Einschätzung zum 1. Mai / Rhein-Neckar

EA und Antifas aus der Region 03.05.2006 01:42 Themen: Antifa
Fakten und chronologischer Ablauf der Ereignisse

Am 1. Mai 2006 kam es zu drei Naziaufmärschen in den Kleinstädten Heppenheim, Ladenburg und Weinheim in der Rhein-Neckar Region und zu Gegenprotesten, bei denen sich vor allem die teilnehmenden AntifaschistInnen unterschiedlich zusammensetzten. Etwa 300 Nazis kamen größtenteils geschlossen mit zwei Zügen aus Richtung Norden und Süden am Bahnhof in Heppenheim an. Sie liefen eine Runde durch die Weststadt und zurück zum Bahnhof. Die Gegenproteste wurden nur auf der östlichen Seite der Bahngleise genehmigt. 800 Personen waren daran beteiligt, davon der größere Teil Antifas. Gegen 14 Uhr fuhren die Nazis nicht wie geplant nach Weinheim, sondern weiter nach Ladenburg. Dort gab es keine bürgerliche Gegenveranstaltung, da die Nazi-Demonstration von Stadt und Polizei weitgehend geheim gehalten wurde. Es fanden sich kurz nach Ankunft der Nazis etwa 300 Gegendemonstranten, ausschließlich Antifas, in Ladenburg ein. 200 davon kamen mit dem Zug, zogen kurz vor Erreichen des Bahnhofs die Notbremse und konnten so in Richtung der Nazis vordringen. Der Naziaufmarsch wurde an einer Kreuzung durch eine Blockade gestoppt und die Nazis wurden auf eine verkürzte Route zurück zum Bahnhof umgeleitet. Auf der Rückfahrt machten die Nazis noch einmal Halt in Weinheim, wo sie eine Kundgebung am Bahnhof abhalten wollten. Die Zahl der Nazis war bereits geschrumpft und die Kundgebung kam nicht mehr wie geplant zu Stande. Ihr Lautsprecherwagen verließ die Veranstaltung verfrüht. In Weinheim waren insgesamt bei verschiedenen Kundgebungen bis zu 900 GegendemonstrantInnen, davon ein großer Teil aus dem bürgerlichen Spektrum. Die Veranstaltungen waren gegen 19 Uhr beendet. Die Polizei war nach eigenen Angaben mit 1000 Beamten im Einsatz, darunter Spezialeinheiten, u.a. Hundestaffel, Sprengstoffeinheiten, Hubschrauber und die üblichen Demo-Einheiten.
EA Bericht

Es gab insgesamt zwischen 40 und 50 Festnahmen und Ingewahrsamnahmen, wobei ein Großteil davon in Heppenheim geschah. Die Vorwürfe lauteten meistens „Verstoß gegen das Versammlungsgesetz“, „Eingriff in den Schienenverkehr“ und „Beleidigung“. Fast alle Personen wurden erkennungsdienstlich (ED) behandelt (Foto, Fingerabdrücke etc.). Nach Angaben der Polizei sollen alle Festgenommenen nach Ende der Veranstaltung wieder freigelassen worden sein. In U-Haft blieb niemand. Neben den Verhaftungen gab es etwa 100 Platzverweise. Diese wurden auch genutzt, Personen bei angeblichem Verstoß festzunehmen. Weiterhin gab es mehrere Kessel, bei denen größere Personengruppen bis zu drei Stunden festgehalten wurden. Es gab in Folge von Festnahmen, Kesseln und Polizeisperren mehrere Verletze, die ärztlich behandelt werden mussten. Davon wurde mindestens einer Person ärztliche Hilfe nach einem Hundebiss von der Polizei verweigert. In Weinheim kam es nach Ende der Veranstaltungen zu mehreren gewalttätigen Übergriffen von Polizeitrupps auf GegendemonstrantInnen, die sich bereits auf dem Heimweg befanden. Auch dabei gab es Verletzte.
Polizeiliche Maßnahmen, vor allem Kontrollen (laut Polizei wurden über 600 Personen, die nach Heppenheim wollten, kontrolliert!), wurden größtenteils bei GegendemonstrantInnen durchgeführt. Die Nazis blieben außer von Vorabkontrollen von polizeilichen Schikanen verschont.
Wir gehen davon aus, dass einige Ermittlungsverfahren eingestellt werden, andere aber zu Strafbefehlen und weiteren Schikanen für die Betroffenen führen können. Desweiteren besteht die Gefahr, dass gerade jüngere und erstmals erfasste AktivistInnen Besuch vom Verfassungsschutz bekommen. Sprecht deshalb vor allem jüngere Leute darauf an. Keine Zusammenarbeit mit staatlichen Repressionsorganen! Wir bitten weiter alle Festgenommenen, sich mit den lokalen Antifa und EA Gruppen in Verbindung zu setzen (spätestens, wenn ein Strafbefehl kommt) und Gedächtnisprotokolle, auch über Polizeiübergriffe, zu schicken. Benutzt dazu verschlüsselte Emails oder sprecht Leute persönlich an.

Einschätzung der Wirkung des 1. Mai auf die Nazis

Die Nazis haben ihre Teilnehmerzahl, entgegen ihrer eigenen Einschätzung, im Vergleich zum Vorjahr kaum verändert. Im Vorfeld des 1. Mai kam es, anders als 2005, zu vergleichsweise wenigen Aktionen und Öffentlichkeitsarbeit. Ihren Kampagnen-Charakter haben sie dadurch verloren. Dies mag damit zusammenhängen, dass das Verbot des Naziaufmarschs am 8. April, der ebenfalls vom „Aktionsbüro Rhein-Neckar“ organisiert worden war, einerseits viel Zeit in Anspruch nahm und zweitens zur kompletten Niederlage aufgrund Überforderung der regionalen Struktur und staatlicher Repression wurde.
Die 1. Mai Demo wurde so zum Standardprogramm der Nazis. Die „Doppeldemo“ wurde zwar durch das Reisen in eine dritte Stadt „getoppt“ und zur „Triple-Demo“. Dadurch beschränkten sich die Hauptaktivitäten der Nazis am 1. Mai jedoch auf Zugfahren, Warten am Bahnhof, Warten auf die Gegendemo, Warten auf die Polizei und drei Aufmärsche, von denen nur der in Heppenheim eine mittellange Route durch die Wohn- und Industriegebiete der Weststadt hatte. In Ladenburg wurde der Naziaufmarsch gestoppt und auf wenige hundert Meter verkürzt, in Weinheim kam es nicht einmal zu einer ernsthaften Kundgebung. Die Nazis beschränkten sich darauf, eine Stunde lang schweigend ihre Transparente den GegendemonstrantInnen zu zeigen. Möglicherweise ist ein solcher 1. Mai für die Nazis vom „Aktionsbüro“ erfüllend, die Frage ist, wie lange sich ihr Mobilisierungspotential, das teilweise von weit her aus ganz Süddeutschland angereist war, dafür gewinnen lässt.

Die Zusammenarbeit von Bürgern und Polizei

Eine bedenklichere Entwicklung ist die Zusammenarbeit der Zivilgesellschaft, die die organisierende Struktur für die Gegenproteste zum Großteil stellte, mit der Polizei. Deren Repressionsapparat funktionierte im Vergleich zum letzten Jahr besser. Gründe dafür waren die zunehmende Einschränkung demokratischer Rechte für GegendemonstrantInnen, die Unterscheidung in „gute“ und „böse“ GegendemonstrantInnen, die von Presse und Zivilgesellschaft positiv aufgegriffen und akzeptiert wurden und nicht zuletzt ein derart großes Polizeiaufgebot mit Spezialeinheiten, Hubschraubern etc., das scheinbar keine finanzielle Obergrenze einzuhalten hatte.
Für uns stellt sich deshalb die Frage, wie weit wir mit scheinbar antifaschistischen BürgerInnen zusammenarbeiten können, die mit autoritären und antidemokratischen Polizeitaktiken den Naziaufmarsch unter allen Umständen durchprügeln wollen und ihren „friedlichen“ Protest, fernab dem Geschehen, nach Polizeivorgaben abhalten. Dies kann selbstverständlich nicht verallgemeinert werden. Gerade das bürgerliche Bündnis gegen Rechts in Heppenheim stellt für Antifas aber ein Problem und keine Unterstützung dar.
Andererseits sollte man sich auch von einem derart repressiven und martialischen Polizeiaufgebot nicht abschrecken lassen. In Ladenburg konnte man beispielsweise beobachten, wie schnell 1000 durchorganisierte PolizistInnen an ihre Grenzen kommen. Das Ziehen der Notbremse im Zug und die ungeplante Ankunft der Antifas sorgten in den Reihen der Polizei für große Verwirrung und Hilflosigkeit. Die daraufhin folgenden Auseinandersetzungen konnten trotz zahlenmäßiger Überlegenheit der Polizei teilweise zu Gunsten der Antifas entschieden werden und eine plötzliche Blockade der Naziroute von vergleichsweise wenigen Leute konnte den Naziaufmarsch stoppen und zum Rückweg zwingen. Gemeinsames, entschlossenes und vor allem spontanes Handeln stellt für die Polizei nach wie vor das größte Problem dar.
Es bleibt festzuhalten: Ohne den antifaschistischen Widerstand könnte kein Naziaufmarsch ohne sündhaft teuren Polizeieinsatz laufen. Betroffene Städte verwandeln sich an den entsprechenden Tagen in eine "polizeilich national befreite Zone", die Entwicklung zum autoritären Polizei- und Überwachungsstaat wird hierbei besonders deutlich.

Ausblick für die Antifas

Wie im letzten Jahr schon kritisiert, muss eine inhaltliche und strategische Aufarbeitung der Geschehnisse möglichst bald stattfinden. Allerdings sollte diese nicht in Internetforen wie indymedia geführt werden, sondern in den politischen Gruppen, in linken Zentren und Kneipen, in den WGs und im Freundeskreis. Es ist immer sinnvoll, einen regen Austausch innerhalb der linken Szene zu fördern.
Hierzu einige Ansatzpunkte, die in nachfolgenden Diskussionen eine Rolle spielen sollten.
- Die Zusammenarbeit mit bürgerlichen Bündnissen gegen Rechts. Einerseits sollte geklärt werden, welches Verhältnis man dazu hat und zweitens, wie das jeweilige Bündnis zu linken Antifas steht. Im Fall Heppenheim war klar, dass das Bündnis durch das Mobilisierungspotential der linksradikalen Antifas profitiert hat, gleichzeitig aber mit der Polizei gegen jeden wirklichen Antifaprotest gearbeitet, und damit letztendlich den Nazis in die Hände gespielt hat. In Zukunft sollte man sich überlegen, mehr eigene Strukturen zu stellen und mit welchen Bündnissen man sich auf was einlässt.
- Eine eigene Veranstaltung. Im Rahmen der Struktur kann durchaus an eine eigene Veranstaltungen (Demonstration, Kundgebung; davor, währenddessen, danach...) gedacht werden, um sich inhaltlich von genannten Bündnissen abzugrenzen. Auf dass der 1. Mai wirklich links bleibt.
- Scheinbar neutrale Akteure? Presse und auch private Unternehmen taten sich im Rahmen der Naziaumärsche besonders negativ hervor. Die meisten größeren Zeitungen der Region berichteten durchweg wie ein Polizeisprecher im Einsatzbericht. Auch die Deutsche Bahn tat sich durch Zusammenarbeit mit Polizei und Nazis hervor. Einsatz von Sonderzügen, Verspätungen, angebliche "technische Probleme" wurden ganz nach den Wünschen der Polizei zum reibungslosen Ablauf der Naziaufmärsche gestellt.
- Die Öffentlichkeitsarbeit vor und nach dem Naziaufmarsch. In diesem Zusammenhang muss die Spontandemo am Samstag, den 29. April hervorgehoben werden. Diese thematisierte das zentrale Problem am 1. Mai unter anderem mit dem treffenden Begriff der „polizeilich national befreiten Zone“. Solche Aktionen und Inhalte müssen auch nach dem 1. Mai Platz finden. Direkt nach den Protesten gab es leider keine Veröffentlichungen von linken Gruppen, nur einige Erlebnisberichte bei indymedia.
- Alltag. Die Gegenproteste zu den Aufmärschen der Nazis stellen aktuell die zentrale Handlungsform der Antifas. Dabei gibt es viel mehr (und genauso effektive) Möglichkeiten, die Naziszene zu bekämpfen. Die linke Szene sollte sich in der Rhein-Neckar Region vom Event-hopping langsam verabschieden (was sie ja teilweise auch tut).
- Antirepressionsarbeit. Noch immer wissen viele junge DemonstrantInnen bei den Protesten nicht, was der EA ist, dass man keine Aussagen machen sollte usw. Es gab wohl auch Verwirrung über eine angebliche zweite EA-Nummer des DGB, die aber nicht zu erreichen war. Gerade hier ist die Zeit kurz nach dem 1. Mai wichtig für Aufklärungsarbeit
- Don’t forget: Strategiediskussionen sollten intern und schon gar nicht in offenen Internetforen diskutiert werden. Organisiert euch deshalb in Antifagruppen und vernetzt euch regional!


Internetadressen für die Region:
 http://erstermai.ainfos.de
 http://ainfos.de
 http://antifa-bensheim.de
 http://akantifa-mannheim.de
 http://autonomes-zentrum.org/ai
 ea-mannheim@gmx.net
weitere Links zu finden bei:
 http://ainfos.de/links
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Ergänzungen

Bilder dazu gibts hier

. 03.05.2006 - 02:35

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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weiter in koblenz — antifa

Strategiediskussion — nopigsnonazis