits droht der Begriff des Neoliberalismus zum Alleskleber zu werden, der Differenzen und notwendige Diskussionen zu kleistert.

Wichtig wird daher in Zukunft sein, ausgehend von solchen Formeln genauer zu evaluieren, wo die Widersprüche und sozialen Spaltungslinien heute verlaufen. Bourdieu etwa spricht recht deutlich von "den Herrschenden" und stellt die Klassenfrage. Das ist bislang keineswegs Konsens in den progressiven Bewegungen und muß nach Jahren des Standortgebrülls, das ja nicht nachläßt, erst wieder mühsam als politisches Verständnis hergestellt werden. Und zwar aktuell, denn Klassenfragen sind heute ungleich komplexer als zu Zeiten Zigarre rauchender Kapitalisten und malochender Blaumänner.
Drittens greifen die verschiedenen Initiativen Widersprüche auf, die im Prozess der neoliberalen Globalisierung immer deutlicher werden: An der Tatsache, daß das neoliberale Versprechen von Glück ("jeder ist seines/ihres Glückes...") und Gerechtigkeit (die angeblich über den Prozess des trickle down erreicht werden soll) immer offenkundiger Katastrophen aller Art produziert, daß ein diffuses Unwohlsein angesichts der immer stärkeren Kommodifizierung des Lebens (Bildung/Wissen, Körper/Nahrung, etc.) zunimmt, daß die Kontrolle über das eigene Leben zunehmend vermeintlichen Markt- und Standorterfordernissen ausgeliefert wird. Hier kann die Kritik an der zunehmenden Mono-Kultur sowie die Forderungen nach Vielfalt und Demokratie politisierend wirken. Die WTO steht dann eher als Symbol für eine auf internationaler Ebene viel unverblümtere Politik des Kapitals als auf nationaler Ebene.

Eine solche Analyse von Widersprüchen ist natürlich nicht Voraussetzung von Protestbewegungen, gar noch zeitlich am Anfang stehend, sondern integraler Bestandteil. Hier läge eine wichtige Funktion kritischer intellektueller Praxen, denn der Erfolg der neoliberalen Kräfte liegt nicht zuletzt darin, radikale Kritik desavouiert oder aber viele Intellektuelle zu Pseudo-KritikerInnen gemacht zu haben bzw. darin, daß diese sich selbst dazu machten. Die Annäherung radikaler intellektueller und anderer Praxen scheint in Frankreich in gewisser Weise zu gelingen und verleiht der Bewegung Dynamik.

Das Dilemma, in dem sich jede radikale - was immer und notwendig heißt: heterogene - Bewegung befindet, besteht darin, Handlungsfähigkeit herzustellen und diese permanent auf ihre Radikalität zu prüfen. Deshalb ist es wichtig, Reflexionen über verschiedene Praxen zu organisieren, sie miteinander resonant zu machen. Natürlich fließen in die Art der Initiativen politische Selbstverständnisse ein. Diese Annahmen herauszustellen und offen zu diskutieren, um sie auf ihre Bündnisfähigkeit hin zu überprüfen, scheint mir derzeit ein zentraler Punkt. Die Selbstwahrnehmung, hier die guten radikalen Bewegungen, dort die sich korrumpierenden NGOs oder umgekehrt: hier der konstruktiven Initiativen und dort der verbohrten Radikalen hilft nicht weiter.3

Um aber keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Dies ist kein Plädoyer für ein munteres Zusammengehen aller "anti-neoliberaler" Ansätze, sehr wohl jedoch für eine Bezugnahme aufeinander.
Staats- und Politikkritik: Internationalisierung und Radikalisierung
Das dominante oder gar hegemoniale Politikverständnis ist heute, daß "die Politik" mit dem Staat gleichgesetzt wird. Die links-keynesianischen Ansätze reproduzieren nun tendenziell dieses Politikverständnis. Sie negieren zwar nicht, daß es um Machtfragen geht, doch sie laufen Gefahr, das Bild von Politik als checks and balances zu reproduzieren. Heute, so die Diagnose, hätten neoliberale Kräfte zu viel Einfluss auf staatliche Politiken, die eben zurückgedrängt werden müssten.

Dem völlig entgegengesetzt ist das politische Selbstverständnis der, mir fällt kein besserer Begriff ein, radikalen GlobalisierungsgegnerInnen. Um Fragen staatlicher Politik scheren sie sich nicht besonders. Ein großer Teil der AktivistInnen scheint sich als radikales "Außen" zu verstehen. An Losungen wie "Capitalism kills people. Kill capitalism!" wird deutlich, daß Kapitalismus als geschlossenes System verstanden wird, das es von "außen" anzugreifen gilt. Entsprechend vehement werden institutionelle Formen von Politik abgelehnt und auf staatliche Beeinflussung orientierte "NGOs" per se zum Gegner, da auf der anderen Seite stehend.

In dieser Gegenüberstellung kommen zwei reduzierte Staatsverständnisse zum Tragen. Die einen sehen Staat als unter Druck zu setzende Regulierungsinstanz gegen die negativen Auswirkungen der Globalisierung. Es wird an das Selbstbild des bürgerlichen Staates, nämlich Allgemeininteressen zu vertreten, appelliert. Die anderen sehen Staat als zentralen Teil des ganzen (Schweine-)Systems und damit als grundsätzlich abzulehnen.
M.E. ist es heute notwendig, die Staats- und Politikkritik zu radikalisieren - hier kann auf Erfahrungen zurückgegriffen werden -, und zu internationalisieren, um den aktuellen Veränderungen Rechnung zu tragen. Die Radikalisierung besteht darin, die Engführung von Politik und Staat aufzulösen. Dies ist eine wichtige Erfahrung der neuen sozialen Bewegungen, die mit Slogans wie "das Private ist politisch" eine Dezentrierung anstrebten. Auch der Bereich privatkapitalistischer Produktion wurde früher viel eher als Teil umfassender gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse verstanden. In Zeiten der Realpolitik wird ein solches Politikverständnis entwertet und an den Rand gedrängt. Selbst die hoch im Kurs stehende "Zivilgesellschaft" wird vor allem daran gemessen, was sie zur Legitimität sowie zur Steuerungs- und Problemlösungsfähigkeit staatlicher Politik beizutragen hat.

Demgegenüber wäre es hilfreich, Staat und internationale politische Institutionen wie WTO, IWF oder Weltbank als materielle Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse verstehen, um einen Begriff des Staatstheoretikers Nicos Poulantzas zu verwenden. Damit kann der Ambivalenz Rechnung getragen werden, daß es sich beim Staat um eine herrschaftsförmige Einrichtung handelt, die zuvorderst den Erhalt der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung sichert. Staat ist aber immer die materielle "Verdichtung", d.h. in mit Ressourcen ausgestatteten Apparaturen, von Kämpfen, die gesamtgesellschaftlich ausgetragen werden. Insofern ist staatliche Politik eingebettet in gesellschaftliche hegemoniale Auseinandersetzungen und die Verschiebung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse. Historisch ist ja das Beispiel greifbar, daß Neoliberalismus eben kein rein staatliches Projekt ist, sondern eines der grundlegenden Gesellschaftsveränderung. Es ginge dann darum, politisch nicht nur an neoliberalen Institutionen anzusetzen, sondern auch am neoliberalen "Alltagsverstand" (Gramsci).

Das bedeutet gerade nicht, einem staatsfixierten Politikverständnis Vorschub zu leisten, sondern im Gegenteil die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse in den Blick zu nehmen; in ihrer hegemonialen Verfaßtheit, wodurch der Stellenwert gegen-hegemonialer Praxen überhaupt erst gehaltvoll eingeschätzt werden kann. Dann erfahren die aktuellen (internationalen, europäischen oder wo auch immer artikulierten) Proteste eine Relativierung und gleichzeitig eine Radikalisierung. Relativiert werden sie, weil sie nur ein Teil umfassender Veränderungen sind, die nicht zuletzt auf grundlegend veränderte Alltagspraxen zielen und gerade nicht (nur) die "Machtfrage" stelllen. Damit werden sie aber auch radikaler. Es geht also nicht darum, alte Einsichten über Bord zu werfen, sondern sie zu aktualisieren. Begriffe wie "radikaler Reformismus" (Hirsch 1995) könnten hier Orientierung geben.
Die praktische und theoretische Staats- und Politikkritik muß sich aber auch internationalisieren. Dies geschieht bereits und stellt ja den Kern der gegenwärtigen internationalen Proteste dar. Am Beispiel der neoliberalen internationalen Institutionen WTO, IWF und Weltbank soll dies verdeutlicht werden.

Es ist sicherlich unsinnig, Weltbank, IWF und WTO zu neoliberalen Teufeln zu stilisieren. Das Problem ist die im Sinne ihrer Protagonisten relativ erfolgreiche neoliberale Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse. Letztere verdichten sich jedoch in den internationalen quasi-staatlichen Apparaten, über deren Politiken werden sie vorangetrieben. Erstens und vor allem sind IWF, Weltbank und WTO weiterhin Ausdruck eines neoliberalen Gesellschaftsumbaus - was insbesondere bedeutet: die Unterordnung sozialen Handelns unter den Imperativ internationaler Wettbewerbsfähigkeit und die Nicht-Infragestellung kapitalistischer Eigentums- und Produktionsverhältnisse. Das internationale Institutionensystem ist kein "Instrument" der herrschenden Länder oder Büttel des Kapitals. In ihm verdichten sich jedoch weltweite bürgerlich-kapitalistische und imperialistische Kräfteverhältnisse und Ergebnisse sozialer Auseinandersetzungen. Diese sind wiederum, formuliert als "nationales Interesse", Ausdruck nationaler Kämpfe und Kräfteverhältnisse.

Zweitens: Internationale Institutionen erlangen gleichzeitig eine gewisse Festigkeit, das heißt, Weltbank oder IWF sind selbst Akteure. Nicht umsonst haben diese beiden Apparate in den 70er Jahren einen tiefgreifenden Funktionswandel durchgemacht und sich nach einigen Orientierungsschwierigkeiten im Rahmen der "neoliberalen Konterrevolution" (E. Altvater) zu neoliberalen Apparaten gewandelt (im Unterschied zur Bestimmung bei ihrer Gründung Mitte der 40er Jahre). Die neoliberalen Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank in peripheren Ländern haben ganz erheblich zur Durchsetzung des Neoliberalismus beigetragen. Die WTO als "Kind der 90er Jahre" ist die neoliberale Institution schlechthin.

Drittens: Gerade auf internationaler Ebene erleben wir heute eine "Refeudalisierung der Politik", d.h. demokratische Entscheidungsprozesse, Transparenz und eine politische Öffentlichkeit fehlen fast vollständig. Das euphorische Gerede um Netzwerke ist unsinnig, solange nicht beachtet wird, daß die Internationalisierung politischer Prozesse vor allem in Grauzonen und weitgehend ohne Transparenz stattfindet. Das ist aber keine wie auch immer geartete und zu behebende Dysfunktionalität, sondern hat System. IWF, Weltbank und insbesondere die WTO mit ihrem Streitschlichtungsmechanismus sind ja deshalb so mächtig, weil sie sich kaum legitimieren müssen. Damit soll freilich nicht der Kampf um Transparenz und Öffentlichkeit denunziert werden - er ist sehr wichtig. Zu bedenken ist jedoch, daß er nicht nur unter neoliberalen Bedingungen, sondern auch im Kontext immer stärkerer Entdemokratisierung stattfindet.

Ein Aspekt ist wichtig, um politische Gestaltungsspielräume einschätzen zu können: Eine Reformperspektive droht viertens - strategisch oder aus Überzeugung - dem Glauben aufzusitzen, die aufgeklärten Eliten von einem notwendigen Politikwechsel überzeugen zu können. Dahinter steht eine derzeit sehr wirkungsmächtige Annahme, nämlich daß "die" Politik den ökonomischen Globalisierungsprozeß einzubetten habe. Damit stellt sich aber die Frage, welche Rolle Politik in den jüngsten Veränderungen spielt. Sie hat, als Teil gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse, den neoliberalen Prozeß aktiv mit vorangetrieben. Auch staatliches Handeln (und mehrheitlich zivilgesellschaftliches) mißt sich an der Herstellung von internationaler Wettbewerbsfähigkeit des "eigenen" Standortes. "Die" Politik auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene steht ja gerade nicht gegen "die" Ökonomie und gesamtgesellschaftliche neoliberale Orientierungen, sondern sie sichert neoliberale Interessen institutionell und ideologisch ab. Daher ist es eine grobe Verkürzung, von politisch-staatlichen Akteuren nun anti-neoliberale Politik zu erwarten. Entsprechend sollte es in der Debatte um Alternativen zur neoliberalen Globalisierung um den genaueren Blick auf die sich verändernden staatlichen Strukturen, im Staat verdichteten sozialen Kräfteverhältnisse sowie sich durchsetzende und zurückgedrängte Interessen gehen.
Eine kritisch-emanzipative Perspektive muß sich mit diesen Ambivalenzen auseinandersetzen. Ein wichtiger Aspekt dabei ist, was internationales Recht und Institutionen bedeuten (sollen), vor allem wie postulierte und gutgemeinte Ansprüche zu einklagbaren materiellen rechten werden. Dabei an Akteure und Prozesse wie IWF und Weltbank sowie die dortigen seichten und auf gute P.R. abzielenden Reformdebatten anzudocken, ist verkürzt. Das ist weder politische Rechthaberei noch Zynismus. Es soll jedoch auf die Gefahr hingewiesen werden, daß vielen Vorschlägen droht, eher zu einem "nachhaltigen Neoliberalismus" beizutragen als ihn zu überwinden.
Eine Paradoxie der aktuellen Gesellschaftstransformationen besteht darin, dass sie die Grenzen staatliche Politik aufzeigt. Das sollte für linke Positionen kein Anlaß zur Häme sein, denn damit werden zuvorderst grundlegende Rechte der subalternen Klassen abgebaut. Dennoch öffnen sich auch Räume für eine linke Kritik daran, daß Politik im Grunde eine staatliche Angelegenheit sei. Macht- und Herrschaftsverhältnisse müssen aus emanzipativer Pespektive umfassender in Frage gestellt werden, wobei der bürgerlich-kapitalistische Staat zentraler Akteur und Terrain der Aufrechterhaltung von Macht und Herrschaft ist und eben nicht als Bollwerk gegen den Neoliberalismus (miß-)verstanden werden kann. Dies aufzunehmen und voranzutreiben, ist eines der Essentials linker Politik.

Ausblick: Was heisst heute Utopie?

In der gegenwärtig dominanten Debatte fällt eine Unterscheidung auf. Das Label "Neoliberalismus" wird in einem zunehmend breiteren Spektrum negativ konnotiert, in der Regel nämlich mit einer konservativen Wirtschaftspolitik - der es eine sozialdemokratische des "Dritten Weges" entgegen zu setzen gelte. Ganz anders der Begriff der "Globalisierung". Nicht nur im Economist oder der Wirtschaftswoche, den publizistischen Wadenbeißern des Kapitals, sondern in einem breiten Spektrum wird damit eine scheinbare nicht hinterfragbare Entwicklung benannt.4
Kann dieses hegemoniale Verständnis unterlaufen werden? Können die mit der Wirtschaftsliberalisierung verknüpften Interessen der Geldvermögensbesitzer und weltmarktiorientierten Kapitale als partikulare und eben nicht als gesellschaftliche Allgemeininteressen delegitimiert werden? Wie kann die Umkämpftheit der gegenwärtigen Entwicklungen und die systematische Ausgrenzung vieler subalterner Interessen aufgezeigt werden?

Das läßt ich in einem Aufsatz nicht beantworten. Es kann jedoch auf die Gefahr hingewiesen werden, sich immer und immer wieder auf die herrschenden Diskursterrains ziehen zu lassen.
Was wären demgegenüber die Terrains und Formen gegenhegemonialer Kämpfe?
Der bereits erwähnte Rolf Paasch hat einen Aspekt angedeutet, der ebenfalls stärker diskutiert werden müßte. Die Utopie, so Paasch, scheint die Seiten gewechselt zu haben. In der Tat sind es zumindest in den Metropolen des postfordistischen Kapitalismus die Bill Gates und George Soros, deren Versprechen auf die Zukunft offenbar mehr Attraktivität entfalten als das Ziel einer gerechteren Welt und des Abbaus von Herrschaft. Was hieße es also, über radikale Kritik hinaus Bilder eines "guten Lebens" und Wegmarkierungen dorthin zu entwickeln, was hieße eine "realistische Utopie" (Bourdieu)?

Dieter Plehwe und Bernhard Walpen (1999) haben in einem Aufsatz über neoliberale Netzwerke und Think Tanks gezeigt, wie wichtig es für die Durchsetzung des Neoliberalismus war, dass er sich nicht der Selbstzensur des Pragmatismus unterworfen hat, sondern sein Projekt zunächst unabhängig vom Gedanken der Realisierbarkeit entwickelte und gezielt verbreitete. Wenn linke Politik vom Neoliberalismus etwas lernen kann, dann ist es eben dies: "Eine radikal emanzipatorische Alternative muß als Minimalprogramm ... Vorstellungen von einer gesellschaftlichen Utopie entwickeln. Sie darf ihre alternativen Entwürfe ebenso wenig wie der Neoliberalismus durch Forderungen nach Praktikabilität, Sensibilität und Realismus' unterdrücken lassen... Ohne Utopie und Antizipation bleiben soziale Initiativen in den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen befangen." Ist davon etwas zu lernen?

Anmerkungen
Dieser Text entstand zunächst zur Verständigung im Rahmen eines neueren Diskussionskreises in Frankfurt/M., der ab Anfang 2001 auch eine publizistische Praxis entwickeln möchte (www.links-netz.de). Aufgrund der vielen Anregungen der "Widerspruch"-Redaktion wurde er stark überarbeitet.
Vgl. zu etwa den Gewerkschaftsbewegungen in Südafrika, Brasilien oder Südkorea, die Kim Moody als social movement unionism bezeichnet Moody 1997, zu den mexikanischen Zapatistas Brand/Ceceña (Hg.) 2000 oder zum jüngsten, fast ein Jahr dauernden Streik an einer der größten Universitäten der Welt, der UNAM in Mexiko-Stadt Rajchenberg (Hg.) 2000.

Ein anderer Ansatz, der eher aus den staatlichen Apparaten und ihnen nahestehenden Think tanks selbst kommt, ist jener um Global Governance bzw. globale Strukturpolitik. Die damit einhergehenden Vorstellungen sind jedoch weder kritisch gegenüber dem Imperativ der Realpolitik noch konfrontativ. Die analytische Diskussion um Global Governance ist jedoch hilfreich, um wichtige Veränderungen von Staat und Politik begrifflich fassen zu können. Aspekte des Global Governance-Diskurses fließen jedoch in links-keynesianische Ansätze ein.

Das Problem ist dann weniger der "Spagatismus" zwischen Bewegung und Institution, den etwa Moe Hierlmeier linken NGOs vorwirft (vgl. den Bericht über den BUKO in analyse & kritik, Oktober 2000), sondern inwieweit verschiedene Praxen und Strategien Teil davon sind, Macht- und Herrschaftskritik überhaupt wieder praktisch zu formulieren und damit Handlungsspielräume für emanzipative Praxen zu öffnen. Die gegenwärtig in vielen Ländern anlaufenden oder neuerlichen Schwung gewinnenden Kampagnen "Kein Patent auf Leben!", die nach Seattle aus der Defensive heraus kamen, werden zum Teil von sehr professionellen NGO-AktivistInnen durchgeführt und ihre zentralen Ansprechpartner sind Regierungen, die das internationale Abkommen zu handelsbezogenen geistigen Eigentumsrechten (TRIPS) ändern sollen. Dennoch vertreten einige NGOs in diesen Kampagnen wie etwa das Third World Network (www.twnside.org.sg) sehr radikale politische Positionen. Nicht per se Kritik an der staatlich-institutionellen Orientierung stünde dann im Zentrum der Debatte, sondern die damit einhergehende Gefahr, Politik technokratisch zu verkürzen.

The Economist (23.9.2000) wirft den anti-capitalist protesters vor, daß sie den Armen dieser Welt schaden würden. Das Problem sei ja nicht ein Zuviel an international economic integration, sondern ein Zuwenig. Regierungen allerorten würden immer noch den technologischen Fortschritt, der dem Wohle aller diene, aufhalten. Die Argumentation nimmt moralische Züge an.

Literatur:
Brand, Ulrich/Ceceña, Ana Esther (2000): Reflexionen einer Rebellion. "Chiapas" und ein anderes Politikverständnis. Münster.
Brand, Ulrich/Demirovic, Alex/Görg, Christoph/Hirsch, Joachim (Hg., 2001): Nichtregierungsorganisationen in der Transformation des Staates. Münster: Westfälisches Dampfboot. i.E.
Chakravarthi, Raghavan (2000): After Seattle, world trade system faces uncertain future. In: Review of International Political Economy, 7 (3), 495 - 504.
Hirsch, Joachim (1995): Der nationale Wettbewerbsstaat. Politik und Demokratie im globalen Kapitalismus. Berlin.
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Ergänzungen

lang

caesar 16.03.2001 - 13:00
dieser text ist lang

Die Farben!

pete 17.03.2001 - 02:26
Beim Lesen bin ich fast wahnsinnig geworden! Der weiße Background macht die Sachen hier leider fast unleserlich!

Nicht zu lang...

stephan 17.03.2001 - 17:53
Fand den Artikel keineswegs zu lang. Nur unter "aktuelle Meldungen" paßt er nicht. Eine eigene Rubrik mit Hintergrund-Artikeln wäre besser dafür.

Fand ihn informativ, besonders dann, wenn man den Überblick sucht und an Hintergrund-Infos interessiert ist.

Dem Resümee des Artikels, der ja im wesentlichen darauf hinausläuft die Notwendigkeit einer "realistischen Utopie" zu unterstreichen, würde ich allerdings nicht zustimmen. Für mich ist der Begriff "Utopie" zu sehr mit einer linken Theoriebildung verknüpft, die in der aktuellen Lage einfach nicht mehr greifen will. Sein Mobilisierungsgrad ist daher - zumindest bei mir - doch reichlich eingeschränkt.

Trotzdem danke für den Artikel! Und ciao...

Gute Ansatz zur Diskussion...

vlad 19.03.2001 - 21:30
Am interessantesten habe ich gefunden das Bericht über die Gruppe von SozialwissenschaftlerInnen um den Soziologen Pierre Bourdieu "Raisons d´agir". Die "Europäische Generalstände" einzuberufen und dazu eine gesamteuropäische Charta anzumehmen wäre gar nicht schlecht. Erstens, das ist konkret, zweitens - ganz in der Linie von antineoliberaler Wiederstand, drittens - entspricht neuer Visionen von Europa der Völker (was mach einen krassen Unterschied zu "Europa der Nationalstaaten"). Das könnte auch sein "Europa der Kommunen" - eine lokalorientierte und globalwirkende sozialpolitische Gebilde des XXI Jahrhunderts.